Die Todesschüsse – Startbahn West 1987

Bernd Langer und Horst Schöppner

Der 6. Jahrestag der Hüttendorfräumung war gut vorbereitet. Die militanten Gruppen aus dem Rhein-Main-Gebiet hatten sich abgesprochen. Alles lief wie geplant. Dann fielen im Wald 14 Schüsse. Zwei Polizisten waren tot. Danach war alles anders.

Bis zurück in die 1960er Jahre reichte die Anfänge der Anti-Startbahnbewegung, die mit der Errichtung des Hüttendorfes auf dem geplanten Baugelände im Jahre 1980, weithin bekannt wurde. Viele Menschen strömten in den Wald, besuchten das Dorf. Passend entstand ein Comic ›Astrix gegen Startbahn 18 West‹. So kam es nach der polizeistaatliche Räumung des Geländes am 2.11.1981 in vielen Städten zu Solidaritätsdemos, die teilweise mit brutalen Polizeieinsätzen konfrontiert waren. Was aber die breite Bewegung, die in Gang gekommen war, eher anfeuerte. Im November 1981 überreichte in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden eine Demonstration von mehr als 120.000 Startbahngegner_innen 220.000 Unterschriften für ein Volksbegehren an den Landeswahlleiter, einen Tag später wurde die Autobahn rund um den Flughafen blockiert. Alle Nachrichtensender berichteten über das Geschehen. In den nächsten Monaten gab es mehrere Versuche, das Baugelände erneut zu besetzen, an denen sich Zehntausende Menschen beteiligten, woraufhin das Gelände mit einer Betonmauer umgeben wurde.

›Jeden Sonntag Startbahn West‹ hieß es fortan. Das wöchentliche Ritual entwickelte sich über die Jahre zu einer Mischung aus Happening, Trainingsareal und Szenetreffpunkt. Der Ablauf war stets ähnlich, eine ›Küchenbrigade‹ versorgte alle mit Kaffee und Kuchen, verärgerte Bürger_innen beschimpften die Polizei, während Militante Polizeifahrzeuge und Lampenmasten in Brand setzten oder Teile der Betonmauer zerstörten. Die Akzeptanz der Militanz auf niedrigem Level verlief durch alle Kreise der Startbahnbewegung. Besonders beliebt war das ›Strebenknacken‹, bei dem mit vereinten Kräften sie Betonstreben der Startbahnmauer zerbrochen wurden.

Um die Bereitschaftspolizei auf Abstand zu halten, beschossen Startbahngegner die Staatsdiener mit Stahlkugeln, Signalmunition und Feuerwerksraketen. Wasserwerfer antworteten indem sie hochkonzentrierte CS-Gas auf alle vor der Mauer spritzen und die Polizei machte Ausfälle, verprügelte friedliche Anwohner_innen, während die Militanten in den Wald flüchteten, in den sich die Beamten selten vorwagte.

Zur Unterstützung der hessischen Polizei kamen Hundertschaften aus dem gesamten Bundesgebiet in den Startbahnwald und trainierten Menschen einzukreisen, Verhaftungen vorzunehmen und Tränengas einzusetzen. Neue Taktiken, wie BeSi (Beweissicherungs)-Einheiten wurden eingeführt und Repressionsmittel – legale und illegale – getestet. Ein nicht zugelassener Polizeiknüppel aus den USA kam zum Einsatz, genauso wie Pepperfog (ein CN-Vernebler) um Menschmengen auseinanderzutreiben, mit Gewehren abgeschossene Wurfkörper (Petarden), die 120 Meter weit flogen, schlugen unvermittelt ein oder CN-Geschosse, die dafür erdacht waren, Fenster und Türen zu durchschlagen, um im dahinter gelegenen Raum den Kampfstoff freizusetzen, wurden gezielt eingesetzt. Das führte zu einigen Schwerverletzten.

Die Bewegung

Mit der Einweihung der Betonpiste am 12.4.1984 endete die Zeit der Großdemonstrationen und die Bewegung schrumpfte erheblich. Dennoch fanden sich weiterhin Woche für Woche zwischen 50 und 500 Autonome, Umweltschützer_innen, politisierte Jugendliche, radikale Linke und betroffene Bürger_innen aus der Umgebung am Gelände ein. Wobei sich die Frage nach der grundsätzlichen politischen Sinnhaftigkeit nicht stellte. Es ging nicht um Realpolitik, sondern um gelebten Widerstand.

Deshalb war ›die Startbahn‹ in der Autonomen Szene bundesweit ein Begriff. Oft kamen Autonome aus anderen Städten zu Besuch. Wie auf Seiten der Polizei, wurden auch hier neue Techniken ausprobiert. So entstanden mehr als fünf verschiedene Typen von Krähenfüßen, die je nach Untergrund (Sand, Asphalt, Schotter etc.) zum Einsatz kamen. Molotowcocktails hatten sich im Wald als unsichere Waffe herausgestellt, da die Glasflaschen oft auf dem weichen Erdboden nicht zersprangen – ergo nicht zündeten. Hier erwies sich das ›Hohe C‹ als besonders zerbrechliche Flasche. Außerdem wurde der gefürchtete ›Selbstzündermolli‹ ausprobiert und eine ausgeklügelte Testreihe bewies, dass auf den großen Scheiben der Wasserwerfer eine Mischung aus Farbe, Sand und Teer dann besonders gut klebte, wenn sie in Christbaumkugeln abgefüllt und diese mit Wachs verschlossen wurden. Insgesamt waren der Phantasie keine Grenzen gesetzt – Hauptsache es schadete und ärgerte die Polizei.

In gleichem Maße entwickelten sich die Aktionsfelder der Startbahnbewegung weiter. So beteiligten sich viele Aktivist_innen 1984 an ›Störmanövern‹ der Friedensbewegung. Dabei wurde eine NATO-Truppenübung um Fulda durch ›zivilen Ungehorsam‹ behindert, indem Straßen verbarrikadiert, Schilder umgedreht oder ›militärische Verteidigungsposten‹ besetzt wurden. Die regelmäßigen Sonntagsspaziergänge hatten zusammengeschweißt und zeigten Wirkung. Für die dortige Polizei war ein eingespielter Haufen wie die Startbahnleute etwas völlig Neues. Von künstlich erzeugten Staus wurden ganze Polizeikolonnen zum Halten gezwungen. Aus einem Wald heraus stürmten Startbahngegner_innen vor, schlitzten dem letzten Polizeiwagen die Reifen auf, um unerkannt wieder im Schutz des Waldes zu verschwinden.

Als dann Günter Sare am 28.9.1985 während einer Anti-NPD-Demo in Frankfurt von einem Wasserwerfer getötet wurde, versetzte die Startbahnbewegung die Mainmetropole eine Woche mit täglichen Demonstrationen und militanten Aktionen in den Ausnahmezustand.

Ebenso engagierten sich Startbahn-Aktive gegen die Atomenergie. Einiges Aufsehen erregte eine Demonstration gegen die Atomfabriken Nukem und Alkem in Hanau 1986. Bei dieser Gelegenheit wurde einem Zivilpolizisten die Dienstwaffe entwendet, was fatale Folgen haben sollte.

Drei Kreise

Um die Hüttendorfräumung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, kam es alljährlich zu einem nächtlichen Fackelzug in den Wald mit anschließenden Scharmützeln. Im Jahre 1987 fiel der Gedenktag mit dem 300. Sonntagsspaziergang zusammen. Ein Grund mehr, den Tag besonders fulminant zu begehen. Insgesamt machten sich rund 400 Startbahngegner_innen auf den Weg. Aus Sicherheitsgründen wurden von den militanten Kleingruppen geheime Wege durch den Wald gewählt, während sich das Gros am Sportheim in Walldorf traf und gemeinsam gegen 19 Uhr losging.

Jede militante Kleingruppe hatte eine definierte Aufgabe übernommen, meist die Sperrung eines Weges zur Absicherung der Abmarschroute. Die verdeckten Strukturen hatten die Aufgaben genau verteilt. Man kannte und vertraute einander.

Die Startbahnbewegung setzte sich grob aus drei sich überschneidende Kreise zusammen. Den äußeren, größten Kreis bildete die breite Bewegung der Startbahngegner_innen jeden Alters, die Sonntag für Sonntag ihren Protest ausdrückten. Aber es gab auch einen harten Kern von sehr verlässlichen Leuten, die sich gut kannten und konspirativ agierten. Hauptsächlich von ihm gingen nächtliche Aktionen aus, bei denen bspw. Gasballons in der Einflugschneise aufstiegen, um den Flugverkehr zu stören. Aber es wurden auch Beobachtungstürme der Polizei angegriffen und abgebrannt, oder installierte Lichtmasten zerstört.

Viele der größeren Aktionen wurden vom harten Kern vorbereitet, aber von viel mehr Leuten getragen. An manchen nächtlichen Aktionen waren Dutzende Aktivist_innen beteiligt, Menschen der militanten Praxis, die den zweiten Kreis bildeten. Zu ihm gehörten viele Jugendliche aus der Region Mörfelden. Meist waren sie durch üble Erfahrungen mit der Polizei geprägt, die sie als friedliche Protestierer bereits zusammen mit ihren Eltern gemacht hatten. Diese Jugendlichen radikalisierten sich über die Jahre, ohne unbedingt auch in die politische Szene eingebunden zu sein.

Die mitunter fehlende politische Auseinandersetzung sollte sich später verheerend auswirken. Denn bei militanten Aktionen war nicht auszuschließen, dass Polizisten ernsthaft zu Schaden kamen oder eine Verhaftung in einer langen Haftstrafe endete. Auf so ein mögliches Ereignis zeigten sich vor allem Personen aus dem zweiten Kreis nicht genügend vorbereitet.

Der später als Todesschütze verurteilte Andreas Eichler gehörte zu einer der Kleingruppen, die eigene Aktivitäten entfalteten, ohne aber in den harten und organisierten Kern der Startbahnbewegung fest eingebunden zu sein. Andreas Eichler war über die Absprachen zum 2.11.1987 informiert. Die Leute um ihn nahmen an diesem Abend keine besonderen Aufgaben als Gruppe wahr, sondern verteilten sich auf ihre jeweiligen Bezugsgruppen.

Die Nacht

Abgesprochen war der Rückzugsweg über den Gundbach. Dazu war eine mobile Holzbrücke von einer Frauengruppe vorbereitet worden, um die schnelle Flucht über den Wasserlauf zu ermöglichen. Feuer sollte später die Polizei daran hindern, die Brücke ebenfalls zu nutzen. Zum Schutz der Aktivist_innen wurden ausgewählte Waldwege mit NATO-Draht-verstärkten Barrikaden versperrt, die zudem mit Benzinkanistern versehen waren, um sie leichter entzünden zu können. In den Barrikaden lagen außerdem Gaskartuschen, eingeschmiert mit dem leicht entzündlichen Universalkleber Pattex, die während des Brandes der Barrikaden zu gehörigen Explosionen führen würden, um die Polizei einzuschüchtern. Natürlich sollten die brennenden Barrikaden mit allen vorhandenen Mitteln verteidigt werden: Molotowcocktails, Zwillen, Feuerwerksraketen, Signalmunition und Steinen.

Die Polizei wiederum wartete mit Hochdruckwasserwerfern, Hundertschaften, Tränengas und fahrbaren Lichtmasten auf. Meist sah ihr Konzept ein Zurückdrängen der Demonstranten bis zu einem bestimmten Punkt vor. Am 2.11.1987 sollten die Beamten die ›Störer‹ bis zur Mönchbruchwiese verfolgen, aber diese aufgrund von Nebel und sumpfigem Untergrund, nicht betreten.

An diesem Abend begannen die Auseinandersetzungen an der Startbahn gegen 20 Uhr. Die Polizei rückte nach einer Weile langsam vor. Während neben ihr die Gaskartuschen explodierten und den Polizisten alles um die Ohren flog, tauchten die Flutlichtanlagen das Scharmützel in surreales Licht. Lautsprecherdurchsagen, lautes Geschrei und ohrenbetäubende Detonationen dominierten das nächtliche Geschehen. Nebel, Tränengasschwaden, Qualmwolken verwandelten das Kampfterrain optisch in eine mittelalterliche Schlacht.

Während die Startbahngegner_innen planmäßig über die Wiese abzogen, verfolgte sie eine Hundertschaft. Wegen einer Lücke in der Befehlskette war diese Einheit über die Haltelinie Mönchbruchwiese nicht informiert worden und rannte den Militanten bis zum Gundbach hinterher. Dort wurden sie mit Signalmunition und Stahlkugeln empfangen, während die letzten Aktivist_innen die sichere Brücke überquerten.

Auf dem Rückzug ahnte niemand, dass gegen die Polizei eine Schusswaffe eingesetzt worden war. Im Gegenteil, es herrschte Zufriedenheit über den gut verlaufenen Abend. Die Informationen über das, was tatsächlich geschehen war, sickerten erst allmählich durch. Smartphones und Internet gab es noch nicht. Wirklich ernst genommen wurde die Meldung von zwei erschossenen Polizisten zunächst von kaum jemandem. Zu absurd war der Gedanke, dass jemand aus der Startbahnbewegung bewusst auf eine heranrückende Hundertschaft geschossen haben könnte.

Kritik und Verrat

In den Jahren an der Startbahn West wurde die praktizierte Militanz immer wieder diskutiert und widersprüchlich gesehen. Zwar klatschten fast alle Startbahngegner_innen, wenn ein Beobachtungsposten der Polizei hinter der Betonmauer in Flammen aufging, aber wenn ein Molotowcocktail einmal nicht sein Ziel, sondern z.B. einen voll besetzten Mannschaftswagen der Polizei traf, kam es zu harten emotionalen Debatten. Dabei teilte sich die Bewegung meist in zwei Lager. Die einen meinten, Fehler dürften keinesfalls passieren. Sie wurden oft spöttisch ›Weiße-Westen-Autonome‹ genannt, da ihre Praxis eher überschaubar bis unsichtbar blieb. Zur anderen Seite zählten die emsigen Praktiker, die durchaus die eigenen Fehler kritisierten, aber mitunter doch etwas zu lax mit der Genauigkeit von militanten Aktionen umgingen, oder punktuell gar in rein militärisches Denken verfielen.

Es passierten auch schlimme Fehler oder Unfälle, wie 1986, als im Rhein-Main-Gebiet ein Strommast umgesägt wurde. Dieser kippte in die falsche Richtung und die Hochspannungskabel verletzten eine Startbahngegnerin schwer.

Der harte Kern der Startbahngegner_innen wusste, auf was er sich eingelassen hatte. Viele Militante waren darüber hinaus in den organisierten Strukturen der Antifa aktiv. Dort wurden die möglichen Folgen der Militanz ausführlich diskutiert, denn bei jeder Schlägerei konnte ein Nazi oder Antifa liegen bleiben. Bereits der Neonazi-Anschlag auf das Oktoberfest 1980 in München mit 13 Toten und 213 Verletzten hatte gezeigt, mit welchem Gewaltpotential man es zu tun hatte. Es gab immer wieder Schlägereien, bei denen Nazis Messer und Totschläger einsetzten. Straßenkampf gegen Nazis war und ist kein Spiel! Das traf auch auf den Widerstand gegen die Startbahn zu.

Allerdings setzte die Repression nach den Schüssen neue Maßstäbe und traf die gesamte Anti-Startbahn-Szene. Noch in der Nacht wurden knapp 50 Wohnungen und Häuser im Rhein-Main-Gebiet durchsucht und rund 40 Personen verhaftet. Als Grund nannten die Polizisten immer wieder Mord. Diese ungeheuerliche Anschuldigung führte zu Angst, Panik und schließlich zu Zeugenaussagen, die eine weitere Ermittlungswelle nach sich zog. Auf einmal lagen nicht mehr nur der Tötungsvorwurf auf dem Tisch, sondern auch noch eine Vielzahl von Anschlägen aus den letzten Jahren: umgesägte Strommasten, Brandanschläge auf Baufahrzeuge und Banken etc.

Befeuert wurde das aussagefreudige Verhalten durch ein Flugblatt aus Wiesbaden, das sofort nach den Schüssen erschien. Hierin distanzierten sich ›Autonome und Startbahngegner/innen‹ rigoros: „Politik, die über Leichen geht, und Umgang mit scharfen Schusswaffen hat mit unserem Widerstand nichts mehr zu tun.“

Die Startbahnszene reagierte nicht besonnen und verantwortungsvoll, sondern hilflos und unvorbereitet. Hatte der harte Kern immer die Option von Verhaftung und Repression ins Auge gefasst, kam für die ›Weiße-Weste-Autonomen‹ der Schlag scheinbar völlig überraschend. Die Aktivist_innen des harten Kerns griffen auf die vorher aufgebauten Strukturen zurück und entzogen sich der Verhaftung, stellten sich freiwillig oder hinterließen zumindest saubere Wohnungen und hielten den Mund. Ein militanter Startbahngegner und Antifaschist verschwand sogar für dreieinhalb Jahre von der Bildfläche. Er hatte zwar die ihm vorgeworfene Tat (Raub der Tatwaffe) nicht begangen, war aber auch nicht bereit, andere zu beschuldigen, da er wusste, wer die Sig-Saur von einem Zivilpolizisten gestohlen hatte. Ein weiterer Antifa, Andreas Semisch, ging jahrelang in den Knast und machte ebenfalls keine Aussagen. Ganz anders der zweite Kreis. Er überschlug sich mit Aussagen, darunter auch Andreas Eichler.

In diesem verräterischen Klima gelang es der Bundesanwaltschaft, acht Personen herauszufiltern und ihnen 16 Straftaten anzuhängen.

Misstrauen untereinander

Im Chaos der Repression lösten sich Treffen und Vollversammlungen im Wechsel ab. Teilweise wurde dazu mit abstrusen Plakaten aufgerufen. So zierte eines eine Motorradmaske, die damals standardmäßig zur Vermummung gehörte, auf der ›Born to kill‹ stand.

Während die Schüsse von der radikalen Linken bundesweit zwar meist verurteilt wurden, kam es selten zu Distanzierungen wie in Wiesbaden. Im Gegenteil gab es auch Bekundungen klammheimlicher Freude. In Göttingen erschien das Flugblatt ›Den Herrschenden nicht einen Millimeter – sondern 9mm‹, an den besetzten Häusern in der Hamburger Hafenstraße stand in großen Lettern: ›Startbahn West: 2:0!‹.

Doch insgesamt war die autonome Szene nicht in der Lage, die Schüsse als das zu bewerten, was sie waren: Ein großer Fehler und eine politische Dummheit. Zu der man aber trotzdem ein solidarisch-kritisch Verhalten hätte entwickeln müssen. Militanz beinhaltet immer ein Risiko. Jeder Zwillenschuss kann ins Auge gehen – im wahrsten Sinne des Wortes – und damit tödlich sein! Im Angesicht von harter Repression und zu ziehenden Konsequenzen kam es aber nicht zu einer Auseinandersetzung über Grenzen und Zielgerichtetheit von Militanz, sondern zur Spaltung. Die Wiesbadener Flugblattschreiber_innen wurden von der bürgerlichen Presse gelobt: „Startbahngegner distanzieren sich!“ Dem Gegenüber versuchten andere ihren Genoss_innen beizustehen, selbst wenn diese schwerwiegende Fehler gemacht hatten. Immerhin hatte ein Genosse die Tat begangen, mit dem man jahrelang in einer Reihe gestanden hatte! Wer aber Menschen so an den Rand drängt, lässt ihnen oft nur einen Ausweg: Verrat.

Wer sich mit politischen Massenphänomenen beschäftigt hat, weiß, dass Fehler immer passieren können. Es ist unmöglich auszuschließen, dass einzelne Menschen durchdrehen und Dinge tun, die verrückt sind. Es gibt nur einen Weg, mit diesem Umstand umzugehen: sich darauf vorzubereiten. Konkret hätte das geheißen, ein Bewusstsein darüber zu schaffen, NIEMALS Aussagen bei der Polizei zu machen. Dazu ist politische Bildung nötig. Wer aber die militante Auseinandersetzung nicht ernst nimmt, also die eigenen Aktionen nicht als Angriff begreift, der hält es auch nicht für möglich, dass der Staat ernst macht und Aktivist_innen für Jahre in den Knast steckt. Genauso naiv war die Bewertung gegenüber der eingesetzten Polizei. Wer dachte, dass Steinewerfen und Stahlkugelnschießen ein Freizeitspaß waren, sollte nicht in die Hände der Ordnungshüter fallen, denn die sahen das völlig anders und zeigten das den Verhafteten auch deutlich.

Die Repressionsorgane werden immer und überall alle Register ziehen, um ihre Gegner unschädlich zu machen. Das ist ihre Aufgabe. Wer denkt, dass das in der BRD nicht so ist, der versteht nicht, dass sich die Herrschenden von niemandem ungestraft in die Suppe spucken lassen!

Genau das aber war ein Fehler der Startbahnbewegung. Es gelang zwar, friedliche Bürger_innen mit radikalen Kreisen soweit zu verzahnen, dass eine allgemeine Akzeptanz für militante Aktionen entstand. Aber es gelang auf die Dauer zu wenig, den Aktivist_innen aus dem zweiten Kreis genug politisches Wissen und Bewusstsein zu vermitteln, dass sie im Ernstfall bei der Polizei den Mund hielten und einfach mal ein paar Tage abwarteten, auch in Haft. Das denunziatorische Flugblatt aus dem Umfeld anarchistischer Kreise aus Wiesbaden verstärkte diese Unsicherheit. Letztlich hatte die Entsolidarisierung für viele Menschen Jahre Knast bedeutet.

Im Rhein-Main-Gebiet gelang es schließlich, einen groben Konsens zu schmieden. ›Anna und Arthur halten’s Maul!‹ war ein dringender Appell und eine langfristige Kampagne. Ziel war es, neue belastende Aussagen zu verhindern. Außerdem sollte erreicht werden, dass bereits getätigte Aussagen vor Gericht zurückgezogen wurden.

Der Vorwurf ›Mord‹ schockierte die Verhafteten so sehr, dass sie allerhand Dinge erzählten, die auf den ersten Blick unwichtig erschienen. Aber jedes Wort half den Ermittlern, in akribischer Puzzlearbeit ein Bild entstehen zu lassen, das um Andreas Eichler eine Gruppe konstruierte, die die Behörden als terroristische Vereinigung einstufen wollten. Dabei half ihnen, dass diese Gruppe offenbar nicht konsequent konspirativ agierte, sondern für illegale Aktionen auch auf Menschen zurückgriff, die nun Hinweise an die Polizei lieferten. Letztendlich zeigte sich während des Prozesses, wie unverantwortlich die Gruppe um Eichler miteinander umging und sich auch um die eigene Sicherheit ungenügend Gedanken machte.

Die Kampagne ›Anna und Arthur halten’s Maul!‹ griff in der Folgezeit allmählich und die betroffenen Strukturen erholten sich etwas, blieben aber dennoch weitgehend gelähmt. Zum einen saßen wichtige Aktivist_innen im Knast oder waren auf der Flucht, zum anderen mussten sich Menschen um die Prozesse, die Gefangenen oder auch den Abgetauchten kümmern.

Doch die erfolgreich angelaufene Kampagne erzeugte einen neuen Riss in der Bewegung. Alle waren sich einig darüber, dass man unter keinen Umständen vor Polizei oder Staatsanwaltschaft Aussagen machen darf. Doch wie sah es aus, wenn erlogene Fakten vor Gericht auf dem Tisch lagen, aber neue Aussagen Genoss_innen entlasten könnten, ohne dass das Konsequenzen für Dritte hätte?

Konkret ging es um den als Schützen angeklagten Frank Hofmann, der von Andreas Eichler beschuldigt worden war, dem aber sonst keine Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte. Einige Aktivist_innen konnten beweisen, dass Hofmann nicht geschossen haben konnte und waren bereit, ihn zu entlasten. Damit konnten sie ihn vor einer lebenslangen Haftstrafe bewahren. Die Tatsache aber, dass sie damit Aussagen vor Gericht machten, sahen viele Startbahngegner_innen als Tabubruch an, allen voran die moralisch argumentierenden ›Weiße-Westen-Autonomen‹, die von Repression weniger betroffen waren.

Letztlich betraten die neuen Zeug_innen den schmalen Grat, verließen den Weg der reinen Lehre und machten Aussagen zugunsten von Frank Hofmann. Dabei belasteten sie niemanden und gaben auch keine Details preis, die nicht bereits in den Akten standen. So wurde letztlich Andreas Eichler als einziger Todesschütze identifiziert. Er wurde am 15. März 1991 wegen Totschlags, versuchten Totschlags und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt. Frank Hofmann erhielt wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung viereinhalb Jahre Freiheitsstrafe.

Andreas Eichler wurde 1997 nach verbüßten zwei Dritteln aus der Haft entlassen. Die Startbahnbewegung fand nie wieder zusammen. Bis heute konnten Gräben nicht mehr zugeschüttet werden. Zu stark waren das Gefühl des Misstrauens und die Verbitterung über Verrat und Denunziation.

Der Text erschien in gekürzter Fassung mit der Überschrift „Todesschüsse an der Startbahn West“ am 3. November 2017 in der Jungen Welt.