Blutmai 1929
Bernd Langer
Polizeigewalt und Faschismus
Im Jahr 1929 besteht die Weimarer Republik zehn Jahre. An ihrem Beginn stand eine Zeit, die geprägt war von Not, revolutionären Aufständen, rechtsradikalen Putschversuchen und einer Hyperinflation. Zwischen 1924 und 1928 schien sich die Lage zu stabilisieren. Doch 1929 bricht mit Macht die Weltwirtschaftskrise über das Deutsche Reich herein. Während es 1927 etwa eine Million Erwerbslose gab, klettert ihre Zahl bis 1929 auf drei Millionen und wird im Februar 1932 mit 6.120.000 Arbeitslosen – das entspricht 16,3 % – ihren Höhepunkt erreichen.
Die Regierung kann diese Situation kaum bewältigen und ist gezwungen, die öffentlichen Gehälter um 25 % zu kürzen. Arbeitslosenunterstützung wird lediglich sechs Wochen bezahlt, danach stehen für die Betroffenen nur noch öffentliche Suppenküchen zur Verfügung.
In dieser schwierigen Situation wird Herrmann Müller (SPD) im Juni 1928 zum Reichskanzler einer Großen Koalition, zu der auch die nationalliberale DVP gehört (Kabinett Müller II). Erstmals seit dem Jahr 1921 steht die SPD damit wieder in der Regierungsverantwortung.
Nur in Preußen, dem größten und bedeutendsten Reichsland, ist das anders. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen, heißt hier der Dauerministerpräsident von 1920 bis 1932 Otto Braun (SPD). Der ›rote Zar von Preußen‹ stützt sich auf eine Koalition mit Zentrum und DDP und will aus dem Freistaat ein ›demokratisches Bollwerk‹ machen. Dabei zählen die beiden sozialdemokratischen Innenminister Carl Severing (ab 1928 Reichsinnminister) und Albert Grzesinski zu Brauns wichtigsten Mitarbeitern. NSDAP und SA sind in Preußen bereits 1922 verboten worden.
Hauptfeinde
Als gefährlicher Gegner der Republik gilt Mitte der 1920er Jahre die KPD. Diese, ebenfalls zeitweise verbotene, Partei steht für mehrere bewaffnete Aufstände und in engem Kontakt mit den Bolschewiki. Ein Dorn im Auge der Behörden ist außerdem der formal unabhängige Rote Frontkämpferbund (RFB), dessen Führungskader über Kontakte zur Roten Armee verfügen. Nicht zuletzt ist die KPD eine Sektion der Kommunistischen Internationale (KI), einer Art revolutionärer Weltpartei, die ihren Sitz in Moskau hat.
Von jeher sind KPD und SPD politische Gegner und bereits 1924 ersinnt der bolschewistische Vordenker Grigori Sinowjew die These vom ›Sozialfaschismus‹, nach der die Sozialdemokratie lediglich eine Variante des Faschismus darstellt. Dass die Sozialfaschismusthese dann zur ideologischen Richtschnur der KI wird, hat jedoch mit Josef Stalin zu tun, der 1927 bei den Bolschewiki endgültig die Macht übernimmt.
In Bezug auf Deutschland hat der Diktator aufgrund eines geheimen Militärabkommens ein besonderes Interesse. Die Reichswehr hilft (bis 1933!), die Rote Armee aufzubauen, im Gegenzug können sich deutsche Soldaten auf russischem Gebiet an Waffen ausbilden, die ihnen der Versailler Vertrag in Deutschland verbietet. Dieses Geheimabkommen wird durch die SPD gefährdet, denn diese vertritt einen kritischen Kurs gegenüber der Sowjetunion und strebt eine Annäherung an Frankreich an.
Nach ihrem 6. Weltkongress vom 17. Juli bis 1. September 1928 in Moskau verschärft die KI ihren Kurs gegen den ›Sozialfaschismus‹. Die Sozialdemokratie wird zum Hauptfeind der kommunistischen Weltbewegung erklärt und eine aktive Politik zu deren Destabilisierung verkündet. Fortan ist es kommunistischen Parteien untersagt, Bündnisse mit sozialdemokratischen Parteien und Organisationen einzugehen.
Im Gegensatz dazu kommt es auf den Straßen verstärkt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen Kommunisten und Sozialdemokraten von den Nazis in eine Front geprügelt werden.
Die Nazis
Nach ihrem gescheiterten Putschversuch 1923 in München wird die Nazi-Partei reichsweit verboten. Aber bereits 1924 kommt Hitler vorzeitig auf freien Fuß und kann die NSDAP 1925 neu gründen. Zunächst bleibt der ›Führer‹ durch ein Redeverbot gehemmt und seine Partei parlamentarisch bedeutungslos. Bei den Wahlen zum 4. Reichstag am 20. Mai 1928 erhalten die Nazis ganze 2,6 % der Stimmen. Doch vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise vollzieht sich ab Frühjahr 1929 der Aufstieg der NSDAP zu einer Massenbewegung.
In diesem Zusammenhang spielt Josef Goebbels eine wichtige Rolle. Ab November 1926 Gauleiter von Berlin-Brandenburg, treibt er mit einer Mischung aus Propaganda und Straßenkampf die ›Eroberung‹ der Reichshauptstadt voran. Nachdem das Redeverbot für Hitler in Preußen 1928 fällt, organisiert Goebbels am 16. November eine Großkundgebung mit dem ›Führer‹ im Sportpalast. Es kommt zu Zusammenstößen mit Antifaschisten und am folgenden Tag wird die Leiche eines SA-Scharführers aus dem Landwehrkanal gezogen. Es bleibt nicht der einzige Tote, insgesamt verlieren bis zum 9. Dezember bei ähnlichen Auseinandersetzungen mindestens vier Menschen in Berlin ihr Leben.
Daraufhin beraten am 12. Dezember die Minister Grzesinski, Braun und Severing ein Verbot von KPD, NSDAP, RFB und SA. Zunächst erlässt Polizeipräsident Zörgiebel nach Zusammenstößen am 13. Dezember ein allgemeines Demonstrationsverbot für Berlin. Bald wird dieses Verbot ausgeweitet, denn in der Nacht zum 7. März 1929 findet in der kleinen Ortschaft Wöhrden (Schleswig-Holstein) eine heftige Straßenschlacht zwischen Nazis und Kommunisten statt. Es gibt drei Tote (zwei Nazis, ein Kommunist) und viele Schwerverletzte. Auch für diese preußische Provinz gilt von da ab ein Demonstrationsverbot.
Aufschaukeln
Seit 1925 ist Ernst Thälmann in Personalunion Vorsitzender von KPD und RFB. Thälmann steht für den stalinistischen Kurs und ist beim 6. Kongress der KI 1928 in der Sowjetunion anwesend. Nach seiner Rückkehr kommt fast das politische Ende für den Spitzenfunktionär. Obwohl dem Vorsitzenden die Unterschlagung von Parteigeldern bekannt ist, hat er dies für sich behalten (Wittorf-Affäre). Thälmann wird seiner Ämter enthoben, dann aber am 6. Oktober 1928 auf Intervention Stalins wieder in seine Parteifunktionen eingesetzt. Im selben Atemzug werden eine ganze Reihe von ›Abweichlern‹, die gegen den stalinistischen Kurs opponieren, aus der Partei bzw. ihren Nebenorganisationen ausgeschlossen. Thälmann ist Stalins Mann und soll mit dafür sorgen, dass sich die ›Sozialfaschismusthese‹ in der Partei und der kommunistischen Weltbewegung durchsetzt. Dafür bietet das Demonstrationsverbot am 1. Mai in Berlin durch die SPD eine Steilvorlage. Umgehend proklamiert die KPD das ›Recht auf die Straße‹ nicht aufzugeben und fordert Aktionen ›Gegen das Demonstrationsverbot, gegen das geplante Verbot des RFB‹.[1] Im März ruft die KPD ›Maikomitees‹ ins Leben, um trotz Verbot eine Großdemonstration zu organisieren.
Am 13. April veröffentlicht die ›Roten Fahne‹ den Aufruf des ZK der KPD, in dem es heißt: ›Heraus zur Mai-Demonstration … Arbeitsruhe in den Betrieben!‹
Da der 1. Mai in der Weimarer Republik kein gesetzlicher Feiertag ist, soll gestreikt werden.
Um der KPD-Agitation den Wind aus den Segeln zu nehmen, werden Zug um Zug in allen Städten und Gebieten Deutschlands, wo Demonstrationsverbote für den 1. Mai bestehen, diese aufgehoben. Eine ganze Reihe politischer Mandatsträger, unter ihnen Carl Severing, sind dafür, auch in Berlin die Mai-Demonstration zu erlauben. Doch in der Reichshauptstadt bleiben nur Saalveranstaltungen erlaubt.[2] Das liegt in erster Linie am preußischen Innenminister Albert Grzesinski. Er gilt als Kommunistenhasser der sich bereits Anfang 1919 für die militärische Niederschlagung des Berliner Januaraufstandes aussprach. Lieber heute als morgen will der preußische Innenminister RFB und KPD verbieten. Darin ist er sich mit seinem Parteigenossen Polizeipräsident Zörgiebel einig.
Mittlerweile putschen kommunistische und sozialdemokratische Presse die Stimmung wechselseitig in die Höhe. Im ›Vorwärts‹ vom 19. April heißt es: ›Die KPD will Tote … sie fordert auf, Zusammenstöße zu provozieren‹. Die ›Rote Fahne‹ kontert am 21.4. mit: ›Zörgiebel will am 1. Mai schießen‹. Schließlich titelt der ›Vorwärts. Der Abend‹ am 29. April: ›200 Tote am 1. Mai: Verbrecherische Pläne der Kommunisten …‹.
Tatsächlich hofft man bei der KPD, dass es ihr gelingt, die Aufhebung des Verbotes in Berlin zu erzwingen. Das wäre ein großer politischer Erfolg. Schließlich gehört die Maidemonstration zu den alten Traditionen der Arbeiterbewegung. Auf keinen Fall will die KPD-Führung 1929 auf die Maidemonstration verzichten und wird es darauf ankommen lassen. Noch gut erinnert man sich an das Jahr 1924, als ein ähnliches Demonstrationsverbot bestand und die Berliner Kommunisten trotzdem auf die Straße gingen. Noch dazu fühlt sich die KPD 1929 im Aufwind, u.a. ist es gelungen, bei der BVG (Berliner Verkehrs AG) einen kommunistischen Betriebsrat durchzusetzen. Diesen Erfolg beabsichtigt man auszubauen, indem am 1. Mai ein von der KPD angeführter BVG-Streik initiiert werden soll. Im Gegenzug ist der Streik von der Betriebsleitung der BVG und der sozialdemokratischen Gewerkschaft untersagt und gilt damit als ›wilder Streik‹. D.h., wer sich daran beteiligt, riskiert die fristlose Kündigung. Selbst der kommunistische Betriebsrat zweifelt daher an der Streikbereitschaft.
Solche Bedenken scheren die Parteileitung nicht, die ferner meint, bis zu 300.000 Menschen in die Innenstadt mobilisieren zu können. Selbst die ›Arbeiterkinder‹ sind aufgerufen die Schule zu schwänzen und sich zu beteiligen. Sollte die Maidemonstration unterdrückt werden, will die KPD am 2. Mai zu einem ›Massenstreik‹ aufrufen.
Mit der Realität haben die bombastischen Verlautbarungen der KPD jedoch reichlich wenig zu tun. Viele Menschen sind durch die Stimmungsmache und das Verbot der Mai-Demonstration abgeschreckt. Um die Mobilisierung der KPD weiterhin zu beeinträchtigen, organisieren SPD und den ADGB-Gewerkschaften diverse große Mai-Saalkundgebungen und rufen dazu auf, sich nicht an den KPD-Veranstaltungen zu beteiligen. Genauso fordert die KPD, ›die Versammlungen der sozialfaschistischen Gewerkschaftsbürokratie zu meiden‹.[3]
Die Polizei
Zu den Gegnern der KPD gehört zweifellos die Polizei. Insbesondere bei der politischen Abteilung der Kripo, der ›Abteilung I A‹, sind viele Kommissare ehemalige Freikorpskämpfer. In der Regel entstammen die Polizisten jedoch jüngeren Jahrgängen. Das Eintrittsalter liegt bei 20 Jahren. Bevor man in den Revierdienst übernommen wird, durchläuft man eine militärische Ausbildung, gefolgt von mehreren Jahren kaserniertem Bereitschaftsdienst. In Berlin betrifft dies zirka 5.000 Mann der insgesamt 14.000 Köpfe zählenden uniformierten Schupo (Schutzpolizei).
Insgesamt hat die Polizei in Berlin eine Stärke von 16.500 Mann, die allesamt am 1. Mai zur Verfügung stehen, um Demonstrationen im Keim zu ersticken.
Kalkül und Realität
Die KPD will verschiedene Demonstrationszüge am Alexander- und Potsdamer Platz zusammenströmen lassen, da diese wichtigen Verkehrskreuzungen nicht gänzlich von der Polizei abgesperrt werden können.
Waffen, Hieb- oder Stichwerkzeuge, selbst Knüppel sind von der Partei streng untersagt. Der RFB soll in Zivil antreten, sich friedlich verhalten und lediglich die Demonstrationszüge abschirmen. Nicht von einer militanten Straßenschlacht sollen Bilder um die Welt gehen, sondern von der Polizei, die auf wehrlose Demonstranten losgeht.
Nur haben weit weniger Menschen Ambitionen, sich an dem angekündigten Schlagabtausch mit der SPD zu beteiligen, als von der KPD gedacht. Nur einige zehntausende lassen sich mobilisieren.[4] Vom angekündigten BVG-Streik ist nichts zu bemerken. Der öffentliche Nahverkehr läuft am 1. Mai wie an jedem anderen Tag. Baumaterial, das in Neukölln auf Gleise geworfen wird, und Sabotage an elektrischen Leitungen der Straßenbahn haben nur einen sehr begrenzten Effekt.
Erfolgreicher ist der ›Schulstreik‹. Zum einen hat das politische Gründe, zum anderen lassen viele Eltern ihre Kinder wegen der sich abzeichnenden Konfrontationen lieber zu Hause bleiben. In etlichen Klassen fällt der Unterricht aus.
18 Tote am ersten Tag
In den Vormittagsstunden des 1. Mai kann die Polizei einige Menschenansammlungen, vor allem in den ›besseren‹ westlichen Stadtteilen, ohne Gewaltanwendung zerstreuen. In den kommunistischen Hochburgen wie Neukölln allerdings kommt es gleich zu Beginn am Reuterplatz zu Gerangel, Flaschen und Steine fliegen, es setzt Prügel. In der Folge gibt es Verletzte auf beiden Seiten, einige Beamte feuern Warnschüsse ab.
Wenig später werden an den zentralen Sammelpunkten Potsdamer- und Alexanderplatz Demonstranten unter massivem Schlagstockeinsatz und mit an Hydranten angeschlossenen Wasserschläuchen auseinandergetrieben. Immer wieder versuchen sich Demonstranten zusammenzufinden. Es entstehen verschiedene Brennpunkte, die Lage wird unübersichtlich.
Um die umherfahrenden Polizeifahrzeuge zu stoppen, werden hier und da Hindernisse aus schnell erreichbarem Baumaterial, umgestürzten Fahrzeugen oder Litfaßsäulen errichtet. Immer wieder machen Polizisten bei den Auseinandersetzungen von ihren Dienstwaffen gebraucht, bis 14 Uhr sterben dadurch im Bezirk Mitte vier Menschen. Dann wird in der Kösliner Straße im Wedding der dort bekannte Sozialdemokrat Max Gemeinhardt am Fenster seiner Wohnung erschossen. Das lässt die Lage rund um die Straße sofort eskalieren. Angeblich werden Schüsse auf die Polizei abgegeben. Von nun an nehmen die Polizisten jedes verdächtige Fenster sofort massiv unter Feuer. Nach kurzer Zeit zieht sich die Schupo aus der Kösliner Straße zurück. Wenig später beginnt man dort, aus einem umgestürzten Wagen eine ›Barrikade‹ zu improvisieren.
Erneut rücken die Beamten gegen die Straße vor, nun mit Karabinern ausgerüstet. Obwohl sie auf keinen Widerstand stoßen, feuern die Polizisten auf alles, was sich hinter Fenstern oder Hausecken bewegt. Acht Menschen werden tödlich getroffen. Bis zum Abend des 1. Mai erschießt die Polizei allein im Wedding 10 Menschen. Insgesamt werden es an diesem Tag 18 Tote sein. Nachdem ein Panzerwagen, der von seinem MG keinen Gebrauch macht, gegen 20 Uhr durch die Kösliner Straße gefahren ist, schweigen hier endlich die Waffen. Die Polizei sieht von einer Besetzung der Straße ab und zieht sich zurück. Im Wedding finden nach Anbruch der Dunkelheit keine Kämpfe statt. Auch im übrigen Stadtgebiet gelingt es der Polizei durch ihr rigoroses und gewalttätiges Vorgehen bis zum Abend, alle Ansammlungen und Demonstrationszüge zu zersprengen. Bis auf eine Ausnahme: Neukölln.
Barrikaden in Neukölln
Den ganzen Tag über ist es im Gebiet um die Herrmannstraße und den angrenzenden Rollbergkiez unruhig, mit Einbruch der Nacht eskaliert die Lage. Neben KPD-Aktivist_innen stellen sich vor allem Jugendliche aus ›Wilden Cliquen‹ der Polizeigewalt entgegen.
Um der Schupo das Vorgehen zu erschweren, werden die meisten Straßenlaternen demoliert. Im Schutz der Dunkelheit entstehen die einzigen tatsächlichen Barrikaden in diesen Auseinandersetzungen. Aufgebrochene Pflastersteine werden aufgetürmt, die Straße auf ganzer Breite freigelegt und mit Schaufeln und Händen ein Graben ausgehoben.
Einzig auf ihr Scheinwerferlicht angewiesen, trauen sich die Polizisten nur sehr vorsichtig vor und machen ausgiebig von ihren Schusswaffen Gebrauch. Wieder heißt es, dass Dachschützen die Schupo unter Feuer nehmen. Einen Beweis dafür gibt es allerdings nicht. Tatsächlich wird während der gesamten Tage kein einziger Polizist von einer Kugel getroffen. Die Polizei bringt einen Panzerwagen zum Einsatz, der mit seinem MG auf alles feuert was sich in der Dunkelheit bewegt. Vier Menschen, die zufällig in die Feuerlinie geraten, werden erschossen.
Unbeteiligte sind keine Seltenheit, denn außerhalb des unmittelbaren Kampfgebietes geht das Leben seinen ganz normalen Gang, sind Kneipen und Kinos geöffnet.
Gegen Mitternacht hat die Polizei die Barrikaden beseitigt und zieht sich zum Hermannplatz zurück.
In dieser Nacht (zum 2. Mai) beschließt das ZK der KPD, das den Einfluss auf das Geschehen weitgehend verloren hat, weitere Demonstrationen zu untersagen. Stattdessen soll ein politischer Proteststreik am 2. Mai den ›Rückzug der kämpfenden Arbeiter decken‹. Die Beteiligung fällt bescheiden aus. Selbst die parteioffizielle Chronik bilanziert lediglich 75.000 Streikende (25.000 in Berlin, 50.000 im übrigen Reich), laut Polizeiangaben sind es in Berlin 14.000 Streikende, nach anderer Quellen legen reichsweit insgesamt 50.000 Menschen die Arbeit nieder.[5]
Insbesondere in der Parteijugend trifft der ZK-Beschluss auf Ablehnung. Zwar verläuft der 2. Mai zunächst ruhig und ohne Demonstrationsversuche. Als aber die Nacht hereinbricht, beginnen in Neukölln und dem Wedding erneut Auseinandersetzungen. Versuche, im Wedding Barrikaden zu errichten, werden von der Polizei unterbunden. Dabei fallen wieder Schüsse und etliche Menschen werden verletzt oder verhaftet, Tote gibt es in dieser Nacht im Wedding aber nicht. In Neukölln geht es härter zur Sache. Auch hier versuchen jugendliche Aktivist_innen Barrikaden zu errichten. Wieder setzt die Polizei einen Panzerwagen ein. Eine unbeteiligte Frau wird am Fenster erschossen sowie ein zufälliger Passant auf der Straße.
Sonderaktion
Am 3. Mai könnte alles vorbei sein, doch jetzt holt die Polizei zum großen Schlag aus. Eine Sonderaktion, also umfangreiche Durchsuchungen, finden in den Unruhegebieten von Wedding und Neukölln statt. Gleich zu Beginn heißt es, die Beamten würden von Dachschützen beschossen. Was folgt, kann man als Polizeimassaker bezeichnen. Ohne Zögern nehmen mit Karabinern ausgerüstete Polizisten jedes Fenster aufs Korn, hinter dem sich ein Schatten zeigt. In Neukölln rast der Panzerwagen die Hermannstraße rauf und runter und feuert mit seinem MG auf alles Verdächtige. An diesem Tag erschießt die Polizei in Neukölln weitere elf Menschen.
Gleichzeitig verbietet der preußische Innenminister Grzesinski den RFB. Das Verbot wird bis zum 17. Mai von allen Reichsländern übernommen. Grzesinski will auch die KPD verbieten, was aber von Severing als undurchführbar angesehen wird. Über mehrere Wochen untersagen die Innenminister jedoch das Erscheinen der ›Roten Fahne‹ und andere KPD-Zeitungen. Bei der BVG werden die kommunistischen Betriebsräte Deter und Krüger am 2. Mai entlassen. Ebenso wird in anderen Betrieben verfahren. Etwa 500 Personen, zumeist Frauen, verlieren auf Dauer ihre Arbeitsstellen[6].
Am
Misserfolg der KPD lässt sich nicht deuteln. Andererseits erringen weder die
SPD noch die verantwortlichen Minister oder gar die Polizei einen Sieg.
Letztere behauptet zwar die Straße, doch ihr beispiellos brutales Vorgehen das
über 30 Tote und mehr als 150 Schwerverletzte zu Folge hat, ist eine
Bankrotterklärung für die Republik. Nachhaltig vertieft der ›Blutmai‹ den Bruch
zwischen SPD und KPD und gilt als fürderhin als Beleg für die
Sozialfaschismusthese, die nun von der KPD-Basis nachvollzogen wird und den
stalinistischen Kurs unter Ernst Thälmann bestätigt. Den Nutzen aus der
Frontstellung von KPD und SPD werden die Nazis ziehen.
[1] ›Rote Fahne‹, 19.12.1928
[2] Am Nachmittag und Abend des 1. Mai finden laut Polizeibericht 20 von der KPD angemeldete Saalveranstaltungen mit insgesamt 12.000 Teilnehmer_innen statt, die allesamt ruhig verlaufen. Léon Schirmann, Berlin 1991 ›Blutmai‹, S. 134
[3] Flugblatt der KPD, im Besitz des Verfassers
[4] ›Berliner Blutmai 1929‹, Mitte Museum 2009, S. 13, gibt insgesamt 25.000 Demonstranten an. Angaben bei Léon Schirmann, Berlin 1991 ›Blutmai‹, S. 98, liegen etwas höher.
[5] W. Ulbricht, ›Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung‹, Berlin 1966, Bd.4, S. 199. Siehe auch Kurt P. G. Schuster, ›Der Rote Frontkämpferbund 1924 – 29‹, Düsseldorf 1975, S. 220 und Léon Schirmann, ›Blutmai‹, Berlin 1991, S 290.
[6] Léon Schirmann, ›Blutmai‹, Berlin 1991, S. 290.