Vierzig Jahre Schlacht von Grohnde
Junge Welt, Thema, Seiten 12 und 13, Mittwoch, 15. März 2017
Sturm auf die Atomfestung
Vor 40 Jahren tobte die Schlacht um den Bauplatz des AKW Grohnde – eine der militantesten Auseinandersetzungen der Nachkriegsgeschichte
Von Bernd Langer
Samstag, der 19. März 1977: Bis zum Erbrechen ist die Luft mit Tränengasschwaden durchsetzt, es ätzt und beißt in Augen und Lunge. Kampfeslärm dringt in die Ohren. Geschrei, kleinere und größere Explosionen. Gasgranaten schlagen ein. Laut knatternd manövrieren Hubschrauber um aufgelassene Drachen aus Staniolpapier, Wasserwerfer sind im Einsatz.
In diesem Chaos stehen fünf Vermummte wenige Meter vom Bauzaun entfernt. Sie tragen Gasmasken und haben die Kapuzen ihrer grünen und orangen Öljacken über die Helme gezogen. Der NATO-Draht ist überwunden. Nun gilt es, die Stahlverbindungen zu zertrennen. Die Gruppe bereitet ihre Schweißausrüstung vor. Einer der Aktivisten hat einen gelben Mopedhelm auf und trägt statt Ölzeug eine schwarze Lederjacke, er braucht Bewegungsfreiheit. Konzentriert entzündet er den Schneidbrenner. Mit ein paar Schritten ist die Gruppe am Zaun. Drei Genossen stemmen große Blechschilde gegen den Strahl des Wasserwerfers, einer kümmert sich um die mitgebrachten Gasflaschen. Die Atemmaske macht dem Aktivisten schwer zu schaffen, zusätzlich muss er mit der linken Hand den Schweißschild hochhalten. Schwierige Sichtverhältnisse, aber es geht, sie haben das vorher ausprobiert. Er legte das Sauerstoffventil des Schneidbrenners um. Sofort geht das Fauchen des austretenden Acetylens in ein trockenes Zischen über, und in einem Funkenregen fliegt glühendes Metall Richtung Bauplatz.
Etwa 20.000 Demonstrantinnen und Demonstranten haben gegen 14 Uhr den Bauzaun des geplanten AKW Grohnde nahe der niedersächsischen Gemeinde Emmerthal erreicht, und ungezählte Kleingruppen berennen nun die mit rotbrauner Rostschutzfarbe gestrichene »Atomfestung«. Es gilt, eine Bresche in den Stahlzaun zu schlagen.
Um das Gelände hat die Kraftwerksbetreiberin, die Preußen-Elektra, für 1,8 Millionen DM ein angeblich unüberwindbares Bollwerk errichten lassen. Die Stahlkonstruktion besteht aus einem drei Meter hohen, doppelten Bauzaun, basierend auf schweren, in Betonfundamenten verankerten Doppel-T-Trägern. Hinzu kam eine Sicherung aus Weidezaun, Maschen- und reichlich NATO-Draht.
Auf dem Bauplatz befinden sich 2.000 Polizisten und Bundesgrenzschutz-Einheiten (heute Bundespolizei). 20 Wasserwerfer, die mit Tränengas angereichertes Wasser verspritzen, und mindestens vier Panzerspähwagen sowie Hubschrauber sind aufgeboten. Zusätzlich steht eine Reserve von weiteren 2.000 Polizisten mit einer Reiter- und Hundestaffel außerhalb des umzäunten Geländes bereit.
Die frühe Anti-AKW-Bewegung
Ziel der AKW-Gegnerinnen und -gegner war die Bauplatzbesetzung. Sie waren auf eine Konfrontation mit der Staatsmacht eingestellt. Außerdem hatten der maoistische KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland), der KB (Kommunistischer Bund) sowie militante, undogmatische Gruppen, auf diesen Tag hin mobilisiert. Das war eine neue Entwicklung in der noch jungen Anti-AKW-Bewegung. Denn die Proteste gegen die Atomindustrie waren Anfang der 1970er Jahre zunächst von lokalen Bürgerinitiativen (BI’s) ausgegangen. Die BI’s waren so etwas wie eine bodenständige Entsprechung zur Außerparlamentarischen Opposition und schafften es mittels juristischer Einsprüche bis hin zu zivilem Ungehorsam, den Bau einiger Atomkraftwerke zu verhindern bzw. an andere Standorte zu verdrängen.
Mit zivilem Ungehorsam hatte 1975 auch der Widerstand gegen das geplante Atomkraftwerk Wyhl in der Nähe von Freiburg begonnen. Wie andernorts stammte ein Großteil der südbadischen AKW-Aktiven aus dem konservativen Lager einschließlich der CDU. Die ortsansässige Bevölkerung beunruhigte vor allem, dass der Wasserdampf der Kühltürme negative Auswirkungen auf den Weinbau haben könnte. Ähnlich bangten etwas später, als es um den Bau des AKWs Brokdorf ging, viele norddeutsche Bauern um den Ruf ihrer landwirtschaftlichen Produkte.
Die konservative Grundstimmung der Protestbewegung machte sie auch für Rechtsradikale anschlussfähig. So mischte sich von Anfang an der „Weltbund zum Schutz des Lebens“ (WSL), eine von alten Nazis 1960 gegründete überregionale Organisation, in die Proteste ein. Der WSL basierte auf völkischer Ideologie, was aber erst allmählich verstanden und ruchbar wurde. Einflüsse gingen auch von der Kirche aus, was dazu führte, dass Pfarrer in Talaren bei den Demonstrationen auftauchten. Demgegenüber hatten Linke mit der aufkommenden Umweltbewegung ihre Probleme. Ideologisch waren sie immer noch mehr auf die Arbeiterklasse fixiert. Eine Annäherung fand durch die undogmatische Szene statt, die keine Berührungsängste mit dem neuen „Teilbereichskampf“ kannte.
Die sogenannten K-Gruppen taten sich damit schwerer. Im KB kam es zunächst zu einer Kontroverse, ob es richtig sei, sich in der Antiatomkraftbewegung zu engagieren, weil in dieser eben auch fortschrittsfeindliche Einstellungen zu Hause waren. Solch quälenden Diskussionen brauchte man sich im KBW nicht zu stellen. Die Organisation verstand ihr Engagement rein taktisch. Die Maoisten waren gegen AKWs im Kapitalismus, nicht jedoch im „Roten China“, wo sie sich in der Hand des Volkes befanden. So argumentierten auch KPD/ML und KPD/AO.
Die Vorläufer
Nach längerem juristischen Tauziehen war der Baubeginn für Wyhl auf den 17. Februar 1975 festgelegt worden. Sechs Tage später machten sich 25.000 Menschen auf, um den Bauplatz in Augenschein zu nehmen und drangen an mehreren Stellen auf das Gelände vor. Die dort befindlichen rund 1.000 Polizisten zeigten sich überfordert, bereitstehende Wasserwerfer kamen nicht zum Einsatz, schließlich rückten die Beamten ab. Im Anschluss blieb das Gelände mehrere Monate besetzt, und das AKW Wyhl wurde nicht gebaut. Ein großer Erfolg!
Ein anderes Bild zeigte sich wenig später am Baugelände des AKW Brokdorf. In der Wilstermarsch wollten die Landesregierung Schleswig-Holstein und die AKW-Betreiber Preußen-Elektra und Hamburgische Electricitäts-Werke AG auf keinen Fall ein zweites Wyhl zulassen. Der Bauplatz wurde mit einem Doppelzaun, Graben und Stacheldrahtrollen versehen. Wenige Tage nach Baubeginn kam es am 30. Oktober 1976 zur ersten Brokdorf-Demo mit mehr als 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Wie in Wyhl versuchte man, auf das Gelände zu kommen. Dem stellten sich 500 Polizisten, verstärkt durch Werkschutz, entgegen. Trotzdem gelang es den AKW-Gegnerinnen und -Gegnern, einen Teil des Platzes für einige Stunden zu besetzen. Nach der Räumung wurde die Baustelle in eine »Atomfestung« verwandelt. Diese bestand aus einem stabilen Stahlzaun von 2,50 Metern Höhe samt NATO-Drahtrollen. Zudem wurde der umliegende Graben auf mehr als zwei Meter verbreitert und geflutet.
Nach der Brokdorf-Demo entwickelte sich die Anti-AKW-Bewegung mit ungeheurer Dynamik. Binnen weniger Tage entstanden überall im norddeutschen Raum Bürgerinitiativen. Einen Schwerpunkt bildete Hamburg mit allein 30 „Bürger-Inis“. Hinzu kam, dass nun die K-Gruppen, die in Hamburg und Bremen stark vertreten waren, das Thema Antiatomkraft für sich entdeckten.
Vor diesem Hintergrund kam es am 13. November 1976 zur zweiten Brokdorf-Demo, die mit einem Feldgottesdienst begann. Nach der Abschlusskundgebung zogen rund 20.000 Menschen zur „Atomfestung“, um das Motto „Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden“ in die Tat umzusetzen. Mit Holzplanken und Knüppeln, Sand und abmontierten Leitplanken überwanden einige hundert Entschlossene den Graben und gingen mit Brechstangen, Bolzenschneidern und Rammböcken gegen die Absperrungen vor. Es folgten mehrstündige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Zwar erwies sich die „AtomfestungW als uneinnehmbar, aber Brokdorf wurde endgültig zum Medienereignis.
Im Dezember 1976 verfügte das Verwaltungsgericht Schleswig einen vorläufigen Baustopp. Als dieser auslaufen sollte, wurde für eine neue Demonstration mobilisiert. Die beteiligten Gruppen konnten sich jedoch nicht auf ein einheitliches Vorgehen einigen. Schließlich gab es zwei verschiedene Orte, an denen am 19. Februar 1977 gegen das AKW protestiert wurde: einmal in der Kreisstadt Itzehoe und direkt am Gelände, wo die Demo verboten war. Insgesamt beteiligten sich 50.000 Menschen. An diesem Tag blieb es friedlich. Zum Abschied hieß es „Auf Wiedersehen in Grohnde“.
„Schafft zwei, drei, viele Brokdorf!“
Nachdem das Gericht den Baustopp für Brokdorf im Februar 1977 verlängert hatte, lautete die Parole »Schafft zwei, drei, viele Brokdorf!«. Dieser Aufruf verband sich nun mit der geplanten Großdemonstration am Bauplatz von Grohnde, nahe der Rattenfängerstadt Hameln. Delegierte von über 50 Bürgerinitiativen hatten sich auf den 19. März als Termin geeinigt. Der Ort lag zentral und nicht allzuweit von Hannover, Göttingen und Bielefeld entfernt. Alles Städte mit großen linken Szenen. Daher wurde nicht von ungefähr als Demo-Ziel die Bauplatzbesetzung proklamierte. Das führte zu unüberbrückbaren Differenzen mit Vertretern des „Weltbundes zum Schutz des Lebens“ und den örtlichen Gruppen der BI Weserbergland. Schließlich distanzierten sich der WSL und die BI von der geplanten Demonstration und riefen zu einer Kundgebung im zwei Kilometer entfernten Dorf Kirchohsen auf.
Die Organisation der Grohnde-Demo lag damit weitgehend in den Händen von auswärtigen Gruppen, in denen radikale Linke Einfluss hatten. Untereinander waren sich die meisten linksradikalen Organisationen und Gruppen zwar spinnefeind, zum Zweck der Demo aber kooperierten sie. in Grohnde spielten vor allem undogmatische Gruppen eine Rolle, welche von KB und KBW abwertend als Spontis bezeichnet wurden. Während die K-Gruppen in den folgenden Jahren ihren Niedergang erleben sollten, fiel der Begriff Spontis bald unter den Tisch, weil eine neue politische Generation die Bezeichnung Autonome für treffender hielt. Entsprechend erklärte die Demonstrationsleitung: „Das Hauptziel der Kundgebung ist, die Forderung ›Kein AKW in Grohnde und anderswo‹ praktisch zu erfüllen. Deshalb ist die Aufgabe der Demoleitung, die Besetzung des Baugeländes in Grohnde zu koordinieren. (…) Die Demoleitung setzt ihre Beschlüsse nicht durch Ordner oder Demonstranten in ähnlicher Funktion durch. Sind die Beschlüsse den Demonstranten einsichtig, so werden die Demonstranten diese Beschlüsse zur Grundlage ihres Handelns machen – sind die Beschlüsse nicht einsichtig, so dürfen sie nicht durchgesetzt werden.“
Delegierte aus elf Städten bildeten eine rätedemokratische Leitung. Dazu gehörte auch ein Verkehrsausschuss, der die Anreise in zwei großen Konvois aus dem Norden und dem Süden koordinieren sollte. Ein „Sani-Ausschuss“ und ein Ermittlungsausschuss, der sich um die Folgen der zu erwartenden staatlichen Repression kümmern sollte, entstanden ebenfalls. Vor allem aber wurde das Gelände um den Bauzaun genau studiert und überlegt, wie dieser zu knacken wäre. Einige Aktivistinnen und Aktivisten simulierten das sogar praktisch. Bei den überregionalen Vorbereitungstreffen wurde abgesprochen, wie sich die Gruppen am Bauzaun verteilen und welche Funktionen sie übernehmen sollten. Als Sammel- und Orientierungspunkte wurden Fahnen und Schilder mit Buchstaben mitgeführt bzw. auf die Kleidung geklebt. Vom tatsächlichen Umfang dieser Vorbereitungen bekam der Polizeiapparat nichts mit oder nahm sie nicht ernst.
Chaos im Ernstfall
Vor der Zuckerfabrik an der Bundesstraße 83 in Kirchohsen beginnt der Morgen des 19. März harmlos. Einige Redner, wenige neugierige Einwohner, viele Demonstrantinnen und Demonstranten mit Blumen und Liedern finden sich ein. Alles scheint so zu verlaufen, wie von der Polizei gedacht. Die Einsatzleitung will den Südkonvoi bis Grohnde und den Nordkonvoi bis Kirchohsen fahren lassen. In den beiden Orten, die keine vier Kilometer auseinanderliegen, sollen sich die beiden Demozüge formieren können. An den Ortsausgängen in Richtung AKW-Baustelle hat die Polizei jedoch Sperren errichtet. Erst nach vorheriger Durchsuchung und ohne Fahrzeuge will man die AKW-Gegner passieren lassen.
Allerdings gerät die Planung bereits am Vormittag durcheinander. Ursache ist die Verspätung der rund 90 Busse und zahllosen Pkws des Nordkonvois. Außer Reichweite für die CB-Funkgeräte des Verkehrsausschusses, kann kein direkter Kontakt hergestellt werden. So entsteht das Gerücht, der Nordkonvoi werde an der Autobahnabfahrt durch die Polizei festgehalten und jedes Fahrzeug, jede Demonstrantin und jeder Demonstrant werde durchsucht. Es hilft nichts, dass die Polizei mehrfach erklärt, das stimme nicht. Schließlich übermittelt ein Pfarrer ein Ultimatum: Entweder die Busse erscheinen, oder die Haupteisenbahnstrecke Hannover–Altenbeken, die neben dem Kundgebungsplatz die B 83 überquert, werde besetzt. Tatsächlich blockiert gegen 11.45 Uhr eine große Menschenmenge die Schienen des Bahnübergangs, und der gesamte Zugverkehr auf dieser wichtigen Verkehrsverbindung fällt für Stunden aus.
Das geht der örtlichen Bürgerinitiative zu weit. In Panik ruft der Versammlungsleiter Punkt zwölf ins Mikrofon: „Ich schließe die Kundgebung und lehne alle Verantwortung für die weiteren Vorfälle ab.“ Schrille Pfiffe und Buhrufe sind zu hören: „Geh doch nach Hause!“ oder „Du hast ja die Hosen voll!“
Zu diesem Zeitpunkt greift die Polizei ein, um die Anfahrt des Nordkonvois, in dem sich über 10.000 Menschen gesammelt haben, zu beschleunigen. Mit Polizeieskorte vorweg wird die Kolonne durch Hameln geschleust. Tosender Beifall kommt auf, als der Konvoi endlich in Kirchohsen eintrifft. Schnell formiert sich der Demonstrationszug auf der gesamten Breite der Bundesstraße. Helme in den verschiedensten Farben und Formen, wetterfestes Ölzeug in Gelb, Grün und Orange sowie dunkle Lederjacken bestimmen das Bild. In den vorderen Reihen geht der KBW. Seine Mitglieder scheinen dem Spottnamen der Organisation, „KB-Wuppdich“, alle Ehre machen zu wollen. Viele halten Knüppel in den Händen und sind mit selbstgemachten Schilden ausgerüstet.
In dichten Reihen geht es Richtung Bauplatz. Die örtliche Bürgerinitiative schaut hinterher. Bis zum Ortsausgang Richtung Grohnde ist es nicht weit. Dort wird die Demo von einer aus Lkw der Polizei zusammengeschobenen Sperre gestoppt. Es bedarf keiner langen Diskussion. Mit drei Hundertschaften ist die Polizei hoffnungslos unterlegen. Rasselnd scheppern die Absperrgitter vor den Lkw zu Boden und mit Stahlseilen ziehen Militante einen der Lastwagen aus der Sperre. Zwar dreschen beide Seiten kurz mit Knüppeln aufeinander ein, aber für die Polizei ist da nichts zu halten. Die Uniformierten geben den Weg frei, was in der gesamten Demonstration Euphorie auslöst. Zügig geht es weiter, viele können es kaum abwarten, den Bauzaun anzugehen. Dazu befinden sich im Demonstrationszug außer dem Lautsprecherwagen mehrere Pkw, deren Kennzeichen sorgfältig durch Klebestreifen unleserlich gemacht wurden. Die Wagen sind mit technischem Gerät vollgestopft, darunter Schneidbrenner, große Zangen, Scheren, Drahtseile, Taue, Enterhaken.
Aus Grohnde nähert sich gleichzeitig der Demozug des Südkonvois mit 4.000 Menschen. Sie haben über eine Stunde vor der Polizeisperre debattiert. Es ging erst weiter, nachdem sich die Demoleitung mit der Durchsuchung des Lautsprecher- und Saniwagens einverstanden erklärt hatte. Dadurch ging viel Zeit verloren, und Teile des Göttinger Blocks sind kurz davor, die Demoleitung abzusetzen und quer über die Felder zu laufen. Letztlich gelangt der Südkonvoi geschlossen an den Bauzaun.
Überraschenderweise steht kein einziger Polizist vor der „Atomfestung“. Die Staatsmacht vertraut auf die unüberwindlichen Absperrungen. Selbst auf einen Graben, wie um den Bauplatz in Brokdorf, hat man verzichtet.
Erbitterte Konfrontation
Unmittelbar nach ihrem Eintreffen gehen Aktivistinnen und Aktivisten den Zaun auf der gesamten Breite von 200 Metern an. Die hinter dem Zaun postierte Polizei feuert massiv Tränengas und Rauchgranaten. Das hätte den Ansturm normalerweise gestoppt, es ist fast windstill und niederschlagsfrei. Die chemischen Kampfstoffe aber zeigen keine Wirkung, denn die Leute am Zaun tragen Gasmasken. So können die ersten Rollen des NATO-Drahts zügig mit Wurfankern und Drahtscheren beiseite geräumt werden. Gleichzeitig überschütten andere Gruppen die Polizei mit einem Stein-, Matsch- und Farbbeutelhagel, auch Zwillen kommen zum Einsatz.
Nun geht die Initiative vollständig auf die am Zaun aktiven Gruppen über, von einer Demonstrationsleitung ist nichts mehr zu bemerken. Kleingruppen attackieren die „Atomfestung“ mit großen Eisensägen und Trennschleifern, während andere versuchen, die Fundamente mit Spitzhacken und bloßen Händen auszugraben. Taktisch vorgehende Aktivisten zerstören die Wasserrohre zum Baugelände. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wasserwerfer nicht mehr einsatzbereit sind. Auch wird das Wellblechklo eines nahen Kieswerks abgebrochen, um damit die Sabotage am Zaun zu decken.
Der Durchbruch aufs Gelände erfolgt von der B 83 aus. Wasserwerfer richten ihre Strahlen direkt auf die am Zaun Arbeitenden, und Polizisten stechen mit drei bis vier Meter langen, rostigen Eisenstangen zu. Dadurch gibt es u. a. fünf Bauch- und eine Genitalverletzung. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern und schrillem Martinshorn bahnen sich Krankenwagen den Weg durch das Getümmel, um die Verletzten herauszubringen.
Endlich können Segmente, aus denen sich der Stahlzaun zusammensetzt, abgetrennt und Haken mit Seilen daran befestigt werden. Hunderte bilden, unerreichbar für die Wasserwerfer, lange Schlangen an den Seilen und reißen die ausgeschnittenen Teile der Stahlkonstruktion nieder. Nachdem zwei äußere Elemente gefallen sind, gelingt schließlich, was angeblich unmöglich ist: Auch ein inneres Zaunstück fällt durch die Kraft und unter dem Jubel einiger hundert. Es klafft eine Lücke von 15 Metern.
Die AKW-Gegnerinnen und -gegner strömen zum Durchbruch. Unter Einsatz von Feuerlöscher kontert die Polizei mit einem Angriff, der abgeschlagen werden kann. Jetzt steht der Kampf aus Messers Schneide. Den abgekämpften Polizeihundertschaften droht das Wasser für die Werfer auszugehen. Der Rückzug vom Bauplatz, eine blamable Niederlage, steht unmittelbar bevor. In der 20 Kilometer entfernt liegenden Polizeizentrale Hameln beschließt die Einsatzleitung, die außerhalb des Geländes in Reserve liegenden Einheiten vorrücken zu lassen. „Wir fordern die friedlichen Demonstranten auf, sich von den Verbrechern zu trennen!“ dröhnt es mehrfach aus den Lautsprechern. Doch nur die wenigsten folgen dieser Aufforderung, statt dessen stellen sich viele gegen die Polizei. „Lasst euch von den Bullen nicht zersprengen!“ lautet die Parole, und es beginnt eine erbittert geführte Auseinandersetzung. Durch Gerüchte, ein Kollege sei erschlagen und einem anderen sei eine Mistforke in den Hals gestochen worden, aufgebracht, schlagen die Beamten zu. Von besonderer Brutalität ist der Einsatz der Hunde und der Reiterstaffel Hannover, ca. 30 berittene Polizisten. Im vollen Galopp preschen sie in die Menge und hieben mit langen Knüppeln auf die Demonstranten ein. Aber auf den weiten Feldern zerfleddert der Angriff, an einigen Stellen wird die Polizei zurückgeworfen.
Nach drei Stunden ist alles vorbei. Der Demosanitätsdienst zählt 800 Verletzte, sieben davon müssen stationär behandelt werden. Es gibt 80 Festnahmen.
Nachdem die Demonstrantinnen und Demonstranten abgezogen sind, lässt sich der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) in Begleitung seines Innenministers mit dem Hubschrauber zu dem umkämpften Bauplatz fliegen. Vor dieser Kulisse setzt sich Albrecht in Szene und verkündet, prüfen zu lassen, ob die K-Gruppen als kriminelle Organisationen verboten und aufgelöst werden könnten.
Das Fazit des Staatsapparats nach der Schlacht um Grohnde war: mehr Repression. Die Demonstration gegen den sogenannten Schnellen Brüter im niederrheinischen Kalkar im September 1977 bekam dies spüren. Dort kam es zum größten Polizeiaufgebot in der Geschichte der Bundesrepublik. Die staatliche Drangsalierung der Anti-AKW-Bewegung ist indes nur ein Teil der Geschichte. Grohnde vertiefte die Gräben zwischen Gewaltfreien und Militanten. Einige Jahre später manifestierte sich das in der Gründung der Grünen – während die Autonomen weiterhin auf Militanz setzten.