Antifaschistischen Widerstand, NS-Regime und Weltkrieg in Herzberg

Nordwestlich von Bad Lauterberg liegt Herzberg. Nur etwa 10 Kilometer voneinander entfernt, sind beide Städte recht unterschiedlich. Herzberg zählte im Jahr 1930 offiziell 4.625 Einwohner und damit fast 2.000 weniger als Bad Lauterberg[1]. Zudem war Herzberg nie ein Kurort, sondern trägt den Charakter einer Industrie- und Verwaltungsstadt. Letzteres hängt mit dem Welfenschloss zusammen. In der Residenz hoch oben auf dem Schlossberg fielen schon seit eh und je rechtliche Entscheidungen. Jedoch erst mit der einheitlichen Gerichtsverfassung im damaligen Königreich Hannover erhielt das Amtsgericht 1852 seinen Sitz im Schloss. Später wurde Herzberg auch Standort des Finanzamtes des Kreises Osterode am Harz.

Bedeutendster Wirtschaftsfaktor war im 18.und 19. Jahrhundert die Waffenproduktion.

Das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, inoffiziell Kurfürstentum Hannover genannt, etablierte 1732 eine Gewehrfabrik für die Hannoversche Infanterie in Herzberg. Dabei blieb es nicht. Nach der Auflösung der Gewehrschlossfabrik 1736 in Hannover/Linden wanderte die Werkstatt-Einrichtung zunächst nach Lonau und dem Oderfeld bei Barbis. 1738 wurde die gesamte Produktion schließlich in Herzberg zusammengelegt. Unterhalb des alten Welfenschlosses stellte die Fabrik mit ihren 200 Beschäftigen im 19. Jahrhundert ein großes Wirtschaftsunternehmen dar. Seine Blütezeit hatte die Fertigung in Herzberg ab 1814, als das Königreich Hannover entstand.

Nach der Schlacht von Langensalza im Jahr 1866 annektierte Preußen das Königreich Hannover. Der preußische Staat hatte kein Interesse an einer Waffenproduktion im besetzten Gebiet und entzog die staatlichen Aufträge. Mit Jagdwaffen und -zubehör ging die Produktion stark eingeschränkt bis 1876 weiter. Dann endete die Geschichte der Herzberger Gewehrfabrik.

Neben der Waffenfabrik existierte eine bedeutende Leinen- und Tuchherstellung. Auch nach deren Niedergang blieb Herzberg ein industrieller Standort. Beispiele wären Otto Pleissner, der 1908 eine Eisengießerei in der Stadt gründet. 1926 kauften Karl und Wilhelm Osthushenrich aus Bielefeld die Papierfabrik. Die Brüder verlegen wenig später ihren Hauptsitz nach Herzberg. Nicht zu vergessen die Fritz Homann AG, mit Sitz in Dissen, die im Jahr 1929 ein Sägewerk in Herzberg erwarb.

Insofern hatte Herzberg eine proletarische Geschichte und es gab auch eine sozialdemokratische Bewegung. In diese Richtung wurde bislang von Historikern aber nicht geforscht.

Ein erster Beleg für eine sozialistische Arbeiterschaft in Herzberg findet sich im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch im Jahr 1920. Im März marschierte die Marinebrigade Ehrhardt in Berlin ein um die Regierung zu stürzten. Die Köpfe dieses ersten rechtsradikalen Putsches in der deutschen Geschichte waren General von Lüttwitz und Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp. Der Putsch scheiterte, u.a. am einzigen Generalstreik in der deutschen Geschichte. Darüber hinaus bewaffneten sich an vielen Orten spontan aufgestellte Arbeiterwehren, um gegen den Putsch vorzugehen. In einigen Regionen Deutschlands kam es zu Bürgerkriegskämpfen. Von bewaffneten Konfrontationen blieb der Südharz verschont, aber auch hier gab es Arbeiterwehren. Bad Lauterberg stand vollständig unter Kontrolle einer solchen Miliz, die ihre Waffen nicht freiwillig abgeben wollte. Daher erhielt die Reichswehrbrigade 10 den Befehl, die Arbeiterschaft zu entwaffnen.

Am 26. März 1920 wurden Vertreter des Lauterberger Magistrats, darunter auch Funktionsträger der SPD, im Rathaus in Herzberg zusammengerufen. Offiziere der Reichswehr gaben bekannt, dass am nächsten Tag eine groß angelegte Entwaffnungsaktion anlaufen würde. Ein Beteiligter aus Lauterberg schilderte die Begebenheit wie folgt, „In der Sitzung mit den Offizieren, an der auch die Herzberger Herren teilgenommen haben, sagte der führende Offizier: „Meine Herren! Die Sache muss bis 10 Uhr erledigt und sämtliche Waffen abgeliefert sein.““[2] anderen Falles würde es zu Zwangsmaßnahmen kommen.

Der Einsatz der Reichswehr bezog sich auf verschiedene Orte, mindestens 400 Soldaten marschierten in Herzberg ein, wo ebenfalls Entwaffnungsaktionen erfolgten. Herzberg war Ausgangspunkt des weiteren Vorgehens. Zu diesem Sachverhalt gibt es lediglich eine Zeitungsmeldung ohne weitere Angaben.

Vielerorts führte der Kapp-Putsch zu einem Aufleben der KPD. Über Herzberg gibt es in dieser Richtung leider keine Informationen. Doch der bekannteste KPD-Politiker der Region, Karl Peix, wurde er am 27. März 1899 in Herzberg als achtes Kind eines Webereiarbeiters geboren. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie waren kärglich. Mit harter Arbeit hielt man sich am Leben.

Herzberger KPD

Zu Beginn des I. Weltkrieges war Karl Peix 15 Jahre alt. Anders als seine Brüder zu jung für den Krieg. Ein Bruder fiel im Jahr 1917[3], ein anderer entweder im Jahr darauf kurz vor Kriegsende oder er starb mit seiner Frau an der Grippe-Pandemie. Es gibt zwei Überlieferungen. Wohl 1916 zog Karl Peix, noch minderjährig, in den Krieg. Es gab Freiwillige die erst 16 Jahre alt waren. Wann und warum sich Peix gemeldet hat ist nicht bekannt. Sicher ist, dass er als Frontsoldat kämpfte und das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen bekam. Wann er den Beruf des Pinselmachers erlernte, ist unklar. Als Ort kommt nur Bad Lauterberg in Frage, wo Karl Peix seinen Wohnort wählte.

Ein Bezug zu Herzberg blieb sicherlich bestehen, seine Mutter starb 1919, sein Vater 1930. Ab Dezember 1919 war er als Aufträger im Emaillierwerk der Bad Lauterberger Blechwarenfabrik tätig. Dort lernte seine zukünftige Ehefrau kennen. Marie Peix, geborene Ernemann, erblickte am 20.7.1899 das Licht der Welt. Die beiden waren Mitglieder der USPD und heirateten am 24. Dezember 1920. Zunächst wohnten sie in der Hüttenstraße 12, bei Ernemann, also wohl ihren Eltern. Dann in der Schanzenstraße 2 und schließlich in der Stützerstraße 4. Als sich Anfang 1921 die KPD-Ortsgruppe in Bad Lauterberg etablierte waren die beiden mit dabei. Karl Peix wurde bald Vorsitzender des sich entwickelnden KPD Unterbezirks Bad Lauterberg. Er war Stadtratsmitglied, saß als KPD-Abgeordneter im Osteroder Kreistag und ab 1929 gleichzeitig im Provinziallandtag der Provinz Hannover. Im Südharz war er sehr bekannt und hatte manche Konfrontation mit den Nazis auszufechten.

Herzberg war zwar der Geburtsort von Karl Peix, Lebensmittelpunkt aber Bad Lauterberg. Von hier gingen die politischen Impulse für die gesamte Region aus, auch zur KPD-Ortsgruppe Herzberg.

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Karl Peix erblickte als jüngstes Kind einer Arbeiterfamilie, am 27. März 1899 in Herzberg, das Licht der Welt. Er hatte zwei Schwestern und fünf Brüder. Später lebte Peix in Bad Lauterberg und war Anfang der 1930er Jahre der bekanntesten KPD-Funktionär der Harzregion. Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 tauchte Peix unter und organisierte den Widerstandskampf der KPD im Harz, bis ihn die Gestapo im Oktober 1933 in Hannover verhaftete. Unter Folter wollte man Informationen von ihm erpressen. Zunächst in die SA-Kaserne dann im Polizeigefängnis. Karl Peix hielt stand. Wohl bereits 1937 gehörte er zu den ersten Häftlingen des KZ Buchenwald, wo er die Widerstandsgruppe im Krankenrevier maßgeblich mit aufbaute. Am 6. November 1941 wurde Karl Peix, gemeinsam mit Walter Krämer, im Außenlager Goslar des KZ-Buchenwald von der SS erschossen.

 

In den Ermittlungsakten der Gestapo sind einige Fakten überliefert. So findet sich der Name Willi Börker. Ein Arbeiter, der im Sommer 1931 in die KPD eintrat und ab September 1932 Propagandaleiter der KPD-Ortsgruppe Herzberg war. Am 20. November 1904 geboren, wurde Börker mit 26 Jahre KPD-Mitglied.

Anfang der 1930er Jahre traten viele junge Arbeiterinnen und Arbeiter in die Partei ein – und bald wieder aus. Es gab eine hohe Mitgliederfluktuation. Inwieweit das auf Herzberg zutrifft, lässt sich nicht sagen. Überhaupt ist vom politischen Engagement der KPD in Herzberg nur sehr wenig überliefert. Ein Bericht findet sich im Roten Sender, Zeitung der KPD aus Bad Lauterberg.

Am Sonntag, den 28. September 1932 nutzte die NSDAP die Beerdigung eines SA-Mannes um die von der Papen-Regierung erlassenen Notverordnung samt Burgfrieden, zu unterlaufen. Es galt ein generelles Verbot von politischen Demonstrationen.

Unter der Überschrift „Für SS und SA besteht kein Burgfrieden“ berichtete der Rote Sender:

„Die Herzberger Arbeiterklasse hatte am vergangenen Sonntag Gelegenheit zu beobachten, dass Notverordnung, Burgfrieden und sonstige politische Knebelungsgesetze, nur auf Kommunisten Anwendung finden; … So hatte man aus dem weitesten Umkreis die SS und SA zusammengezogen. Jedoch wie immer üblich war, im Gegensatz zu kommunistischen Aufmärschen, keine Polizei da. Die Herzberger Polizei, die schon zum wiederholten Male in dem Zusammenstehen zweier Arbeiter einen Verstoß gegen den Burgfrieden erblickte, und immer zum Weitergehen aufforderte, konnte diesmal ganz anders. Man ließ erst die SS und SA sich formieren und nachdem sie losmarschiert waren, versuchte man den Zug aufzulösen, was jedoch der Herzberger Polizei in ihrer so stark ausgeprägten Zartheit nicht gelang, … . Die Empörung der Herzberger Arbeiterschaft über das Verhalten der Polizei hatte zur Folge, dass die Polizei sich nunmehr den Anschein gab, als sei sie lediglich zu schwach den Zug aufzulösen. Die Herzberger Polizei kann jedoch auch anders, das hat sie bereits zum wiederholten Male bewiesen, dass wenn es sich um Arbeiter handelt, ihre am Sonntag an den Tag gelegte Zartheit nicht vorhanden ist. Arbeiter Herzbergs! Lernt aus diesem Vorfall, dass nur in der geschlossenen Antifaschistischen Einheitsfront die Gewähr für den Schutz der Arbeiterwohnungen liegt. Zeigt den Nazis, dass ihr nicht länger gewillt seid, ihnen die Straße zu überlassen.“ Direkt an diesen Artikel fügt sich ein weiterer an. „Der Herzberger Pastor auch unpolitisch! Dem bei der Beerdigung amtierenden Pastor scheint wenig oder gar nichts an seinen Gläubigen, soweit sie nicht Nazis sind, zu liegen. … Damit seine unpolitische Leichenrede nicht von Unberufenen gehört werden sollte, gab er einem SA-Mann den Befehl, nicht so viel Menschen auf den Friedhof zu lassen. Antifaschisten, die ihr noch Mitglieder der Kirche seid, erkennt die Gefahr! Gebt den faschistischen Seelsorgern die Antwort. Heraus aus der Kirche!“[4]

 

 

 

 

 

Der Proletarische Freidenkerverband war, Anfang der 1930er Jahre, als Abspaltung vom Deutschen Freidenkerverband, entstanden und eine Vorfeldorganisation der KPD. Im Gegensatz zum Christentum propagierte die atheistische, sozialistische Arbeiterbewegung die Feuerbestattung.

 

Den Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 versuchte die KPD durch einen Generalstreik zu verhindern. Während in Bad Lauterberg einige Betriebe in den Streik geführt werden konnten und antifaschistische Demonstrationen die Straße beherrschten, gab es auch in Herzberg entsprechende Versuche. Das Göttinger Tageblatt berichtete am 2. Februar 1933: „Vor verschiedenen Herzberger Betrieben wurde von kommunistischer Seite zum Streik aufgefordert. Es ist jedoch niemand beobachtet worden, der auf Grund dieser Aufforderung seinen Arbeitsplatz verlassen hat. In den Abendstunden zog ein Gruppe Kommunisten durch die Stadt und forderte in Sprechchören erneut zum Streik auf. Auch wurden Schmährufe gegen die neue Regierung ausgebracht.“

 

Der Kampf aus der Illegalität

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 baute die KPD eine illegale Struktur im Südharz auf. Karl Peix war seiner Verhaftung entgangen, viele Kommunist_innen noch nicht entmutigt. Die Organisation wurde von Bad Lauterberg aus geleitet. Auch eine Ortsgruppe in Herzberg gehörte zum illegalen Geflecht, das von der Gestapo noch im selben Jahr aufgedeckt und zerschlagen werden konnte. Aus dem Ermittlungsbericht ergibt sich folgendes Bild.

 

 

Mitte März 1933 trafen sich Willi Börker und der Schlosser Gustav Meyer, Jahrgang 1907, mit einem Vertreter aus Bad Lauterberg am Wasserbassin in Herzberg. Hier wurde der Aufbau von zwei Fünfer-Gruppen besprochen. Eine führte Börker die zweite Meyer. Es folgten weitere Treffen, Mitgliedsbeiträge wurden abgeführt und illegales Material wie 10 Rote Sender oder 10 Exemplare der Roten Fahne verteilt.

In der Anklageschrift in der Strafsache gegen 74 Angeklagte wegen Vorbereitung zum Hochverrat, ausgefertigt am 27. November 1933 in Kassel, finden sich auch die Angaben zu den weiteren Mitgliedern:

Hermann Baumbach, Sieberstraße 194, geb. 29. Juni 1909 in Ilfeld.

Kurt Höhne, Sieberstraße 194, geb. 5. Mai 1898 in Schmölln.

Ernst Mügge, Sägemühlenstraße 282, geb. 12. Dezember 1904 Osterode am Harz.

Hans Tahler, Jueßholz 716, geb. 15. Februar 1894 Herzogenaurach.

Franz Hartmann, Lohbrink 346, geb. 13. Februar 1904 in Herzberg.

Karl Hartmann, Heideufer 514, geb. 12. August 1906 in Herzberg.

 

Siegel des Amtsgericht Herzberg zur NS-Zeit. Im Gerichtsgefängnis wurden Antifaschisten zeitweise inhaftiert. Bei Gustav Meyer ist in der Anklageschrift vom November 1933 vermerkt, „z. Z. in Schutzhaft im Gerichtsgefängnis Herzberg“.

 

 

Viehwagen als Pranger

Aber nicht nur Kommunist_innen waren von der Repression des NS-Regimes betroffen. Insgesamt kamen rund 40 Herzberger_innen in den nächsten Monaten und Jahren aus unterschiedlichen Gründen in Haft. Etwa der Viehändler Emil Hieke und der Kaufmann Wilhelm Höltig. Beide wurden wegen staatsfeindlicher Äußerungen und Mitgliedschaft in einer verbotenen Partei verhaftet. Wilhelm Hieke starb im KZ Werl, Emil Höltig im KZ Oranienburg. Seine Geschichte ist besonders erwähnenswert, da sie sich unter Beteiligung der Bevölkerung in aller Öffentlichkeit abspielte.

Der Kaufmann Emil Höltig war ein reaktionärer Monarchist und Funktionär der DHP (Deutsch-Hannoversche Partei). Diese Partei war 1869 aus Protest gegen die Annexion des Königreiches Hannover durch Preußen und die Beschlagnahmung des Welfen-Vermögens gegründet worden. Ihr Ziel bestand darin die welfischen Dynastie wiederherzustellen, deshalb wurde sie auch Welfenpartei genannt. Nach 1918 trat die DHP für ein von Preußen unabhängiges Hannover als Gliedstaat des Deutschen Reiches ein. Mit dieser Ausrichtung war die Partei im ehemaligen hannöverschen Gebiet eine relevante politische Kraft und verzeichnete in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in einigen Landkreisen absolute oder gar Zweidrittelmehrheiten bei den Reichstagswahlen. Im Zuge des Kapp-Putsches 1920 kommt es sogar zu einem Umsturzversuch in Hannover, dem „Welfenputsch“.

Ihren Höhepunkt erlebte die DHP am 18. Mai 1924 als sie einen Volksentscheid über ein Land Hannover durchführen wollte. Nach dessen Scheitern, setzte der Niedergang der DHP ein. Teile schlossen sich der NSDAP an, andere hielten die immer bedeutungsloser werdende Partei aufrecht, die 1932 ihr letztes Reichstagsmandat verlor. Den Nazis blieb die Welfenpartei ein Dorn im Auge. Nationalsozialisten waren keine Monarchisten und standen separatistischen Bestrebungen grundsätzlich ablehnend gegenüber. Bevor sie verboten wurde, löste sich die DHP im Juli 1933 auf.

 

 

Propagandapostkarte der DHP zur Vorabstimmung für ein Land Hannover am 18. Mai 1924. Das Niedersachsenroß sprengt seine Ketten und springt in die Freiheit, Richtung Sonne. Die geht hinter Hannover an der Leine auf, zu erkennen sind Rathaus, Marktkirche und die Waterloo Säule. Alle etablierten Parteien stellten sich gegen die DHP, die Vorabstimmung scheiterte.

 

Höltig, Jahrgang 1886 und Weltkriegsteilnehmer, war kein Freund der Nazis, sie waren ihm zu plebejisch, modern und großdeutsch. Der Kaufmann hing weiter an dem alten Königreich Hannover und polterte in Gesprächen immer wieder gegen die NSDAP und Hitler. Seinem Angestellten und späteren Herzberger SA-Scharführer (Unteroffizier) gegenüber gab sich Höltig ohne Umschweife als welfentreu gesinnt zu erkennen. Es fielen Sätze wie: „Ich habe im Krieg keinen Finger krumm gemacht. Für mein Herrscherhaus hätte ich gekämpft, aber für Preußen nicht.“ Oder „Ich kenne kein Vaterland. Ich würde mich überall wohl fühlen, wo ich mein Auskommen hätte.“[5]

Dabei wusste Höltig um die Gefahr. Nachdem sein Angestellter im Juni 1932 in die SA eingetreten war, sagte er seiner Frau: „Mit ihrem Mann kann ich mich, seit er in der SA ist, nicht mehr richtig unterhalten. Denn sollte man einmal etwas sagen, so ist er verpflichtet, das der Partei zu melden“.[6]

Höltig sorgte mit seiner aufbrausenden Art selbst dafür, dass seine Haltung allgemein bekannt war. Er machte auch kein Geheimnis daraus, das er nur aus taktischer Vorsicht Ende 1933 in den Stahlhelm eintrat. In diesem Zusammenhang eskalierte ein Treffen mit SA-Leuten und Stahlhelmern am 28. März 1934 in Bad Lauterberg. Dort äußerte sich Höltig in einer Tour abfällig über Hitler und quittierte „Heil Hitler“ mit dem Stahlhelm-Gruß „Front-Heil“. Schließlich warf ihn die SA aus dem Lokal und die Polizei nahm den Vorgang auf.

Kurz darauf wurde Höltig die Denunziation seiner Mieterin zum Verhängnis. Der Kaufmann besaß ein Haus in der Leo-Schlageter-Allee 651, heute Friedrich-Ebert-Straße. Die untere Etage hatte er einer Familie vermietet. Die 28-jährige Ehefrau hörte am Abend 7. Juni 1934 mit, was ihr Vermieter ein Stockwerk höher im wütenden Ton gegenüber seiner Frau von sich gab. Sie ging zur Polizei und gab zu Protokoll: „Er sagte ‚Dies verfluchte Deutschland, man kann keinem mehr trauen.‘ Auf die Person Adolf Hitlers sagte er: ‚Der Verbrecher, der Lump, der Bandit, wenn ihn doch endlich mal einer ermorden wollte.‘ Dieses hat er, wahrscheinlich in betrunkenem Zustand, des öfteren wiederholt. Vor längerer Zeit, als Höltig von einer Reise aus Hannover zurückgekommen war, äußerte er zu den Eheleuten, er hätte noch keine Waffe in die Hand genommen, aber wenn es mal gegen die ‚braunen Schweinehunde‘ ginge dann würde er sofort schießen. Dieses habe ich in meiner Wohnung, welche sich in der I. Etage des Höltig’schen Grundstückes befindet, gehört. Die Eheleute wohnen in der II. Etage des gleichen Grundstücks.“[7]

Nachdem das Protokoll verfasst war, schritt nicht die Polizei, sondern die örtliche SS ein. Am Abend des 8. Juni 1934, gegen 19.30 Uhr, verhaftete der Herzberg SS-Truppführer in Begleitung zwei weiterer SS-Männer, den NS-Gegner Höltig. Der Truppführer hatte sich etwas besonderes ausgedacht. „Als abschreckende Beispiel gegen andere Wühlmäuse, die heute noch ihr Unwesen treiben, wurde H. in einem Viehwagen durch die Straßen der Stadt gezogen. In bestimmten Zwischenräumen wurde gehalten, und Arbeitsdienstler, die den Wagen zogen, bildeten Sprechchöre, in denen den Nörgler und Miesmachern schärfster Kampf angesagt wurde. Nach dem Umzug wurde H. der Polizei übergeben und noch am selben Abend ins Untersuchungsgefängnis nach Osterode abgeführt. – Dieser Vorfall mag allen Meckerern und besonders den ‚150prozentigen Nationalsozialisten‘, die den Namen des Führers und der Bewegung als Mittel zum Zweck immer in den Vordergrund schieben, als warnendes Beispiel dienen.“[8]

Erst nach dieser Erniedrigung wurde Höltig vernommen und bereits am 11. Juni wieder auf freien Fuß gesetzt. Allerdings erhielt er gleichzeitig ein Schreiben vom Bürgermeister als Ortspolizeibehörde „Nachdem das Amtsgericht Osterode (Harz) Ihre vorläufige Haftentlassung angeordnet hat, warne ich Sie in Ihrem eigenen Interesse dringend, Ihre Wohnung mehr als unbedingt erforderlich zu verlassen. Zum Schutze Ihrer Person müßte nötigenfalls Schutzhaft § 15 des Pol.Verw. Ges. vom 1.6.31 über Sie verhängt werden, die Kosten hätten Sie selbst zu tragen.“[9]

Noch im Juni kam Höltig erneut in Haft, diesmal ins KZ-Oranienburg, wo er umkam.

Vergessen war die Geschichte mit dem Viehwagen aber nicht und hatte im Jahr 1949 ein juristisches Nachspiel. Im Mai 1949 hatten sich der ehemalige SS-Oberscharführer Gustav H., der 1934 als Truppführer die Herzberger SS angeführt und den Transport mit dem Viehwagen zu verantworten hatte, und einer seiner SS-Kumpane, vor dem Göttinger Schwurgericht zu verantworten. Das Gericht stellte fest, das gegen Höltig kein Haftbefehl vorlag und es die Polizei sogar ausdrücklich abgelehnt hatte einen solchen auszustellen. „Sie haben Straßenterror der übelsten Art verübt und haben die Ehre eines angesehenen Bürgers in den Schmutz getreten“[10] urteilte der Richter über Gustav H. . Trotzdem erhielt der ehemalige SS-Oberscharführer lediglich eine Haftstrafe von einem Jahr und der andere Angeklagte kam mit vier Monate davon. Von verschiedenen Seiten war den beiden ein gutes Zeugnis ausgestellt worden. Auch fanden die Ausführungen der Angeklagten vor Gericht glauben, das ihnen an der Rechtmäßigkeit ihres Handelns im Nachhinein Zweifel gekommen seien. Als Beleg galt, dass sich ein solches Vorkommnis in Herzberg nicht wiederholte.

Die Liste der Menschen, gegen die das NS-Regime in Herzberg vorging, ist lang. Dazu gehörten die katholischen Pfarrer Friedrich Grün, Karl Laufköter und Josef Kitzinger, der Fabrikant Karl Osthushenrich, der Feilenhauer-Meister Wilhelm Reck, wie der Fleischermeister Karl Schünemann.

Jüdische Familien gab es nur sehr wenige in Herzberg; es existierte keine jüdische Gemeinde.

Bekannt war der aus Polen stammende Benno Borzykowski, der eine Kunstseidenspinnerei in Herzberg gründete. Im Jahr 1930 war der General-Direktor Schützenkönig. Die von ihm gestiftete Kleinodie befindet sich bis heute im Besitz des Vereins. Borzykowski meldete 1934 Konkurs an und wanderte 1938 in die USA aus.

Die Jüdin Johanna K. war mit einem Lokführer verheiratete. Vor die Wahl gestellt ließ er sich scheiden. Sie kam in das KZ-Theresienstadt aus dem sie nach 22 Monaten entlassen wurde. Johanna K. verstarb nach 1945.

Eine weitere jüdische Frau, die in Herzberg als Küchenhilfe arbeitete, schickte ihre Kinder in die USA, bevor sie ins KZ-Theresienstadt deportiert wurde. Über sie ist weiter nichts bekannt. Ebenso nicht über die Familie Josef, die in der Sieberstraße wohnte.

Aus den genannten, scheinen keine weiteren Juden in Herzberg gelebt zu haben.

 

Vom Freiwilligen- zum Reichsarbeitsdienst

In der Zeit der großen Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit von 1929 griff die Regierung Brüning die Forderung der Rechtsparteien nach einer Arbeitsdienstpflicht auf, indem sie den FAD (Freiwilligen Arbeitsdienst) ins Leben rief. Es entstand das größte, öffentlich geförderte Beschäftigungsprogramme der Weimarer Republik.

Artikel 1 der Ausführungsverordnung vom 3. August 1931 legten fest, dass der FAD nur für gemeinnützige Arbeiten eingesetzt werden durfte. Träger der Maßnahmen konnten nur Körperschaften des öffentlichen Rechts und Vereinigungen oder Stiftungen sein, die gemeinnützige Ziele verfolgten. Dazu zählten Jugendbünde, Gewerkschaften, politische Parteien, konfessionelle Vereinigungen, Bewegungen aller Art.

Die inhaltliche Zielsetzung des FAD war so unterschiedlich wie seine Betreiber. Von den Kirchen bis zu den Parteien aber auch Organisationen wie der Stahlhelm Bund der Frontsoldaten richteten Arbeitsdienstlager ein. In der Anfangsphase konnten nur junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren die Förderung in Anspruch nehmen. Wobei die Arbeitsdauer auf maximal 20 Wochen beschränkt war, solange wurde die Arbeitslosenunterstützung weitergezahlt. In der Regel lag die Beschäftigungsdauer im FAD bei unter 10 Wochen.

 

Die wirtschaftliche Lage im Kreis Osterode wurde mit dem Jahr 1929 katastrophal. Quasi als Hilferuf gab der Kreisausschuss des Kreises Osterode im April 1930 die 42seitige Broschüre „Not im Kreis Osterode“ heraus, die den Niedergang in allen Einzelheiten dokumentierte.

 

Ab Mitte 1932 wurde der FAD auch für Frauen ermöglicht, so dass die Zahl der Freiwilligen bis Dezember 1932 auf mehr als 241.000 Personen stieg.

Für die NSDAP organisierte der ehemalige Reichswehroffizier Konstantin Hierl ab 1931 einen Arbeitsdienst. Auf diese Strukturen bauten die Nazis nach ihrem Machtantritt 1933 auf. Der FAD wurde nicht nur weitergeführt sondern ausgebaut. Hintergrund war in der ersten Zeit, dass die Nazis ihre Macht sichern mussten. Zum einen taten sie dies durch Repression, zum anderen wollten sie die Bevölkerung vor allem durch die Linderung der sozialen Not für sich gewinnen. Ein großes Versprechen war, die hohe Arbeitslosigkeit verschwinden zu lassen. Der Arbeitsdienst diente dabei als Instrument, mit dem für kurze Zeit Beschäftigung geschaffen werden konnte. Auch halfen die Projekte, die sich auf den Aufbau der Infrastruktur konzentrierten, dem politischen Image. Bezeichnend für den Arbeitsdienst blieb, dass auf Handarbeit gesetzt wurde. Auf Maschinen, mit denen sich Erdarbeiten u.ä. viel effektiver und schneller hätten erledigen lassen, verzichtet man bewusst. Es ging eben darum Beschäftigung zu schaffen und ideologische Beeinflussung im Sinne der Volksgemeinschaft zu erzielen.

„Es gibt kein besseres Mittel, die soziale Zerklüftung, den Klassenhaß und den Klassenhochmut zu überwinden, als wenn der Sohn des Fabrikdirektors und der junge Fabrikarbeiter, der junge Akademiker und der Bauernknecht im gleichen Rock bei gleicher Kost den gleichen Dienst tun als Ehrendienst für das ihnen allen gemeinsame Volk und Vaterland,“ so Konstantin Hierl.[11]

Der Nazi-Organisator wurde 1933 zunächst zum Reichskommissar des Freiwilligen Arbeitsdienstes ernannt. Mit Einführung der Arbeitsdienstpflicht am 26. Juni 1935, übernahm Konstantin Hierl dann als Reichsarbeitsführer den Reichsarbeitsdienst. Von nun an hatte jeder männliche Deutsche im Alter zwischen 18 und 25 Jahren 6 Monate im RAD-Dienst zu tun. Vom Lohn wurden maximal 0,50 RM täglich ausgezahlt. Das entsprach ungefähr einem unteren Hilfsarbeiterlohn. Das übrige Geld wurde für Essen, Lagerunterkunft, Heizung, Bekleidung und Versicherungen einbehalten. Mit Kriegsbeginn fand eine Ausweitung der Arbeitsdienstpflicht auf Frauen statt. Ab September 1939 gab es Arbeitsmänner und Arbeitsmaiden.

Militärisch strukturiert diente der RAD und viele seiner Projekte der Kriegsvorbereitung. Ab 1944 wurde dem RAD die 6-wöchige militärische Grundausbildung übertragen, um die Ausbildungszeit bei der Wehrmacht zu verkürzen. Zum Ende des Krieges kam es sogar zur Aufstellung eigener RAD-Kampfgruppen.

 

Machtergreifung mit dem Spaten

In Herzberg stellte die Ortgruppe des Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten im Dezember 1932 an die Stadtverwaltung den Antrag ein Arbeitsdienstlager für einen Freiwilligen Arbeitsdienst im Gebäude des Vorwerks am Bahnhof Herzberg-Schloß, einzurichten. Daneben wurde ein Freiwilliger Arbeitsdienst für Frauen vom Evangelischen Frauenbund initiiert. Beides existierte unabhängig voneinander und lief nur aufgrund der staatlichen Förderung unter der gleichen Bezeichnung.

Die Planung und Genehmigung für das vom Stahlhelm angeregte Arbeitsdienststammlager fiel in die Zeit nach dem Machtantritt der Nazis. Unter ihrer Federführung kam das Projekt schnell zum Abschluss. Im Juli 1933 gab es eine Bauplatzbesichtigung am alten Schafstall, der für das Bauvorhaben teilweise abgerissen werden musste, im August war Baubeginn. Es entstand ein 60 Meter langes und 11,5 Meter breites, zweigeschossiges Fachwerkgebäude mit Holzverschalung, das „eine Unterbringung der Arbeitsdienstwilligen getrennt vom Wohnort gestattet“, wie es der Erlass des Reichskommissars vom 3. September 1932 vorsah. Das Herzberger Lager bot für 250 Arbeitsdienstmänner Unterkunft. Ausgestattet mit Einzelstuben für das Führungspersonal, einem großen Unterrichtsraum, Wasch- und Duschräumen, Sanitätsräumen, einer komplett eingerichteten Küche, Vorratsräumen und einem großen Exerzierplatz.

Unter flatternden Hakenkreuzfahnen fand im November 1933 das Richtfest statt. Die genaue Bezeichnung lautete: Arbeitsdienst der NSDAP, Arbeitsgau 18 Niedersachsen-Ost, Stammlager Nr. 7 Herzberg (Harz). Am 4. März 1934 wurde die Einrichtung offiziell an den Arbeitsdienst Gau 186/7 übergeben.

 

Das Foto aus dem Jahr 1933 zeigt eine Gruppe des Freiwilligen Arbeitsdienstes in Lonau. Der Arbeitsdienst war hier u.a. bei Erdarbeiten beim Bau des Freibades und beim Wegebau eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt war der Dienst noch freiwillig. Es meldeten sich Nazis und ihnen nahestehenden Personen. Auf dem Foto sind also Lonauer Nazis versammelt.

 

Allein durch das Stammlager war der nationalsozialistische Arbeitsdienst in den ersten Jahren des NS-Regimes in Herzberg eine sehr präsente Erscheinung. Bereits vor Einrichtung des Lagers existierten zwei kleinere in Gieboldehausen und Lonau. In Lonau stellten 80 Mann, die Herzberg unterstanden, 1933 das Schwimmbad fertig. Wegebau oder Verbesserung der Uferbefestigung, wie am Juessee, gehörten zu den typischen Aufgaben der Arbeitsmänner.

Manch alter Nazi und viele schlichte Gemüter meinten noch lange Zeit nach dem II. Weltkrieg, einen Spaten in die Hand zu nehmen hätte nicht geschadet. Vieles sei geschaffen worden, nicht zuletzt die Autobahn – und vor allem hätte es eine großartige Kameradschaft gegeben. Das Regimegegner und Juden davon ausgeschlossen waren und der Drill zur arischen Volkgemeinschaft erfolgte fiel bei dieser Betrachtung einfach unter den Tisch.

Noch bis in die 1980er Jahre fanden Treffen ehemaliger RAD-Angehöriger statt über die in der lokalen Presse wie über eine Kaffeefahrt berichtet wurde. Kein Wort fand sich darüber, das der RAD eine Nazi-Organisation gewesen war.

 

 

Ohne Hintergrundinformation oder kritische Einordnung berichtete der Harzkurier 1978 vom jährlichen Treffen ehemaliger RAD-Angehöriger.

 

Über den Freiwilligen Arbeitsdienst gelang es der NS-Führung bis Ende 1933 rund 45 Prozent der Arbeitslosen im Kreis Osterode mit Notstandsarbeiten zu beschäftigen. Die Zahl der Wohlfahrtempfänger ging demensprechend zurück. Ab 1934 schafften Großprojekte wie die in ihrer Zeit größte Fernwasserleitung der Welt, die von der Sösetalsperre nach Bremen und Hildesheim führte, weitere Entlastung. Wobei die Zeitung so unverblümt wie stolz verkündete „Dabei mag noch erwähnt sein, daß bei den umfangreichen Ausschachtungen auf alle Maschinen verzichtet werden soll, damit um so mehr Menschen Beschäftigung gegeben werden kann. Der Arbeitsbeschaffungsgedanke des Führers Adolf Hitler erfährt also durch die Fernwasserleitung der Harzwasserwerke eine Förderung, wie sie zweckentsprechender und nachhaltiger nicht gedacht werden kann.“[12]

Tatsächlich waren diese Projekte bereits vor der Nazi-Zeit überlegt und teilweise verwirklicht worden. Wie der Bau der Odertal- und Sösetalsperre. Die Nazis reklamierten die Erfolge nun für sich und ersetzten die Arbeitslosigkeit durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – und führten den Drill mit dem Spaten ein. Doch ließen sich mit dem Arbeitsdienst nur kurzfristige Effekte erzielen. Langfristig musste eine neues Wirtschaftsprogramm greifen, das vom NS-Staat ab 1935 zielstrebig verfolgt wurde. Das Programm lautete Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Überall entstanden Rüstungsunternehmen. Wehrmacht, Luftwaffe und Marine wurden binnen kurzer Zeit vergrößert und modernisiert. Die Zeit, in welcher der Arbeitsdienst für die Beschäftigung von Arbeitslosen sorgte, um den Nazi-Staat zu bestätigen, war bald vorüber. Neben der nationalsozialistischen Erziehung, rückten für den RAD vor allem prestigeträchtige Großprojekte wie der Autobahnbau in den Vordergrund.

Für das Arbeitsdienststammlager in Herzberg kam damit das aus. Keine vier Jahre nach seiner Inbetriebnahme gab der RAD das Lager am 31. Mai 1937 auf. Versuche des Herzberg Nazi-Bürgermeisters Henry Steinbömer das Gebäude der SS als Kaserne anzubieten, scheiterten.

Seine zweite große Nutzung erfuhr es im II. Weltkrieg, als sogenanntes Gemeinschaftslager der Herzberge Munitionsfabrik. Diese Bezeichnung war nichts weiter als eine Umschreibung für das Zwangsarbeiterlager „Schloß“.

 

 

RAD-Mann in der Anfang 1934 eingeführten Uniform. Oberhalb der Hakenkreuzarmbinde die Ärmelspaten genannte Dienststellenbezeichnung. Hier 183/7, Arbeitsgau Braunschweig.

 

Zwangsarbeit

Mit Beginn des II. Weltkrieges wurde in Herzberg, wie im gesamten Deutschen Reich, die industrielle Fertigung auf Rüstungsproduktion umgestellt. Nachdem immer mehr Männer eingezogen wurden, drohten die Arbeitskräfte auszugehen. So griff das NS-Regime ab 1942 verstärkt auf Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zurück, um das öffentliche Leben aufrecht zu erhalten und die Produktion zu gewährleisten bzw. zu steigern.

Eingesetzt wurden Kriegsgefangene, sogenannte Fremdarbeiter und KZ-Häftlinge. Wobei sich diese drei Kategorien noch einmal unterteilten, wie etwa in Fremdarbeiter „Ost“ und „West“. Entsprechend unterschied sich der Status. Menschen aus der Sowjetunion (im NS-Jargon sogenannte Ostarbeiter) und aus Polen waren durch Sondererlasse der Willkür der Gestapo und anderer polizeilicher Dienststellen ausgeliefert. Sie mussten entsprechende Kennzeichen („OST“, „P“) auf der Brust tragen durften ihre Lager oft nur zur Arbeit verlassen. Erträglicher, aber dennoch entbehrungsreich und demütigend, war das Leben für westeuropäische, der „nordischen Rasse“ zugerechnete Facharbeiter und Ingenieure.

Fremdarbeiter waren zwar zum größten Teil zwangsverpflichtet, galten aber nicht als Gefangene, es gab daher auch Lager, die nicht mit Stacheldraht umzäunt und von Wachmannschaften kontrolliert waren. Bei Kriegsgefangen- und KZ-Lagern war dies immer der Fall.

Zwangsarbeit war allgegenwärtig. In großen und kleinen Betrieben, in der Forstwirtschaft, beim Wege- und Straßenbau, wie in der Landwirtschaft und selbst in privaten Haushalten. Insbesondere schufteten die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie.

In Herzberg zum Beispiel bei der Eisen- und Stahlgießerei Pleißner, wo Granaten für schwere Flak und PAK hergestellt wurden sowie Nebelwerfer und Kettenantriebsgehäuse für den Panzerkampfwagen VI Tiger. Am 1. Februar 1944 verfügte Pleißner über eine Gesamtbelegschaft von 802 Personen. Fast 300 davon waren Kriegsgefangene, die im

Lager Wiese im Bereich Kornstraße und Lager Heidebrunnen untergebracht waren.

Kriegsgefangenlager gab es auch in anderen Bereichen der Stadt, wie am Langfast wo zwei Lager existierten. Eins für etwa 90 sowjetische Gefangene und ein zweites für 45 polnische Kriegsgefangene. Während die sowjetischen Gefangen in der Forstarbeit eingesetzt waren, arbeiteten die Polen in der Papierfabrik und dem Sägewerk Fritz Homann AG.

 

Sprengstoffwerk der DAG

Das größte Rüstungsunternehmen in Herzberg entstand während des Zweiten Weltkrieges. Standort war am Pfingstanger, dort wo sich einst die Gewehrfabrik befand. Im Anschluss an die Gewehrproduktion siedelte sich hier eine Baumwollbleicherei an, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs brach lag. Das änderte sich, als der jüdische Unternehmer Benno Borzykowski das Areal mit den leerstehenden Gebäuden im Jahre 1919 kaufte und dort eine Spinnerei für Kunstseide einrichtete.

In den ersten Jahren zeichnete sich eine erfolgreiche Unternehmerstrategie ab, dann aber kam es 1927 zu einer Erweiterung der Papierfabrik. Die Einleitung säurehaltiger Abwässer in die Sieber und den Mühlengraben erhöhte sich erheblich. Das Wasser war derart verschmutzt, dass es nicht mehr zum Färben der Seide genutzt werden konnte. Borzykowski stellte seine Produktion zunächst für einige Monate ein und führte Beschwerde, die aber erfolglos blieb. Die Behörden gingen nicht gegen die Papierfabrik vor. Borzykowski ließ Klärteiche bauen und einen Brunnen zur Ersatzwasserbeschaffung bohren. Doch brachten die Maßnahmen keinen Erfolg, die Produktion konnte nicht wieder aufgenommen werden. Am 27. Februar 1934 ging die Borvisk-Kunstseiden AG in Konkurs. Das Fabrikgelände versuchte Borzykowski noch 1937 an einen ausländischen Investor zu verkaufen, bekam dafür aber keine Genehmigung vom Reichswirtschaftsministerium. Stattdessen wurde die Borvisk-Kunstseiden AG vollständig abgewickelt. Liquidatoren waren der Rechtsanwalt Dr. Weber aus Bad Lauterberg und Fritz Hessinger der ab 1942 das Sprengstoffwerkes der DAG in Herzberg leitete.

Die reichseigene Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie (Montan) kaufte nämlich aus der Konkursmasse im Juni 1940 das Werksgelände. Nach einjähriger Umbauzeit entstand eine Munitionsfabrik mit Füllstelle, die von der Montan an die „Fabrik Herzberg der GmbH zur Verwertung chemischer Erzeugnisse“ verpachtet wurde. Das Werk, mit dem Tarnnamen „Kiefer“, war ein Tochterunternehmen der Dynamit Nobel AG mit Hauptsitz in Troisdorf.

Ab Sommer 1941 begann die Befüllung von 50-kg-Bomben mit dem Fertigungskennzeichen „hzb“, im Herbst wurde auf 250-kg-Bomben umgestellt. Dann stellte die DAG Ende 1943 die Produktion von Bomben fast ganz ein. Stattdessen wurden täglich bis zu 6.000 Tellerminen in Herzberg fertig gestellt. Der Sprengstoff wurde vom Schwesterwerk in Hessisch-Lichtenau in Kesselwaggons per Bahn angeliefert.

Die Zahl der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Munitionsfabrik stieg von 650 im Jahr 1942 bis auf 360 deutsche und 525 ausländische Arbeitskräfte am 31.12.1944.[13]

Jede_r Beschäftigte hatte einen Werksausweis, den er beim Betreten des Werkes vorzuzeigen hatte. Der Werkschutz führte ein hartes Regiment und machte dem Direktor täglich Meldung. Mehrmaliges verspäten oder gar unentschuldigtes Fernbleiben führten zur Überstellung ins Arbeitserziehungslager Liebenau bei Nienburg an der Weser. Das Lager unterstand der Gestapo. Häftlinge mussten hier schwerste körperliche Arbeit beim Bau einer Pulverfabrik verrichten. Nach der Auflösung des Lagers im Mai 1943 kamen die Häftlinge in das neue Arbeitserziehungslager Lahde bei Minden.

Wer die Munitionsfabrik in Herzberg verlies wurde kontrolliert. Es gab einen Metalldetektor, wenn dieser Anschlug erfolgte eine Leibesvisitation. Wer versuchte auch nur das Geringste aus dem Werk zu schmuggeln und dabei erwischt wurde verschwand auf nimmer wiedersehen.

Das Befüllen war keine körperlich schwere Arbeit, aber sie war gesundheitsgefährdend. Über die Haut und Atmung gelangten giftige Chemikalien in den Körper. Bei der Minen Befüllung fehlten Absauganlagen, hier war der Krankenstand besonders hoch. Es kam zu schweren Vergiftungen, mit zum Teil tödlichem Ausgang. Um den Kontakt mit den Chemikalien zu minimieren, lag die Arbeitszeit bei 8-Stunden und nur selten, bei den in der Rüstungsindustrie sonst oft praktizierten, 12 Stunden. Wer in den Abteilungen arbeitete, die mit TNT zu tun hatten, wurde wöchentlich vom Werksarzt untersucht. Für diese „vorbildlich Gesundheitsvorsorge“ wurde die Herzberger Munitionsfabrik 1943 als NS-Musterbetrieb ausgezeichnet.

Im Werk arbeiteten viele polnische Fremdarbeiter und -arbeiterinnen, die ein weißes „P“ auf der Kleidung tragen mussten. Im Bereich des heutigen Kastanienplatzes existierte das umzäunte Lager „Aue“ für diese etwa 350 Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen. Das Lager durfte nicht verlassen werden. Täglich eskortierten Wachen die Arbeitskolonne in das DAG Sprengstoffwerk.

Das ehemaligen RAD-Stammlager am Pfingstanger war mit West-Arbeitern belegt. Zu diesem „Gemeinschaftslager der Fabrik Herzberg“ kurz Lager „Schloss“ genannt, gehörten sechs Wohnbaracken, ein massives Steingebäude sowie eine Wasch- und Latrinenbaracke. Neben der deutschen Belegschaft waren hier 45 Fremdarbeiter aus Frankreich und 50 Holländer, allesamt Studenten, untergebracht. Im Gegensatz zum Lager „Aue“ gab es hier keinen Zaun. Die Zwangsarbeiter konnten sich frei bewegen und durften das Lagergelände verlassen. Es gab sogar ein Fußballspiel zwischen Holländer und Franzosen auf dem Eichholzsportplatz. Auch wenn das äußerlich entspannter wirkte, konnte das nicht über die grundsätzliche Situation hinwegtäuschen. Ob aus dem Westen oder Osten, alle Arbeiterinnen und Arbeiter unterlagen dem gleichen harten Arbeitszwang.

Laut der offiziellen Liste des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.  kamen in Herzberg allein zwischen 1944 und 1945 insgesamt 41 Zwangsarbeiter ums Leben. Todesursachen waren zumeist Krankheiten und Unfälle. Es gab aber auch zwei Selbstmorde und Schussverletzungen.

 

Bombenkrieg

Bereits am 4. September 1940 kam es zu zwei Bombenangriffen der RAF (Royal Air Force) auf Herzberg. Ziel der ersten Bombenabwürfe war das Sägewerk Fritz Homann AG. Mehre Stabbrandbomben gingen nieder, dem schnell eingreifende Werkschutz gelang es den Brand zu löschen bevor größere Schäden entstanden.

Der zweite Angriff galt der sich noch im Bau befindliche Munitionsfabrik der DAG unterhalb des Schlossberges. Spreng- und Brandbomben fielen auf das Werksgelände und das Eichholz. Es gab aber nur unwesentlichen Materialschaden.

Wohl im selben Monat richtete die Luftwaffe auf dem Schlossberg einen Beobachtungsturm ein. An der Wegekreuzung Am Weinberg/Am Phillips entstand, zwischen den Bäumen versteckt, ein 25 Meter hoher, hölzerner Beobachtungsturm. Eine Telefonleitung führte vom Wachthaus am Fuß des Turmes direkt in den Keller des Rathauses, von wo Luftalarm ausgelöst werden konnte.

Das männliche Personal wurde ab 1943 weitgehend durch Wehrmachtshelferinnen, allgemein auch als Blitzmädchen bezeichnet, ersetzt. Mit Beginn des Krieges traten auch Frauen in den Dienst von Wehrmacht, Marine, Luftwaffe und Waffen-SS. Zunächst waren das ausschließlich Freiwillige. Auch später rekrutierten sich Wehrmachtshelferinnen zu mehr als der Hälfte aus Freiwilligen. Die übrigen waren Kriegshilfsdienstpflichtige. Am 29. Juli 1941 hatte Hitler mit dem Erlass über den „Reichsarbeitsdienst der weiblichen Jugend“ bestimmt, dass Frauen zusätzlich zum halben Jahr Reichsarbeitsdienst ein weiteres halbes Jahr Kriegshilfsdienst zu leisten hatten. Wehrmachtshelferinnen galten als Behelfspersonal, arbeiteten in der Verwaltung und zur Nachrichtenübermittlung. Sie wurden weder an Waffen ausgebildet noch in Kampfeinsätze geschickt. Auch die Frauen, die im Laufe des Krieges immer öfter als Flakhelferinnen Dienst taten, bedienten lediglich Horchgeräte und Scheinwerfer. Erst 1945 erlaubte die Wehrmacht den Frauen Handfeuerwaffen zur Selbstverteidigung.

Die mehr als eine halbe Millionen Helferinnen stellten eine wesentliche Verstärkung der NS-Kriegsmaschinerie dar. Leicht abwertend wurden sie auch Blitzmädchen genannt. Die Bezeichnung leitete sich vom Symbol der Nachrichtentruppe ab, dass die Frauen auf ihrer Uniform trugen.

 

Werbeplakat für Luftwaffenhelferinnen, Mindestalter war 17 Jahre.

 

Im Jahr 1995 erinnerte sich eine ehemalige Luftwaffenhelferin, die sich 1942 mit 17 Jahren freiwillig für die Luftwaffe gemeldet hatte und in Halle/Saale ausgebildet wurde. Die Sonderausbildung umfasste allgemeine Flugüberwachung, Flugzeugerkennung, das Meldewesen, Wetterkunde, u.a. Nach Abschluss der Ausbildung kam sie im August 1943 nach Herzberg.

Die jungen Frauen waren im Obergeschoß des westnördlichen Schlossgebäudes, Sieberflügel genannt, untergebracht. Schlafsaal, Aufenthaltsraum, Waschraum und Toiletten waren eingerichtet. Im Torhaus gab eine Küche zur Verpflegung der Luftwaffenhelferinnen.

Der Wach- und Beobachtungsdienst auf dem Schlossberg (Elsenblick) wurde rund um die Uhr geführt. Stets war der Beobachtungsturm mit vier Luftwaffenhelferinnen besetzt, zwei im Ausguck und zwei in Bereitschaft, dazu jeweils ein Wachführer, der 12 Stunden Dienst verrichtete. Die Beobachtungen aus der Luftüberwachung leitete der jeweilige Wachführer an die Leitstelle in Nordhausen weiter.

Den schlimmsten Bombenangriff auf Herzberg beobachtete man am 22. Februar 1944 vom Schlossberg aus. Gegen 13 Uhr wurde in 5.000 Meter Höhe ein Verband von 45 Maschinen der USAF (U.S. Air Force) ausgemacht und um 13:17 Uhr öffentliche Luftwarnung gegeben. Nachdem sich abzeichnete, dass die Stadt überflogen werden könnte, erfolgte 13:43 Uhr Luftalarm. Zu dieser Zeit griffen deutsche Jagdflugzeuge den Verband an. Ein letztes Aufbäumen im Luftkrieg, denn die Angriffe der viermotorigen „Fliegenden Festungen“ vom Typ Boeing B17 und B24 stießen bereits nicht mehr auf nennenswerte Gegenwehr der Flugabwehr oder deutscher Jagdflugzeuge. Ab März 1944 hatten die Alliierten die uneingeschränkte Luftherrschaft über Deutschland.

Aber ein Bomber aus dem US-Verband wurde angeschossen und musste seine Bomben im Notabwurf loswerden. Er warf sie aber nicht irgendwo in die Landschaft, sondern machte Herzberg als Ziel aus. Es war reiner Zufall. Um 13:55 Uhr öffneten sich die Bombenschächte und 12 Bomben von jeweils 250 Kilo fielen auf die Stadt. Genauer in die Wohnhäuser der Hauptstraße. Die Vorwarnzeit für die Bevölkerung war viel zu kurz, um Schutzräume zu erreichen und die Wirkung verheerend. Dazu eine Luftwaffenhelferin: „Ein Bombenflugzeug scherte plötzlich aus einem großen Bomberpulk aus und ließ die Bombenladung auf Herzberg fallen. Die Bomben explodierten mitten in der Stadt.“[14]

19 Einwohner starben, 16 waren schwer verletzt. Drei Häuser lagen vollständig in Trümmern, fünf wiesen schwere Beschädigungen auf und etliche leichtere Schäden. Der US-Bomber musste wenig später bei Göttingen notlanden.

Für alle „Gefallenen des Terrorangriffs“, wie es die Nazis nannten, wurde am 24. Februar eine gemeinsame, große Beisetzung inszeniert. Der Kreisleiter der NSDAP rief dazu auf und angeführt von der SA marschierte ein großer Demonstrationszug durch die Stadt zum Friedhof. Dort gab es heroische Reden der lokalen Nazi-Prominenz an den offenen Gräbern. Für Herzberg war die Bombardierung ein einschneidendes Ereignis und im gesamten Reichsgebiet hatte es bereits viele Städte schwer getroffen. Doch der bereits verlorene Krieg sollte noch mehr als ein Jahr weitergehen und auch in Herzberg Opfer fordern.

 

Luftwaffenhelferinnen im Herzberger Schlosshof.

 

Die Explosion der Munitionsfabrik

Am 4. April 1945 ereignete sich das schlimmste Explosionsunglück in der Geschichte Herzbergs, über dessen Ursache nach dem Krieg intensiv gestritten wurde. Die Firmenleitung gab an, dass Unglück sei die Folge einer Bombardierung durch ein alliiertes Flugzeug gewesen. Denselben Schluss legte ein Ermittlungsbericht der Staatsanwaltschaft Göttingen im Jahr 1948 nahe und auch die RAF hätte die Explosion gern für sich verbucht.

Dem widersprachen führende Mitarbeiter des Werkes. Für sie lag der Grund bei den neuartigen Sprengstoffgemischen, die wegen des Rohstoffmangels eingeführt werden mussten. Zwei Fremdarbeiter des Werkes sagten aus, das nach dem Öffnen von Ventilen Stichflamme hochschlugen, es zu kleineren Explosionen führten und sich daraufhin ein Brand ausgebreitet. Weitere Explosionen richteten zwar keine größeren Zerstörungen an, aber brennende Sprengstoffklumpen flogen auf das Dach der Versandhalle in der 8.000 Tellerminen lagerten. Durch die Hitze detonierten die Minen mit der Kraft von 40.000 Kilogramm Sprengstoff. Aus Sicherheitsgründen befanden sich die Sprengstoffbunker weit auf dem Werksgelände zerstreut und blieben unversehrt. Dort lagerten weitere 200 bis 300 Tonnen Sprengstoff, die im Fall ihrer Explosion ein noch größeres Inferno verursacht hätten. Zu den glücklichen Umständen zählte wohl auch, dass die Brände kurz vor 5 Uhr ausbrachen und sich die große Explosion gegen 6 Uhr ereignete.

29 Personen kamen ums Leben, etliche wurden schwer verletzt. Im Stadtgebiet zersprangen fast alle Fenster, Trümmer und Dachziegeln prasselten auf die Straßen, es bot sich ein Bild der Verwüstung. Die Druckwelle war so stark, dass selbst noch im vier Kilometer entfernten Lonau Fenster zu Bruch gingen und Türen eingedrückt wurden. Besonders heftig waren die Zerstörungen der Sprengstofffabrik, die Produktion konnte nicht mehr aufgenommen werden.

Auch die Luftwaffenhelferinnen im Schloss oberhalb des DAG-Rüstungswerkes überraschte die schwere Explosion am Morgen. Fenster und Türen flogen aus den Angeln, das Dach auf der Sieberseite war vollständig abgedeckt. Herumfliegende Trümmer verletzten eine Luftwaffenhelferin am Kopf. Die Frauen flüchteten durch einen gewaltigen Staub- und Aschewirbel aus dem Schloss.

Bereits am Vortag hatte Nordhausen ein Großangriff der britischen Royal Air Force getroffen. Am 4. April folgte ein zweiter schwerer Luftangriff und legte die Stadt vollständig in Schutt und Asche. Die Luftwaffen-Leitstelle Nordhausen war vernichtet deshalb wurde die Flugwache in Herzberg aufgegeben.

Die Trümmer in Herzberg waren nicht geräumt, da erfolgte ein schwerer Luftangriff auf die Stadt. Ziel der B-17-Bomber der U.S. Air Force war am 6. April das Fabrikgelände von Pleißner und der Bahnhof. Dort standen 12 Waggons mit Panzerfäusten und 80.000 Schuss Flak-Munition, die in die Luft gingen. Die Zerstörungen waren immens.

Der Himmel gehörte den Alliierten. An der Reichsstraße, heute Bundesstraße, zwischen Herzberg und Osterode wurde eine Kraftwagenkolonne von zehn Jagdflugzeugen angegriffen und zusammengeschossen. Jeden Tag kreisten Flugzeuge über Herzberg, die Gebäude mit Bordwaffen in Brand schossen. Es war schwierig die Brände einzudämmen, denn die Feuerwehr verfügte durch die Zerstörung der DAG nicht mehr über einsatzbereite Ausrüstung.

 

Angriffsziel Herzberg

Große Verteidigungsbemühungen scheint es im April 1945 in dem bereits vom Krieg gezeichneten Herzberg nicht gegeben zu haben. Auf Anordnung des, namentlich nicht bekannten, Kampfkommandanten wurden lediglich drei Straßensperren angelegt und die Sieberbrücke zur Sprengung vorbereitet.

Einige Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner zogen sich auch durch Herzberg immer mehr Wehrmachtseinheiten in den Harz zurück. Demoralisiert hofften viele, dass der Krieg endlich zu Ende ginge, doch kaum jemand handelte entsprechend. Man nahm sein Schicksal hin, machte weiter, gehorchte Befehlen.

In der Stadt fielen Strom und Gas aus, für die Zivilbevölkerung wurde die Situation immer unerträglicher. Zudem verbreiteten die Anrückenden US-Truppen Unruhe und Nervosität. Etliche Menschen packten das Notwendigste zusammen, um in die Wälder oder umliegenden Dörfer zu flüchten. Als am 9. April 1945 um 17 Uhr in Herzberg Feindalarm ausgelöst wurde, gab das für viele das Signal für den Aufbruch.

Um 19 Uhr meldeten Beobachtungsposten im Verstärkeramt auf dem Philipps, die Sichtung amerikanischer Panzer am Auekrug. Der große Gasthof in der Oderaue, einsam an der Reichsstraße 27 gelegen, befindet sich nur fünf Kilometer von Herzberg entfernt. Daraufhin wurde die Sieberbrücke gesprengt, doch dauerte es noch 24 Stunden, bis sich in der Stadt von Mund zu Mund verbreitete: „Die Amerikaner kommen!“.

Vorerst blieb der amerikanische Hauptstoß über den Auekrug aufgehalten. Denn südlich von Osterode versuchte die Wehrmacht hinter dem Gebirgszug des Rotenbergs an der Oder eine Verteidigungslinie zu improvisieren. Der Rotenberg ist ein Höhenzug von etwa 14 Kilometer Länge und bis zwei Kilometer breite. Auf der nördlichen Flussseite finden sich die Orte Wulften, Hattorf und das Gehöft/Gasthof Auekrug. Pöhlde liegt südwestlich auf der südlichen Seite. Von Pöhlde bis Wulften trennt der Rotenberg das Eichsfeld fast in gerader Linie vom Harzvorland. Dort fällt der Höhenzug nach Nordosten steil zum Pöhlder Becken ab, einer einige Kilometer breiten, flachen Landschaft, in der, von Auengelände umgeben, die Oder fließt.

Um diese natürliche Panzersperre zu überwinden, setzte die US-Army ihren Angriff an drei Stellen an. An den Flanken bei Wulften und Pöhlde und in der Mitte über den Auekrug. Hier verlief die R27, heute die die B27, direkt von Gieboldehausen nach Herzberg; wobei der damalige Straßenverlauf in Serpentinen über den Rotenberg führte.

Auf deutscher Seite verfügte man allerdings über keine vollwertigen Kampfverbände und überhaupt keine Luftwaffe mehr. Zur Verfügung stand lediglich die in Rückzugskämpfen stark dezimierte und nur noch dem Namen nach existierenden 326. Volksgrenadier-Division.

Volksgrenadier-Divisionen (VGK) waren Infanterie-Divisionen, die nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 aufgestellt wurden. Nach dem Attentat ernannte Hitler den Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, zum Oberbefehlshaber des Ersatzheeres. Die vordringliche Aufgabe Himmlers bestand darin, die schweren Verluste an der Invasionsfront in der Normandie und durch den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront auszugleichen. Anstelle der bisherigen Infanterie-Divisionen stellte er Volksgrenadier-Divisionen auf. Truppenrechtlich und disziplinarisch unterstanden sie der SS.

Mit der Bezeichnung „Volks“ sollte die Verbundenheit der Wehrmacht mit dem deutschen Volk herausgestellt werden. Im Übrigen gedachte man mit harten disziplinarischen Maßnahmen die Zuverlässigkeit der Volksgrenadier-Divisionen zu erreicht. Wichtiger wäre die militärische Ausbildung gewesen, die blieb jedoch mangelhaft, weshalb die Volksgrenadier-Divisionen schwere Verluste erlitten.

Zunächst bestanden diese Divisionen aus regulären Einheiten, in den letzten Monaten des Krieges setzen sie sich aber auch aus Volkssturmeinheiten, Alarmverbänden, Versprengten und Soldaten aller Waffengattungen zusammen. Auch wurden die Soldaten immer jünger. Ab Februar 1945 wurde bereits der Jahrgang 1928 und einen Monat später der Jahrgang 1929 zum Wehrdienst einberufen.

Unter dem Kommando von Generalmajor Dr. phil. Erwin Kaschner erreichten die Reste der 326. Volksgrenadier-Division am 9. April die Oder. Der Verband verfügte noch über vier Tiger-Panzer sowie einige Artillerie- und Flak-Geschütze. Am Nordufer der Oder, beidseitig des Dorfes Hattorf, richtete sich die Truppe zur Verteidigung ein.

Auf ihrer rechten Flanke, in Richtung Osterode, schlossen sich die Reste der SS-Panzer-Brigade Westfalen an, links lag die ebenfalls bis auf Restverbänden zerschlagene 26. VGD, mit Gefechtsstand in Hörden.

Auf der anderen Flussseite stieß die Kampgruppe A, der 3rd Armored Division (Spearhead), unter Oberstleuntnant Boles, am Nachmittag des 10. April von Gieboldehausen über den Rotenberg vor. Attack target 26 (Angriffsziel 26), wie die US-Army Herzberg nannte, sollte unter Kontrolle gebracht werden. Dazu musste Boles mit seinen Panzern die Oderbrücke am Auekrug überqueren. Kurz bevor die Kampfgruppe den Übergang erreichte, flog das Bauwerk in die Luft. Die Brücke war samt der Endauflager zerstört, eine provisorische Reparatur nicht möglich. Boles musste eine Kriegsbrücke bauen lassen, der Brückenschlag konnte erst 1:30 Uhr beginnen und würde acht Stunden dauern.

Das gab der 326. VGD, die ursprünglich das Nordufer verteidigen sollte, Gelegenheit, sich ohne Feindberührung in der Nacht nach Hörden und Herzberg zurückzuziehen. Die Einheiten 26. VGD, die sich auf der linken Flanke anschloss, begann sich bereits kurz vorher aus ihren Stellungen zu lösen.

 

 

Keine vier Kilometer vom Auekrug entfernt liegt Pöhlde. Als sich US-Panzer dem Ort am 10. April auf einen Kilometer genährt hatten, machte sich ein dort befindlicher deutscher Tigerpanzer auf den Weg nach Herzberg. Es blieb eine kleine Nachhut der 26. VGD, die kurz mit einem Maschinengewehr auf die vorwärtsdrängenden US-Truppen schoss, um sich dann zu verdrücken. Eine im Ort stationierte Nebeltruppe der Wehrmacht blieb und ging widerstandslos in Gefangenschaft.[15]

Gegen 19 Uhr erreichten die ersten amerikanischen Panzer, aus Richtung Pöhlde, dass Herzberger Bahnhofsviertel. Von dort rollten sie, gefolgt von Infanterie, zum Schlossberg und durch die Haupt- und Sieberstraße in die Innenstadt. Gegen 22.30 Uhr war Herzberg vollends in die Frontlinie einbezogen.

 

Ärmelabzeichen der 3rd Armored Division (Spearhead).

 

Am Marktplatz wurden die verbliebenen Polizeibeamten von US-Soldaten gefangen genommen und im Gasthaus Zum Rathaus am Markt verhört. Außerdem gerieten deutsche Soldaten in der Hindenburgstraße in Kriegsgefangenschaft. Vorsichtig rückten die US-Einheiten weiter vor. Ein am Rathaus stehender amerikanischer Panzer schoss in die Rathaus- und Hindenburgstraße. Dann fuhren die Panzer durch die Rathaus- und Sägemühlenstraße weiter. Ein Panzer, der durch die Hindenburgstraße fuhr, traf am Osteingang der Stadt, aus Richtung Papierfabrik/Siebertal, auf heftigen deutschen Widerstand. Verluste wollten die Amerikaner vermeiden, es galt erst einmal die unübersichtliche Lage zu klären. Teilweise war die Stadt von US-Truppen besetzt. Aber gab es auch noch deutsche Einheiten deren Stärke nicht bekannt war. Mit Hilfe, der in den nächsten Stunden anrückenden US-Verstärkung, würde es kein Problem sein, Herzberg vollständige unter amerikanische Kontrolle zu bringen. Bis zum Morgen wurde der Vormarsch eingestellt.

Am 11. April, kurz vor 11 Uhr konnten das, durch Kampfgruppen der 104th Infantry Division (Timberwolfes), verstärkte US-Panzer-Bataillon von Oberstleutnant Boles seinen Vormarsch über die Kriegsbrücke am Auekrug fortsetzen. Abgesehen von einem kurzen Feuergefecht mit einem deutschen 10,5 cm Geschütz und einem Volkssturm-Trupp, trafen die Amerikaner auf keinen Widerstand. Sie ließen sich auch auf keinen Kampf ein und umgingen die deutschen Verteidiger, die sich daraufhin in Richtung Herzberg zurückzogen. Boles erreichte mit 20 Shermans gegen 19 Uhr den Stadtrand und konnte mir dem Fernglas drei deutsche Panzer ausmachen. Der Oberstleutnant forderte Luftunterstützung an.

Bei den deutschen Panzern handelte es sich um die letzten drei Tiger der 326. VGD. Es gelang ihnen, wohl über die Juesholz- und Hindenburgstraße, Richtung Sieber zu entkommen. Hier deckten deutsche Einheiten den Rückzug.

 

Widerstandsnest

Schwere Kämpfe fanden in Herzberg nicht statt, es gab auch kaum Verluste auf deutscher Seite. Abgesehen von einer Ausnahme, das Haus Hindenburgstraße 66 an der Einmündung der Juesholzstraße, von wo aus die Hauptausfallstraße in Richtung Sieber kontrollieren werden konnte. Dort hatte sich eine kleine Gruppe von Wehrmachtssoldaten verschanzt, die erbitterten Widerstand leistete.

Man sollte berücksichtigen, das in Kriegsgefangenschaft zu gelangen, am besten in großen Verbänden funktioniert. Bei kleinen Kampfgruppen oder ganz allein ist das schon schwieriger und hat nicht selten mit Glück zu tun. Im April 1945 gab es für Deutsche einiges zu beachten. Man sollte möglichst unbewaffnet sein, keine SS-Uniform tragen oder einen Fallschirmjägerhelm. Wer glaubte, noch kurz vor Kriegsschluss für das Nazi-Reich Heldentaten vollbringen zu müssen, dem Feind Verluste zufügte, um sich dann mit leer geschossenem Magazin ergeben zu können, war im Irrtum.

Von dem, was sich in der Hindenburgstraße 66 abspielte, gibt es keine Augenzeugenberichte.  Laut Faktenlage lässt sich folgendes Geschehen rekonstruieren.

Die Timberwölfe hatten Probleme an das Haus heranzukommen. Es gab Verluste, mindestens sechs US-Soldaten sollen gefallen und verwundet worden sein. Kurz vor Kriegsende noch Kameraden zu verlieren, erbitterte die US-Soldaten. Aber erst nachdem sie im gegenüberliegenden Haus, Hindenburgstraße 64, eine Stellung besetzten konnten, gelang es das Feuer auf das deutsche Widerstandsnest wirkungsvoll zu eröffnen. Ein Kugelhagel zwang die Wehrmachtssoldaten in die Defensive, Handgranaten flogen und das Haus konnte gestürmt werden. Für die Deutschen gab es kein Entrinnen, im Keller kam es zum Nahkampf. Sechs Wehrmachtssoldaten, deutsche Soldaten, die ganze Gruppe, wurde niedergemacht. Ihre sterblichen Überreste befinden sich auf Kriegsgräberstätte des Herzberger Friedhof. Es sind die einzigen Wehrmachtssoldaten, die in den Kämpfen um die Stadt gefallen sind. Abgesehen von einem Major, dessen Sterbedatum aber mit 12. April angegeben ist. An diesem Tag war Herzberg bereits in amerikanischer Hand. Gegen Mittag zog das Panzer Bataillon der 3. US-Panzer-Division in Richtung Elbe ab und die Kampfgruppe der 104th Infantry Division (Timberwolfes) wurde von vom 16 Infanterie Regiment der 1st Infantry Division abgelöst (The Big Red One).

Während dessen kehrte viele, die mit Sack und Pack in den Wald gezogen waren, wieder in die Stadt zurück. Für die Zivilbevölkerung war nun zwar der Krieg, aber noch nicht der Schrecken beendet. In den Tagen nach dem Einmarsch setzten die Plünderungen von Geschäften und Privatwohnungen durch ausländische Arbeiter ein. In der ersten Zeit unternahm die amerikanische Besatzung nichts dagegen. Die deutschen Polizeibeamten, die wieder auf freiem Fuß waren, konnten nichts ausrichten. Sie durften keine Waffen tragen und auch für sie galt eine verhängte nächtliche Ausgangssperre.

Nach Ende der Kampfhandlungen wurde der deutschstämmige Captain Backhaus als Stadtkommandant eingesetzt, der sich bemühte erste Kriegsschäden zu beseitigen und eine funktionierende Versorgung und Verwaltung in Gang zu bringen. Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörte es, den Heimtransport der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter zu organisieren.

Am Ende des Krieges waren in Herzberg 2.000 Ausländer und Ausländerinnen, meist ehemalige Zwangsarbeiter_innen. Dazu kamen noch etwa 1.000 Evakuierte[16] und vereinzelt schon Flüchtlinge, während der große Vertrieben Strom aus den deutschen Ostgebieten erst später einsetzte. In Herzberg, dessen Einwohnerzahl im April 1945 bei 6.250 lag, mussten also zusätzlich 3.000 Menschen mehr versorgt werden.

 

Lonau

Nicht in der Stadt Herzberg, sondern bei den beiden kleinen Bergdörfern Lonau und Sieber, stellten sich Wehrmacht und Waffen-SS dem US-Vormarsch entgegen.

In Lonau befand sich eine ziemlich starke deutsche Besatzung, bestehend aus Artillerie, Infanterie und Waffen-SS. Im Lonauer Hof lag sehr wahrscheinlich kurzzeitig Generalmajor Kaschner mit seinem Divisionsstab. Er war über den Bergrücken Auf dem Acker mit den Überresten der 326. VGD zurückgegangen. Ein Bataillon Infanterie wurde sogar aus Lonau für die Verteidigung der Bahnlinie am Mühlenberg herausgezogen.

Ab dem 5. April war die Schule mit einem Feldlazarett belegt, in dem auch amerikanische Soldaten versorgt wurden. Große weiße Laken mit dem Roten lagen am Mittelberg aus und machten das Lazarett für alliierte Flieger kenntlich. Das rote Kreuz wurde respektiert. Am 12. April verlegte das Lazarett, lediglich ein paar Schwerverwundete blieben im Schulkeller zurück.

Beim Annähern der amerikanischen Einheiten, musste die Belegschaft des Forstamtes in der Nacht zum 12. April aus großen Papeln und Ahornbäumen Panzersperren errichten. Eine unsinnige Arbeit. Am Tag schoss amerikanische Artillerie die Sperren mit ein paar gezielten Schüssen zusammen.

 

 

Die rote 1, das Abzeichen der legendären 1st Infantry Division (The Big Red One). Was seltener zur Sprache kommt, sind die Vergewaltigungen durch Angehörigen dieser Division.

 

Gegen Mittag schlugen Granaten im Dorf ein. Es handelte sich um 10-cm-Sprengranaten, die zwar einige Zerstörung anrichteten aber zumindest keine Brände verursachten. Die Bewohner flüchteten sich in die festen Gewölbekeller und hörten über sich die detonierenden Granaten, das klirrten der Fensterscheiben und das Scheppern der Dachziegeln, die Druckwellen von den Dächern rissen. Am stärksten war der Bereich um die Kirche betroffen. Die Kirche selbst blieb zwar unbeschädigt aber die Schule und die Häuser rings herum bekamen einiges ab. Ein 16-jähriger starb durch einen Splitter. Am Nachmittag gegen 15 Uhr steigerte sich der Beschuss, dann erreichte US-Infanterie das Dorf. Es kam zum Gefecht. Ein Teil der amerikanischen Soldaten näherte sich über den Höhenzug des Langfast, die deutschen Einheiten waren so von zwei Seiten bedrängt. Sechs gefallene deutsche Soldaten wurden später im Mitteldorf gefunden. Endlich stießen US-Panzer vor, fuhren feuernd auf den Schulhof und schlugen die deutschen Einheiten in die Flucht. Zwei deutsche Tigerpanzer deckten im Kirchtal deren Rückzug.

Auch im Mariental gingen die Amerikaner vor, durchsuchten jedes Haus und jeden Winkel. Einige versteckte deutsche Wehrmachtssoldaten wurden gefangen genommen. Es kam aber auch zu kleineren Diebstählen und Vergewaltigungen.[17]

Ein weiteres vordringen in den Wald unterblieb, denn hier leisteten deutsche Einheiten erheblichen Widerstand. Vom Höhenzug Acker, in der Nähe des Jagdhauses, feuerten 28 deutsche Geschütze auf die vordringen Amerikaner. Die Antworteten ihrerseits mit Artilleriesalven vom Mühlenberg, das Duell ging die ganze Nacht über Lonau hinweg. Nur mit Glück entging das Dorf der Zerstörung. Auch so verloren rund 50 Häuser ihre Dächer und Fenster.

Am Morgen des 13. April kam es erneut zu harten Kämpfen am Eingang vom Lonauer Tal. Deutsche Einheiten waren noch in den Wäldern und brachten alles zum Einsatz, was sie aufbieten konnten. Ein schwerer deutscher Panzer feuerte in das Tal hinunter. Die US-Truppen schossen teilweise den Wald mit Phosphorgranaten in Brand, um die deutschen Soldaten aus ihren Stellungen zu treiben. Wer an den umkämpften Stellen Wehrmachtsoldaten versteckte, dessen Haus wurde niedergebrannt. In diesen Kämpfen, die am Nachmittag endeten, fielen 15 amerikanische und sieben deutsche Soldaten.

Aufgrund des Widerstandes galt Lonau den Amerikaner als Nazi-Dorf. Erneut wurden alle Häuser mehrfach durchsucht deren Bewohner unter Hausarrest standen. An den Wiesenhängen standen Wachtposten, die feuerten, wenn sich jemand auf dem Hof sehen ließ. Von ihrer Verpflegung, welche die Amerikaner in Hülle und Fülle hatten, gaben sie an die Lonauer Bevölkerung nichts ab, auch wenn Frauen und Kinder darum bettelten. Eher wurden Lebensmittel vernichtet als abgegeben. Es brauchte einige Zeit, bis sich diese Verhältnisse normalisierten.

 

Ein Unterscharführer (Unteroffizier) der Waffen-SS im Jahr 1945. Bei den Kämpfen im Harz 1945 spielten Splitterverbände der Waffen-SS oft eine Rolle. Ein Beispiel gaben die Gefechte um Lonau.

 

Sieber

Während die Straßen in Lonau im Wald enden, führte durch Sieber die L521. Im April 1945 eine wichtige Rückzugsstraße in den Harz, über die sich lange Kolonnen von Fahrzeugen der Wehrmacht, der NSDAP und Soldaten zu Fuß in Richtung Gebirge wälzten.

Bislang war das Dorf vom Krieg verschont geblieben. Abgesehen von einem US-Bomber der am 11. Januar 1944 in der Nähe von Sieber abgeschossen und dessen sechs Besatzungsmitglieder auf dem Friedhof beerdigt worden waren.[18]

Dann hatte eine Sanitätseinheit vom 2. bis 4. April kurzeitig ein Lazarett im Hotel Krone mit 30 Verwundeten eingerichtet und einer Einheit der Organisation Todt (Bautruppe der Nationalsozialisten) nahm Quartier. Mehr war nicht passiert.

Doch ab dem 9. April überschlugen sich die Ereignisse. Nachdem ein Aufklärer eine große Wehrmachtskolonne erspähte, die im Ort rastete, flogen britische Bomber einen Angriff. Vier Gebäude trafen die Bomben, ein Ehepaar aus Hannover fand in den Trümmern den Tod und die Gas-, Wasser- und Stromleitungen waren zerstört, die gesamte Versorgung brach zusammen

Kurz darauf bezog der Kommandeur der 26. Volksgrenadier-Division, Generalmajor Heinz Kokott, Quartier im Ort. Die Aufstellung der Division, die sich zumeist aus Marine- und Luftwaffenpersonal zusammensetzte, war erst im September/Oktober 1944 auf dem Truppenübungsplatz Warthelager bei Posen erfolgt. Bereits im November 1944 wurde die Einheit an der Westfront im Bereich von Luxemburg eingesetzt. Es folgte der Einsatz bei der Ardennenoffensive bei der die 26. VGD erhebliche Verluste erlitt. Ihre Kampfstärke sank auf rund 1.780 Mann. Die Sollstärke einer Wehrmachts-Division lag bei 10.000 bis 30.000 Soldaten. Stark dezimiert operierte die Division weiterhin im Februar 1945 im Kampfgebiet bei Prüm. Mitte April 1945 war eine letzte Auffrischung durch die Auflösung der Infanterie-Division Donau geplant. Einer Einheit die sich vor allem aus jungen Bayern und Ostmärkern (Österreicher) zusammensetzte und die am 23. März 1945 im Zuge der 34. Aufstellungswelle entstanden war. Die kaum ausgebildeten Soldaten sollten am 12. April in die 26. Volksgrenadier-Division eingegliedert werden. Weiter verstärkt durch einige unterstellte Versprengte Gruppen, hatte Generalmajor Heinz Kokott den Befehl mit der 26. VGD den Vormarsch der US-Armee im Sieber Tal stoppen. Strategisch hatte Sieber für die Verteidigung den Vorteil, dass es in einem eng eingeschnittenen, bewaldeten Tal liegt.

 

Armbinde des Volkssturms, oft das einzige Uniformteil. Der Volkssturm unterstand nicht der Befehlsgewalt der Wehrmacht, sondern der NSDAP. Nur in Ausnahmefällen, wie in der Endphase des Krieges bei Volksgrenadier-Divisionen, konnte es sich anders verhalten. Auf dem Soldatenfriedhof in Sieber liegt ein Volkssturmmann begraben. Albert Fechner, geb. am 19. Januar 1907 in Göttingen, gefallen am 13. April in Sieber, Grab 407.

 

Das es zum Kampf kommen würde, versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Etliche Zivilisten vergruben Lebensmittel und Vorräte, bevor sie in den Wäldern der Umgebung Schutz suchten. Denn kaum war die Soldaten der ehemalige Infanterie-Division Donau am 12. April in die 26. VGD eingegliedert, da begann am Nachmittag der Artilleriebeschuss und ein Tieffliegerangriff mit Bordwaffen auf das Hotel Krone. Deutsche Soldaten und Einwohner, die nicht in die Wälder geflohen waren, suchten in Hauskellern Schutz. Die meisten Granaten schlugen außerhalb auf einer Wiese ein.

Aber das war nur die Overtüre. Am 13. April 1945 griff das 16 Infantry Regiment der 1st Infantry Division nach gezielter Artillerievorbereitung die 26. Volksgrenadier-Division bei Sieber frontal an. Beschreibungen des Kampfes sind bislang nicht bekannt. Es scheint, dass gut liegende Artilleriesalven die 26. VGD noch in ihrer Bereitstellung erfassten und sie dann, nach kurzem heftigem Kampf, geschlagen worden ist. Mindestens ein Königstiger, der schwerste in Serie gebaute deutsche Panzer, wurde abgeschossen. Die Reste der deutschen Truppen zogen sich in Richtung St. Andreasberg zurück, wo der nächste blutige Akt des Krieges geschrieben wurde.

Im Verlauf des 13. April besetzen die Amerikaner Sieber, ohne auf weiteren Widerstand zu stoßen. Sie suchen nach Versprengten und versteckten deutsche Soldaten und nahmen sie gefangen. Am Nachmittag rückten die amerikanischen Panzer in Richtung Knollen ab, um durch das Luttertal nach Bad Lauterberg zu gelangen. Sie eilten ihren Kameraden zu Hilfe und wollten die deutschen Fallschirmjäger aufrollen, die dort immer noch für Führer und Reich kämpften.

Als die in die Wälder geflüchteten Einwohner nach Sieber zurückkehren, fanden sie ihre Häuser aufgebrochen vor. Schränke und Schubladen waren durchwühlt, die Amerikaner hatten nach Fotoapparaten, Radios, Ferngläsern und Alkohol gesucht. Auch andere Wertsachen fanden neue Besitzer. Alles keine Verbrechen – schlimm war nur die Vergewaltigung einer evakuierten Frau.[19]

43 Tote fanden auf der Kriegsgräberstätte Sieber ihre letzte Ruhe. 38 Soldaten und fünf Zivilisten. Es finden sich Dienstgrade vom Oberstleutnant bis zum Grenadier und nahezu alle Truppengattungen sowie Waffen-SS. Eine typische Mischung für die letzten Kriegsmonate, ebenso wie es die vielen sehr jungen Gefallenen der Volksgrenadier-Division. Von ihnen gehörten 13 zu den Jahrgängen 1926/27, waren also zum Zeitpunkt ihres Todes 17 oder 18 Jahre alt. Der Jüngste, Grenadier Otto Müller, geboren am 31. Mai 1928 in Arnstadt (Thüringen), verlor sein Leben im Alter von 16 Jahren.

Mit dem Gefecht bei Sieber endeten die Kämpfe um Herzberg und seiner heutigen Stadtteile, die insgesamt drei Tage gedauert hatten.

 

Quellen:

Bornemann, Manfred: Schicksalstage im Harz. Das Geschehen im April 1945, Clausthal-Zellerfeld, 19804.

Bornemann, Manfred: Die letzten Tage der Festung Harz. Das Geschehen im April 1945, Clausthal-Zellerfeld, 19802.

 

Hierl, Konstantin: Der Arbeitsdienst, die Erziehungsschule zum deutschen Sozialismus, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden. Bd. 2. München 1943. S. 96.

 

Kreisausschuss des Kreises Osterode am Harz (Hg): Not im Kreis Osterode, Osterode am Harz, April 1930.

 

Matwijow, Klaus: 1933 – 1945 „Spurensuche“ in Herzberg am Harz: Geiger-Verlag, 2009.

 

Saft, Ulrich: Krieg in der Heimat … bis zum bitteren Ende im Harz, Walsrode, 1994.

Zeitungsartikel

Der rote Sender. Zeitung der Werktätigen Bevölkerung Lauterbergs, Nr.: 5, Sonnabend den 3. September, 1. Jahrgang (1932).

›Das waren Herzbergs schwerste Tage. Kriegsereignisse 1945 im Südharz – vor 10 Jahren wurde Herzberg besetzt‹. In: Kreiszeitung, 12.4.1955. Stadtarchiv Herzberg, Signatur: H 8442

Zietz, Rudolf: ›Flugwache auf dem Schloßberg in Herzberg. Ihr Dienst endete vor 50 Jahren‹. In: Harzkurier, 10.4.1995.

›Sprengstoff-Füllstelle der DAG im Herzberger Pfingstanger‹. In: www.derHarz.de,7. September 2021, https://derharz.de/sprengstoff-fuellstelle-der-dag-im-herzberger-pfingstanger/ (abgerufen, 14.6.2023)

›Bericht über die Sitzung des Fleckenkollegien am Montag, 29. März 1920‹. In: Bad Lauterberger Wochenblatt, 30. März 1920.

›Auf einem Schweinewagen durch Herzberg geführt‹. In: Kreis Zeitung, Dienstag, 17. Mai 1949, S.5.

›Flugwache auf dem Schloßberg in Herzberg‹. In Harzkurier, 10.4.1995

›Die größte Fernwasserleitung der Erde‹. Hallische Nachrichten: General-Anzeiger für Halle und die Provinz Sachsen vom Donnerstag, 23. November 1933, https://www.archiv-vegelahn.de/index.php/osterode-am-harz/item/14573-die-groesste-fernwasserleitung-der-erde, (abgerufen am 10.6.2023).

›Jedes Jahr im Herbst … treffen sich ehemalige RAD-Angehörige‹. In: Harzkurier, 22.10.1978

[1] Not im Kreis Osterode, Kreisausschuss Osterode, April 1930, S.7

[2] Bericht über die Sitzung des Fleckenkollegien am Montag, 29. März 1920. In: Bad Lauterberger Wochenblatt, 30. März 1920.

[3] Auf dem Kriegerdenkmal am kleinen Juessee in Herzberg sind ein Ernst Peix, gefallen am 31.7.1917 und ein Heinrich Peix, gefallen am 20.1918 aufgelistet.

[4] Der rote Sender, Nr.: 5, Sonnabend den 3. September, 1. Jahrgang (1932).

[5] Zit. in.: Matwijow, Klaus: 1933 – 1945 „Spurensuche“ in Herzberg am Harz, Bericht zu der Anklage gegen den Kaufmann Wilhelm H. in Herzberg Harz, S. 27.

[6] Ebenda, S.28.

[7] ›Bericht zu der Anklage gegen den Kaufmann Wilhelm H. in Herzberg/Harz‹, Zit. in: Matwijow, Klaus: 1933 – 1945 „Spurensuche“ in Herzberg am Harz, S. 27.

[8] Herzberger Kreis-Zeitung, Samstag, den 9. Juni 1934.

[9] Der Bürgermeister als Ortspolizeibehörde, Tgb.Nr.P. 1222, Herzberg (Harz), den 11. Juni 1934.

[10] ›Auf einem Schweinewagen durch Herzberg geführt‹. In: Kreis Zeitung, Dienstag, 17. Mai 1949, S.5.

[11] Hierl, Konstantin: Der Arbeitsdienst, die Erziehungsschule zum deutschen Sozialismus, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden. Bd. 2. München 1943. S. 96.

[12] ›Die größte Fernwasserleitung der Erde‹. Hallische Nachrichten : General-Anzeiger für Halle und die Provinz Sachsen vom Donnerstag, 23. November 1933, https://www.archiv-vegelahn.de/index.php/osterode-am-harz/item/14573-die-groesste-fernwasserleitung-der-erde, (abgerufen am 10.6.2023).

 

[13] Matwijow, Klaus: 1933 – 1945 „Spurensuche“ in Herzberg am Harz, S.51

[14] ›Flugwache auf dem Schloßberg in Herzberg‹. In Harzkurier, 10.4.1995

[15] Lehmann, Werner: ›Das Kriegsende 1945‹. In Matwijow, Klaus: 1933 – 1945 „Spurensuche“ in Herzberg am Harz, S.133 f.

[16] ›Das waren Herzbergs schwerste Tage. Kriegsereignisse 1945 im Südharz – vor 10 Jahren wurde Herzberg besetzt‹. In: Kreiszeitung, 12.4.1955.

[17] Füllgrabe, Ernst ›Lonau am 12, und 13. April 1945‹. In: Matwijow, Klaus: 1933 – 1945. „Spurensuche“ in Herzberg am Harz, Horb am Neckar, 2009, S. 140.

[18] Die Toten wurden 1946 auf den US-amerikanischen Soldatenfriedhof in den Ardennen (Ardennes American Cemetery) südlich von Lüttich umgebettet.

 

[19] Hermann, Otto ›Einmarsch der US-Truppen und Kriegsende‹. In: Matwijow, Klaus: 1933 – 1945. „Spurensuche“ in Herzberg am Harz, Horb am Neckar, 2009, S. 124.

End the glorification of German colonial crimes

Bernd Langer, Script version 20.4.2022

End the glorification of German colonial crimes and the cultivation of fascist ideas

The Anti-Fascist Working Group Bad Lauterberg and its Anti-Colonial Commitment

The Wißmann monument has stood in Bad Lauterberg’s spa gardens since 1908. It has survived two world wars without being melted down. That says something about the importance attached to it. Apart from that, it is indeed a work of art in which the sculptor Johannes Götz has skillfully combined various aspects. Wißmann holds a map on his knee and looks into the distance under a pith helmet. His long saber, a gift from the Sultan of Zanzibar, hangs defiantly at his side; epaulets indicating his military rank. Looking at the bronze man, the viewer is reminded of a military commander as well as a pioneer advancing into unexplored territory. The designer of the large spa park, in which the monument is integrated, also understood something of his craft. Bad Lauterberg does not have a more prominent place to offer. Next to the prestigious Kurhaus, in whose hall major social events take place, is the park. In summer, spa guests enjoy the sun on the large terrace. Apart from the twittering of birds and the chattering of ducks, the only sound to be heard is the quiet splashing of the adjacent Oder River. A place of relaxation, surrounded by shady trees, flowerbeds and well-tended greenery. In front of the terrace is a small open space with benches and a duck pond with a water fountain. The benches are aligned to a concert shell, a few meters away from it, vis-à-vis the Kurhaus, stands the approx. 2.20 meter tall bronze Wißmann on a large erratic boulder at the duck pond. Although the monument, all in all, should measure 4.50 meters, it does not tower above its surroundings. Rather, the bronze man blends into a background of tall trees. There is no more popular photo motif in the idyllic ambience of the spa park. Thousands of corresponding picture postcards have been sent all over the world for over a hundred years. All this serves tourism, which is an important economic factor of the Kneipp spa. If the bronze man were removed, the town would not only be deprived of its landmark, but the entire concept of the spa park would be thrown out of balance. One would have to replace the monument with something else. As long as this decision-making process has not yet matured, the time is occasionally bridged by small acts of sabotage. In the 1980s, for example, unknown persons decorated the buildings of the spa park with political slogans, including spray-painting the question „Why the best for the guests?“ on the spa house in large letters.
Most of all, however, tempers flare when it comes to criticism of Hermann von Wißmannn; after all, this is a matter of politics and historical interpretation. When the Anti-Fascist Working Group Bad Lauterberg organizes its demonstration against the Wißmann cult and the Schutztrupp meeting taking place at the site in October 1982, it is met with broad social rejection and leads to a spectacle of a special kind. About 120 people form a demonstration procession, which is curiously observed and resented by 10 times the number of onlookers. Behind many curtains stand locals, others are bolder, leaning out of the shutters or lining the demonstration route. Occasionally there is shouting from the ranks of the onlookers, who remain at a distance and rather form a threatening backdrop. As a demonstrator, you feel like you’re in between the gauntlet and the bystander. Much has changed since that time. Today, society is looking for a different way of dealing with the colonial past. It is remarkable, for example, how the city is responding to criticism from some civil society groups about the local Wissmann representation in 2020. With almost breathtaking speed, the commemorative plaque of the Schutztruppenverband, which had stood on the gravestone of his mother and sister in the mountain cemetery since 1971, is disappearing. Likewise, the additional plaque of the tradition association at the Wißmann memorial is dismantled and replaced by a large information board. The text is debatable, but such measures would have been unthinkable just a few years ago.

Zone border area

The first ideas for founding an anti-fascist working group came in 1977, with the new city youth worker playing a role in getting the youth center movement going. He is close to the DKP. In addition, some communist trainee teachers from Göttingen complete their state training at the Cooperative Comprehensive School. Officially, however, no one is allowed to know that the future teachers are organized in the KB or that the city youth worker is connected to the DKP, because it is the time of the Radikalenerlasses and the Berufsverbote.
Then there are a few older students, trainees, and young workers who do not agree with the political conditions. A large part of the group actually consists of bio-german working-class youth, a milieu that can no longer be found today. Just as the nearby border fence to the GDR. Bad Lauterberg is located in the border zone, there are only three directions on the compass. The initial spark for the founding of the working group was an international neo-Nazi meeting that took place in neighboring Scharzfeld at Pentecost 1978 and against which the Göttingen public prosecutor’s office initiated a large-scale raid. Even television reports on the police action. At that time an extraordinary thing. At the beginning we call ourselves antifascist working group Lauterberg, because the „Bad“ seems too bourgeois to us. Besides, we come only partly from Bad Lauterberg, most of us come from the villages in the surrounding area. Mainly from Barbis but also from Bartolfelde, Osterhagen and Scharzfeld. Places which all lie at the Harz and not, like Bad Lauterberg, in the Harz. The name antifascist working group Bad Lauterberg creeps in only gradually.
In addition to the topic of neo-Nazis, the reappraisal of the Nazi past is one of our focal points. Bad Lauterberg was once a communist stronghold, at least four anti-fascists were killed. The old Fritz Ließmann, born in 1906, who was already a communist before 1933 and a member of the DKP and VVN until the end of his life, works in the working group. He dies after a short, serious illness at the end of 1979. Fritz is a lonely exception, especially in terms of age. With their 25 to 30 years, the two trainee teachers from Göttingen and the city youth worker are already among the older ones. The city youth worker loses his job in 1980 and moves away, the trainee teachers complete their training and goes to Bremen. Fluctuation remains a constant phenomenon in the working group. When things are going well, activists are in the group for two to three years. The composition and size of the group changes accordingly. At the beginning there are about ten people, in the meantime we grow to 20. At one group meeting, 35 people are gathered, which is a one-time exception and is therefore counted separately. A core of five to ten people is really actively involved.
We are an undogmatic group, different currents work together, otherwise it is not possible in the small city. There are members of the DKP and the VVN, the KB is involved through the student teachers from Göttingen, there are also Jusos, at least one fully convinced anarchist and young people from the working-class milieu. I count myself among the autonomists. Politically, therefore, it is a colorful mixture that reflects the radical leftist currents of the time. In this respect, ideological disputes can also be found in the working group. Our meeting place is every Friday, at 19:30, in the town house. Beside events we appear above all with our INFO. An irregularly appearing pamphlet, with an imprint in accordance with the regulations, which even notes the number of copies. Most of the time it is 1000 copies. Between 1978 and May 1985, ten INFOs were published, as well as several flyers on special topics.
When a new INFO is ready, it is distributed with vigor. Initially still in front of the schools and always, by means of a book table, in the pedestrian zone. It is not that we are mobbed during the street agitation, that happens only extremely rarely. Rather one meets us with ignorance, skepticism and refusal. Which we do not mind! On the contrary, young as we are, we have both the future and the truth for us and feel the exclusion as confirmation. We see ourselves as part of a left-wing, political subculture. These are turbulent times and we are involved in the major events of the time and also militant demos. Examples would be the Rock against Right in Frankfurt/Main, big demos against nuclear power plants, the Startbahn-West, etc.. Our focus, however, is on the southern Harz region, so the annual meeting of the Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Überseetruppen e. V. came into our sights as early as 1979. The military units in the German colonies in Africa from 1891 until their official dissolution in October 1919 were called ´Schutztruppe´. Under Imperial Chancellor Otto von Bismarck, who was rather skeptical about colonial expansion, the term ‚Schutzgebiete‘ was in common use for the overseas territories. The term ‚Schutztruppe‘ goes back to the protection of German interests in the colonies. Whereby we put against the term Schutztruppen the term Kolonialtruppen. We feel that the term „colonial troops“ is more precise, especially since it omits the positive adjective „protection“. Colonial troops, however, are in the historical sense, military troops recruited from colored people from the colonies. For example, the colonial troops massively used as cannon fodder on the Western Front by the great colonial powers of France and England during World War I. The term ‚colonial troops‘ is used in a colloquial sense. Colloquially, i.e. also in the local press, the Schutztruppler are often referred to as ‚Africans‘. This expression dates back to the Kaiser era and is also found on the contemporary plaque on the monument. „Germany’s great Afrikaner, Hermann von Wissmann. Born Sep. 4, 1855, died July 1, 1905, the grateful fatherland.“ After Wissmann’s death, the book „Hermann von Wissmann, Germany’s Greatest African“ was published. During a recent guided tour, one of the participants asked whether Wissmann had been a black man. The Schutztruppe meeting has been a fixed ritual in the city since 1969. One would otherwise meet in Hamburg, but there students took the Wißmann monument from its pedestal for the second time in 1968, whereupon it was no longer erected.
But untouched, far away in the province, on the outermost edge of the republic, stands one last Wißmann monument. In Bad Lauterberg, the ‚colonial hero‘ still enjoys fame, renown as an African explorer who also fought the slave trade. The positive view of Wißmann and German colonial policy is also steadily deepened by the tireless work of the local archivist Max Walsleben. The fact that Walsleben was NPD district chairman until March 1985 does not matter.
So it is not surprising that the Schutztruppenverband is welcome in Bad Lauterberg and is officially welcomed every year by the mayor; without distinction whether this has the party book of the SPD or the CDU.
Who criticizes Wißmann questions fundamental conceptions. It is the ‚mustiness of 1000 years‘ that lives on here in the zone border area. But how does one proceed against the post-national socialist CDUSPDFDPNPD society? Ideas are needed! As a core of the evil the domination relationship man – woman is seen. Feminism, sexuality, psychology etc., are hotly discussed topics in the left scene. Books like Ernest Bornemann „The Patriarchy“ or Klaus Theweleit’s „Male Fantasies“ make the rounds. Touched by this spirit, some Antifa activists also look at the Bronze-Wißmann in the Kurpark. Clearly it is a patriarchal and basically obscene monument. It requires some preparations, because size and attachment want to be well thought out. From a cardboard tube and papier-mâché an approx. 1.5 meter long penis is made and attached to the monument at night, two balloons round off the appearance. The thing makes already impression, the public in the morning in the health resort park shows itself dismayed; unfortunately everything is faster disappeared than it can be photographed. With this first direct action the resistance against the Wissmann cult begins. At this point, the colonial past is at best a marginal topic. An exception is the historical novel Morenga by Uwe Timm. His story recounts the uprising of the Herero and Nama in German Southwest Africa from the point of view of a German vet in the Schutztruppen. The uprising under Jakob Morenga lasts from 1904 to 1908. None of this has anything to do with Wißmann, but the novel, which also incorporates historical documents, gives an idea of the colonial war and insights into the Schutztruppe. For us, it plays a role.
In INFO 5, January 1980, the article „Old comrades – or what else?“ deals with the ongoins of the Traditions-Verband. For the first time it says „No more Schutztruppen meeting in Bad Lauterberg! Renaming of the Wißmannstraße!“ The antifascist working group opposes the 12th annual meeting from October 19 to 22, 1980 in Bad Lauterberg with letters to the editor in the Harzkurier and the Bad Lauterberger Tageblatt. Surprisingly, a hitherto unknown Lothar Hirsch speaks out against the Wißmann cult in the same way. Counter-actions do not take place, but a few people of the working group mingle with the audience at the monument and observe how the members of the tradition association come from the direction of the Kurhaus. Three old veterans with wreath and black/white/red St. Peter’s flag and another Belgian flag bearer walk in front. Then they line up at the monument and a speaker takes the floor. Especially the medal clasps of the old men have it in themselves. Besides awards from the First World War, the War Merit Cross with swords and the Eastern Battle Medal, the so-called ‚Frozen Meat Order‘ can be seen. Both with swastika. We from the working group are clearly outnumbered and leave it at observing. Running to the police is of course out of the question.
We don’t want anything from the state, the system is our opponent. It is necessary to act ourselves!
During the night, unknown persons replace the wreath ribbons. Immediately the managing director of the association, Otto Haberland from Berlin, files a complaint with the police for „disparagement of the memory of the deceased and theft of low-value items“. In the internal info of the anti-fascist working group it says in addition: „Lost went a wreath loop in the value of 125, – DM. The amount of the damage caused was estimated at 25,000 – 30,000 DM. The wreath ribbon was replaced by two linen cloths, size 80 cm x 35 cm with the inscriptions:
1. Zum Gedenken an die von Deutschen „Schutztruppen“ ermordeten Freiheitskämpfer in Afrika und China 
2. Araberaufstand 1888/89 
Hottentotten-Aufstände bis 1904 
Hereros 1896 
Boxeraufstand 1900.“ 
Haberland suspects that the perpetrators belong to the circle around the former youth care worker at the city of Bad Lauterberg, Götz Westphal and the reader letter writer Lothar Hirsch. Both are summoned by the 7th Commissariat, responsible for political crimes, of the police in the district town of Osterode. Lothar drives the little more than 20 kilometers to Osterode, Götz hands the matter over to his lawyer. At this point, Götz is already no longer a member of the working group and Lothar has not yet joined the group; the two do not know each other personally. In other words, the police have no idea. In the end, the investigation is discontinued without results. The study of the investigation file is nevertheless enlightening. Among other things, there is a list of the foreign participants of the Schutztruppen meeting:
„Auswärtig: Anzahl 56 
Davon: Ehemalige Schutztruppenangehörige 5 
Witwen ehemaliger Schutztruppenangehöriger 6 
Kinder ehemaliger Schutztruppenangehöriger 10 
An der deutschen Kolonialgeschichte Interessierte 36“ 
After this run-up we do not want to let the 13th Schutztruppentreffen from October 16 to 18, 1981, run off without counteractions. INFO 6 is published with the headline „Every year again Schutztruppentreffen in Bad Lauterberg – Schluss mit der Verherrlichung der deutschen Kolonialverbrechen und der Pflege faschistischen Gedankengutes“. Five of the eight pages deal with the topic.

There is another flyer of the antifascist working group, which calls for Saturday, October 17 to the film „Nazis, are they still there?“ and subsequent rock against right concert with the group Abraxas in the town hall. The band travels from Northeim, there is no music scene in Bad Lauterberg and the surrounding area. For the following day, when the Schutztruppler lay their wreath at the memorial, the film „Namibia fights“ is announced. But despite all the effort our events are not very well received. Only the Schutztruppenverband reacts and asks for police protection for its wreath-laying ceremony. In order to drive the tradition federation into the parade, it requires thus other means than info. booths, meetings or the stealing of wreath ribbons. We are never at a loss for arguments and are even better positioned in terms of content after Lothar joins us. He studies ethnology in Göttingen and devotes himself with scientific meticulousness and doggedness to the topics Hermann von Wißmann and Schutztruppenverband. We soon publish the paper „Wissmann – a Prussian career“. The title refers to the popular documentary film by Joachim Fest „Hitler – a career“. The title page also attempts to draw analogies between colonialism and fascism, in that Wissmann is written in sigrunes and the swastika flag of the Reichskolonialbund flutters behind a drawing of the Lauterberger monument. The subheading then also reads „the story of a colonial criminal“. With all the trimmings, the scientifically correct text, although very tendentiously written, comprises 34 typewritten pages. The work is distributed as a photocopy under our group name. In addition, the title drawing of the brochure is at the same time the poster motif for our demonstration against the ‚colonial troop meeting‘, which everything boils down to in the course of 1982.

Post-war events

A demonstration in Bad Lauterberg, that has never happened in the post-war period! Administration and local parties try to prevent and hinder the manifestation or where and how it goes. A lawyer has to be called on around the demonstration right to fight through. „Who loves Bad Lauterberg, ensures a quiet town“, is a popular placeholder ad in the Bad Lauterberger Tageblatt, which is aimed at us. Again and again it appears in the newspaper.
We put a lot of effort into the demo on October 23. We manage to get a total of 13 groups to support us before the leaflet goes to press with a print run of 5000 copies. It is the peak of the peace and anti-war movement. Even if the topic is a bit special, our demonstration is in line with the spirit of the times. Together with friendly groups, there will be information booths in Bad Lauterberg, Göttingen, Herzberg, Duderstadt and Osterode on October 16. In Göttingen, there will be an extra event on October 22 in the trendy Theaterkeller pub. For this, the film „Aus Liebe zum Imperium“ will be shown. While the mobilization is going on, the legal dispute about the demo continues. The city wants to prevent that our final rally takes place in the Kurpark at the Wißmann monument. Only immediately at the beginning this can be enforced before the administrative court of Braunschweig. Shortly before that, I unexpectedly receive a summons at the police station and call in a lawyer. Through the inspection of the files, I learn that a woman who works for the city administration and knows me from school days has denounced me. Allegedly, I had wildly posted posters for the demo at a bus stop in Barbis one evening. I resent this above all because in this case it was definitely not me. In the end, the investigation runs out, but shows again how many people in my environment are on it. Then finally the day of the demonstration arrives. Meeting point is at the town hall, at 2:30 p.m. it is supposed to start. We wait quite a long time, especially for the African Student Union (ASTU) from Göttingen, which has promised its participation. Their representatives are supposed to lead the demo. But nobody from the African Student Union appears. Later, the excuse is given that they had arranged to meet at the wrong place in Göttingen. A little more than 100 people come together at the town hall. For the district of Osterode this is not a bad result, but we expected 200 to 300 people. At the meeting point there are a lot of curious young people loitering around, but they don’t join. As we set off, the curtains behind some windows are hastily drawn, others prefer to watch the whole thing from a safe distance from their garden fence. Groups of onlookers stand everywhere at the street corners. Outwardly unimpressed, we pick up our banners. Flanked by enough policemen, our demonstration procession is accompanied through the city. In the front part of the demonstration we carry a magnificent wreath. On the ribbon is written „In memory of the more than 50,000 natives murdered by German colonial troops. Antifaschistischer Arbeitskreis Bad Lauterberg“. By means of speeches via megaphone and chants like „German colonialists are murderers and fascists“ we try to create a mood. We are not interested in insults like „Nestbeschmutzer“, „Geht doch rüber“ („Go over“, meaning the near border fence to the GDR) etc., which become loud here and there at the roadside. However, a symbolic street renaming is planned at the branch of Wissmannstraße into Ritscherstraße, where it goes towards the Kurpark. A prepared sign ‚Jakob-Morenga-Straße‘ is to be hung over ‚Wissmannstraße‘. But just at this street corner there is a group of disliked onlookers and then there is the police. The stopover is not announced. In short, the person who is supposed to put up the sign decides to simply walk on. This leads to harsh criticism afterwards. What is discussed and decided together cannot simply be overturned individually! Municipality and police use the small number of participants for a last harassment. The gate to the Kurpark was not opened, all demonstrators had to pass individually through a small door. An article in the Frankfurter Rundschau describes the mood. „Exactly ninety-eight demonstrators – according to the police count – protested this year’s federal meeting of the ‚Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Überseetruppen‘ in Bad Lauterberg in the Harz mountains over the weekend. More than a thousand onlookers lined the streets of the small town, ‚like at a marksmen’s parade‘ (according to a police spokesman), as the demonstrators marched through the town and then laid a wreath for the victims of German colonialism in Africa and Asia at a colonial monument. Already the following night, the wreath was moved aside by unknown perpetrators.“
After the demo, a second ‚Rock gegen Rechts‘ is announced in the ‚Goldene Aue‘ from 8 pm. Bravely the two Göttingen bands ‚Steif und traurig‘ and ‚Faltenrock‘ play in an almost empty hall. The local press reports maliciously on Monday. Under the headline „Counter-demonstration did not find applause“, the Bad Lauterberger Tageblatt reads „Even the participation of professors in the hundred-strong crowd of auxiliaries mobilized by Antifa Bad Lauterberg could not enhance the quality of the counter-demonstration against the comrades‘ meeting in Bad Lauterberg. – It took a long time before the procession formed at the town hall; because there were partly long marches for the participants. The supporters of the anti-history movement are not sown so densely.“ The mood in the group is rather depressed. I am rather alone with the opinion that everything was just a beginning and we should build on this demo. There are arguments about the assessment and political as well as personal fractures in the group come to the fore. Some members distance themselves from the group, an important activist asks the question of meaning and withdraws completely from the political work. Apart from that, other activists soon leave the region. In 1983 I, too, go to Bremen and can only sporadically participate in meetings in Bad Lauterberg. We shrink, but survive this phase, and develop more and more clearly into an autonomous association. This is also the reason why the activities against the Schutztruppenverband in October 1983 go largely undisturbed. However, the Traditionsverband is not officially welcomed by the mayor. A result of our demo, which annoys the association a bit. Apart from that there is an exchange of blows between the working group and the Traditionsverband about letters to the editor in the local press and the annual theft of wreaths. However, the working group is not able to do more, because in the whole North German area autonomous antifa groups mobilize against the NPD federal party conference in Fallingbostel on October 1, 1983. There is a violent street battle with the police. The Bad Lauterberg antifascist working group is part of the North German Antifa Coordination. All the while, the Traditionsverband is trying to rejuvenate itself and in 1983 gives itself the addition Friends of the former German protectorates to make it clear that anyone ‚interested in colonial history‘ can join it. In 1984 I return to the Harz which is also reflected in a revival of the working group. Among other things, new contacts are established with the BWK in Clausthal and with the Volksfront, which has the same personnel. These ‚mass organizations‘ are on the descending branch and consist of two recognizable members. Above all our technical possibilities improve by this establishment of contact, thus the sentence for the leaflet „end with colonial tradition and Wissmann veneration“ develops 1984 on the ballpoint typewriter of the BWK. Against the Schutztruppentreffen we appear on Saturday, October 20, with a film and discussion event in the town hall. Again it is an alliance action: „Autonomer antifascist working group Eichsfeld, people’s front KV Clausthal, gay group Clausthal, Prof. Dr. Rolf Bertram – member of the district council Osterode,“ call beside us. We continue to fight against windmills. It is still the time of the printed word. Therefore we let ourselves on a co-operation with the Harzer land messenger, briefly HaLa from Clausthal. An alternative „event magazine for the Harz province“ as it says in the subline. Clausthal is the only place in the Harz with a university, which is also reflected a little in political life. The DIN A5 booklet appears in an edition of 500 copies once a month. The cooperation is free of charge. Although in Bad Lauterberg, no stores, cafés or pubs exist, over which the HaLa is distributed, we work 1984/85 intensively on the project and drive regularly to editorial meetings to Clausthal. Always in the hope to be able to move something in the region and also to make the problem around the Wißmann monument and the Schutztruppen meeting more well-known. Again it comes to a direct action. The plaque of the Schutztruppen Association at the monument with the inscription „He fought successfully against the slave trade and for the freedom of the oppressed“ is unscrewed one night and remains missing. Unfortunately, it is discovered after some time during a cleanup of the Odra riverbank and the city provides for a new, better fortification.
When the Schutztruppenverband plaque is reattached, the screw heads are filed off. In 2020, it will be removed after criticism from the city.
However, our group becomes smaller and smaller, for the people who move away from Bad Lauterberg, no new ones appear. In May 1985 we still manage to publish the INFO 10, in the second half of the year the working group falls silent. This year the Schutztruppenverband comes to town earlier than ever, i.e. already from October 4 to 7. Unusual is also that this time no announcement in the apron takes place, Bad Lauterberger daily paper and Harzkurier report only on Friday, 4 October, thus after the participants already arrived, of the ‚tradition meeting‘. Probably, with the short notice counteractions are to be prevented. Because hard confrontations cast their shadow over the republic. On September 28, 36-year-old locksmith Günter Sare was run over by a water cannon during an anti-NPD demonstration in Frankfurt/Main. After the death of the anti-fascist, the Federal Republic experiences some of its most turbulent days. All over the country, people spontaneously take to the streets. Police stations, banks and department stores go to pieces, there are many attacks. The damage runs into the millions and the autonomous Antifa becomes a household name. Also in Göttingen and Northeim the city centers are affected by ‚Scherbendemos‘. Even if you don’t know each other personally, you feel connected in the political scene. When ‚one of us‘ is killed, a response is due, there is no question. Günter Sare is a household name for everyone these days.

Fiery atmosphere in the spa park

You can always do something – they say. But what to do when you’ve already tried everything and have to act very quickly? Well, to build a fake bomb is not so difficult. All you need is an empty fire extinguisher and a travel alarm clock, which you glue, visually artistic, to the metal casing. A few cables should protrude into the metal container. To make the dummy weightier, fill the metal casing with sand and in the upper area with powdered sugar to simulate explosives. When everything is ready, the replica disappears into an inconspicuous sports bag and off you go. All alone is seldom good, better if someone is keeping an eye out. In addition, a propaganda plate is to be dismantled. So we have to think about the way and the time. It is early morning and pleasantly cool, the dark forest smells autumnal, only the ripple of the Oder can be heard. Meeting point VVN stone at the Felsenkeller, the Wißmann monument is only a few hundred meters from here, on the other side of the Oder. The goal is sabotage, to thwart the show, in the spectacle the action unfolds. In the event of a bomb alarm, everything is cordoned off and firemen from a defusing team have to roll up specially. All in all, this takes hours and will kick up some dust. Of course, a fake explosive attack entails investigations and remains an explosive action. Above all, it must be remembered that all the material falls into the hands of the investigators unharmed. Everything can be evaluated. One mistake, one fingerprint, one item that can be traced and it will end badly. There is no need to hope for any solidarity. At best, it amuses some people who see everything as a joke – and not what it’s all about. Militancy is part of politics! But everything works like clockwork, only the letter of confession is missing. The text must be written, one needs a typewriter only for this purpose. Always applies, no traces leave. Each machine has a unique stop. One takes the third carbon copy and traces the letters with a fine pen. Then everything must be copied and the originals destroyed. Also, should be carefully considered where the letters are thrown in and to whom they go. One is best left at the scene of the crime. If you don’t have enough time, you can hand in the statement later. The written statement is a central part of the action, specifies the political orientation. „Bomb alert in the spa gardens,“ is the headline in the local press the next day. „The only person really affected by the incident is Raab, the tenant of the spa house. About one hundred fewer meals than usual on Sundays were sold because the guests were unsettled. Except for the thirty meals for the ‚Africans‘ almost nothing was sold,“ it is read. A local farce with class? Nerves are needed in the days that follow. Everything goes well. The letter of confession is also received and quoted. „Aktion Springteufel – Mourning for our comrade Günter Sare, murdered by the cops on 28.9.85“, is the title. Articles, comments and letters to the editor occupy the local press for a while in the following period.
The working group, which has not appeared since the summer, also speaks up once again. After that, it becomes quiet around Wißmann and the ‚Traditionsverband‘. In the HaLa, No. 31, of November 1985 appears a final article on the ‚assassination‘ of the Wissmann monument. This is the last statement of the antifascist working group at all. There is no dissolution paper, it simply stops. However, considerations are still made. To simply tear down the monument at night is not possible. For this, a rather long, powerful rope and many people pulling would be necessary. Even then, the outcome would be uncertain, because unlike in Hamburg, the Wißmann in Bad Lauterberg is not on a pedestal, but is anchored directly in the rock. To bend the bronze over or tear it down would require a tremendous amount of force. At most a tractor or Unimog with a winch could accomplish this. Such considerations fail already because of the fact that the local police station is directly at the health resort park. Therefore sawing off is also out of the question. It would be too noisy and take too long. Even with an angel hair wire saw one would have no chances of success. That leaves acid. Copper alloys can be dissolved in high-percentage sulfuric acid. At least this works with pennies. This leads to the idea of simply filling the feet of the statue with acid and letting the chemical reaction do the rest. Some tests show that it would probably take a few hours before the bronze Weissmann falls into the duck pond. Freely according to the motto of the ‚colonial hero‘, which is engraved on a large stone at the monument: „I find or I make my way“. Above all, there is plenty of time to disappear. Intoxicated with their own idea, they get to work. In the protection of nightly hour, two small holes are drilled fast into the boots, by means of plastic hose and pressure sprayer the acid can be filled into the boots. The unknown assassins can then quietly disappear into the dark night with their instruments. But is everything well thought out? Is a metal alloy of a penny coin identical with a cast bronze? Aren’t there anyway drains for water to collect in the plastic? Or doesn’t the acid simply eat its way through fine cracks in the metal and then run off? Practice shows that the boots can be filled. But the acid finds its way under the soles of the boots after a short time. For a few days, it stinks violently of sulfur around the monument; until rain, wind and sun have broken down the unappetizing chemistry – and nothing has happened. The Wißmann monument remains standing, the working group is history. Efforts in 1991 to found a new group in Bad Lauterberg do not get beyond beginnings. Nevertheless, the monument continues to be pointed out. As with an intermediate rally at the Antifa demonstration on January 29, 1994 and at the Antifa demonstration on January 19, 2008. Also later the monument remains a topic at various events and antifascist city tours. But these are all sporadic activities organized from outside.
It is only in 2020 that criticism of the monument and the colonial historical representation will be voiced again from the region. Not with revolutionary pretensions, but with civil society commitment. In the meantime, the generation from the time with ‚oak leaves and swords‘ has largely left. Pride in the homeland and nation, or even in colonial deeds, does not fit in with a multicultural, united Europe. The Traditionsverband exists, but it is unclear whether it still meets in Bad Lauterberg. In any case, there have been no reports in the press for years. The fact that the world is changing and that different views are gradually determining social life than in the past certainly has little to do with the efforts of the Antifa working group. It merely made its contribution and has long since disappeared in the dark wake of time. In any case, some things have remained; Wissmannstraße still bears its name and the monument still stands in the Kurpark. At least the latter also has a positive effect. As long as the sculpture remains visible in public space, it always causes controversy. For sure, the ‚Colonial Heritage‘ would not be an issue in this region without the Wißmann monument. It remains to be seen whether the bronze man will disappear one day or whether the monument will be embedded differently in terms of content. Either way, it remains a tough process.

 

Bibliography

Becker / Perbandt / Richelmann / Schmidt / Steuber ( 2 1907): Hermann von Wissmann. Deutschlands größter Afrikaner, Berlin.
Langer, Bernd (1997): Kunst als Widerstand, Bonn. Langer, Bernd (2004): Operation 1653. Stay rude – stay rebel, Göttingen.
Langer, Bernd (2017): Kunst und Kampf, Münster.
Timm, Uwe (1978): 17 Morenga, München.
Timm, Uwe (1981): Deutsche Kolonien, München, Walzleben, Max (1978): Hermann von Wissmann persönlich. Einblicke und Eindrücke, Bad Lauterberg.
Documents and flyers
The INFOs and leaflets of the working group I have supplied several times in complete sets to appropriate archives. I have not found them listed so far. Antifaschistischer Arbeitskreis Lauterberg, INFO 5, Alte Kameraden – oder was sonst? Achtseitige Flugschrift, Dezember 1979/Januar 1980.
Antifaschistischer Arbeitskreis Lauterberg, INFO 6, Alle Jahre Wieder Schutztruppentreffen in Bad Lauterberg. Schluß mit der Verherrlichung des Deutschen Kolonialverbrechen und der Pflege faschistischen Gedankengutes. Achtseitige Flugschrift, keine Datumsangabe im Impressum. 1981 gegen das Treffen das Schutztruppentreffen gerichtet.
Antifaschistischer Arbeitskreis Lauterberg, Schutztruppen raus aus Lauterberg! Flugblatt, Oktober 1981.
Antifaschistischer Arbeitskreis Lauterberg, Wissmann – eine preußische Karriere, 34seitige Broschüre, 1982.
Antifaschistischer Arbeitskreis Lauterberg, Kein Kolonialtruppentreffen in Bad Lauterberg und anderswo! Schluß mit der Verherrlichung der deutschen Kolonialverbrechen und der Pflege rassistischer und imperialistischer Tradition. Flugblatt, Oktober 1982.
Antifaschistischer Arbeitskreis Lauterberg, Inter-INFO, 1982.
Antifaschistischer Arbeitskreis Lauterberg, Schluß mit Kolonialtradition und WissmannVerehrung, Flugblatt, 1984.
Harzer Landbote. Veranstaltungsmagazin für die Harzer Provinz. Kolonialtruppentreffen. Schluß mit Kolonialtradition und Apartheid-Rassismus, Ausgabe No.: 30. Oktober 1985.
Harzer Landbote. Veranstaltungsmagazin für die Harzer Provinz. Bombenstimmung in Bad Lauterberg. ‚Attentat‘ auf Wissmann-Denkmal. Ausgabe No.: 31. November 1985

40Jahre Anti-Kolonialdemo in Bad Lauterberg

Bernd Langer

Vom langen Kampf gegen den Kolonialkult und das letzte Wißmann-Denkmal in Deutschland

Mitten in der Bundesrepublik, in Niedersachsen, dicht an der Grenze zu Thüringen, liegt Bad Lauterberg im Harz. Seit dem 1. November 2016 gehört die Kurstadt, deren Einwohner_innenzahl sich stetig sinkend, der 10.000 Marke nähert, zum Landkreis Göttingen. Von der ortsansässigen Industrie ist fast nichts geblieben. Das gehört zum üblichen Strukturwandel der viele Regionen betrifft. Insofern nichts besonderes, allgemeiner Niedergang ist heute kein Grund mehr sich aufzuregen. Eine Besonderheit weist die Harzstadt allerdings auf, ihr Wahrzeichen, das Denkmal des Afrikaforschers, Kolonialkriegshelden und ehemaligen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika Hermann von Wißmann. „Deutschlands größter Afrikaner“ wie er zeitgenössisch bezeichnet wurde, stammte zwar nicht aus dem Harz, aber seine Mutter und Schwester lebten dort. Der regelmäßige, prominente Besucher war ein Aushängeschild für die Stadt und sollte seine Werbewirksamkeit auch über seinen Tod hinaus behalten. Nachdem Wißmann im Jahr 1905 durch einen Kopfschuss, den er sich selbst bei einem Jagdunfall zugefügt hatte, ums Leben kam, wollte man ihm in Bad Lauterberg sogleich ein Denkmal errichten. Bereits 1908 kam die Bronzeplastik des Bildhauers Johannes Götz im Kurpark zu Aufstellung. Seit dem steht der ca. 2,20 Meter große Bronze-Wißmann vis-à-vis des Kurhauses auf einem großen Findling am Ententeich. Alles in allem, dürfte das Denkmal 4,50 Meter in der Höhe messen.

Postkarte mit dem Wißmann-Denkmal in Bad Lauterberg von 1908. Um das Denkmal pompöser erscheinen zu lassen wurde der Betrachter, links im Bild, verkleinert.

Ein zweites Wißmann-Denkmal wurde ein Jahr später in Daressalam, der damaligen Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas, errichtet. Nach dem I. Weltkrieg ließ die britische Mandatsmacht es abbauen und als Kriegstrophäe ins Imperial War Museum London schaffen. Später gelang es deutschen Behörden die Herausgabe zu erwirken. Das Denkmal kam nach Hamburg, wo es im November 1922 aufgestellt wurde.
Der Bronze-Wißmann in Bad Lauterberg musste nie von seinem Sockel weichen. Millionenfach ging er auf Postkarten um die Welt. Am Denkmal, das schon zu Kaiserzeiten als Treffpunkt für Veteranenverbände und Kolonialvereine gedient hatte, fanden weiterhin einschlägige Veranstaltungen statt. Die Bronzeplastik erinnerte an große Zeiten, die viele wieder haben wollten. Gern schmückte sich die Stadt mit dem Namen des „Afrikaforschers“ und unterlag damit einer rechtsradikalen Geschichtsverdrehung. Denn im Reichstag gab es immer vehementen Widerstand gegen die Kolonialpolitik. Die Sozialdemokratische Partei lehnte grundsätzlich jedes koloniale Engagement ab. Auch auf Liberale traf das zu, ein Beispiel gab Ludwig Bamberger, Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei. Selbst bei den Konservativen bis hin zum Reichskanzler Bismarck war der Gedanke kolonialer Ausbreitung zunächst nicht populär.

Das Deutsche Kaiserreich, als letzter, großer Nationalstaat in Europa 1871 entstanden, besaß Anfangs keine Kolonien. Die Entwicklung ging nicht von der Reichsregierung aus sondern von deutschen Kaufleuten und Abenteurern, die sich auf eigene Faust Gebiete in Afrika und Asien unter die Nägel rissen und dann, konfrontiert mit Aufständen, um militärische Hilfe baten. Erst im Jahr 1884 trat das Deutsche Kaiserreich durch die Entsendung der Marine zum Schutz deutscher Handelsgesellschaften in die Kolonialgeschichte ein. Daraus leiteten sich die Begriffe „Schutzgebiete“ bzw. „Schutztruppe“ ab.
Im Jahr 1885 entstand die Kolonie Deutsch-Ostafrika. An deren Küste brach 1888 ein, von arabischen Sklavenhändlern und Plantagenbesitzern geführter, Aufstand los.


Das politische Mandat und die finanziellen Mittel für ein Eingreifen in Ostafrika bekam Reichskanzler Bismarck vom Reichstag nur bewilligt, weil der Einsatz als Mission im Kampf gegen die Sklaverei galt. Durch Gesetz vom 30. Januar 1889, wurde für Maßregeln zur Unterdrückung des Sklavenhandels und zum Schutze der deutschen Interessen in Ostafrika, ein Betrag von 2 Millionen Mark zur Verfügung gestellt. Die Ausführung der erforderlichen Maßregeln wurde Hermann Wißmann als Reichskommissar übertragen.
Qualifiziert hatte sich der junge Offizier durch zwei Afrika-Expeditionen für den belgischen König Lepold II.. Mit seiner Berufung erfolgte die Beförderung zum Hauptmann. Als Führungskader der Wißmann-Truppe traten 88 deutsche Offiziere, Unteroffiziere, Ärzte und Beamte in die persönlichen Dienste Wißmanns. Die Freiwilligen mussten zuvor ihren Dienst beim Heer quittieren.
Aufgrund seiner Erfahrungen mit den klimatischen Verhältnissen ließ der frisch gebackene Reichskommissar als Groh der Truppe schwarze Söldner, die zuvor in der britischen Armee gekämpft hatten, in Ägypten anwerben. Die sogenannten Askaris, waren ein Novum in der deutschen Militärgeschichte. Mit seiner gut ausgebildeten und ausgerüsteten Streitmacht von ca. 1.000 Soldaten konnte Wißmann den Aufstand bis 1890 niedergeschlagen, 1891 wurde Deutsch-Ostafrika offiziell der Verwaltung des Deutschen Kaiserreiches unterstellt. Mit diesem Feldzug begründete Wißmann seinen militärischen Ruf und wurde vom Kaiser in den Adelsstand erhoben.

Major Hermann von Wißmann 1891.

Von Vietnam nach Afrika

An der deutschen Kolonialgeschichte, hatte die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik kein besonderes Interesse. Niemand fand etwas dabei, als im Jahr 1949 das durch Bombentreffer beschädigte Wißmann-Denkmal in Hamburg wieder aufgestellt wurde.
Ohne Scheu blickte man auf die deutsche Kolonialvergangenheit zurück. Schließlich hatten alle europäischen Großmächte Kolonien besessen. Außerdem wurde unter der deutschen Herrschaft die Sklaverei abgeschafft und der Missionar Johann Ludwig Krapf entwickelte eine Grammatik für Kisuaheli in lateinischer Schrift. Natürlich blieben die Bedingungen, vor allem für die schwarze Bevölkerung mies, doch es entstanden Eisenbahnlinien und Städte. Eine Infrastruktur, für die dass Kaiserreich viel investierten musste. Unterm Strich vermochte es die deutsche Kolonialpolitik nicht, bedeutende ökonomische Gewinne zu erzielen. So die koloniale Erzählung, in der rassistische Ausbeutung und Unterdrückung sowie Völkermord zu vernachlässigende Fakten bleiben.
Besonders betont wurden von den deutschen Kolonialisten die Askari, die im Ersten Weltkrieg treu an der Seite ihrer weißen Kameraden standen. Vier Jahre währte der abenteuerliche Buschkrieg der deutschen Schutztruppe unter Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck. Erst die Niederlage in Europa führte zu Aufgabe des Kampfes, der in vielen Büchern und Berichten glorifiziert wurde.
Das Jahr 1918 markierte das Ende der 30 jährigen deutschen Kolonialgeschichte. Deutsche Militär- und Verwaltungsangehörige mussten die Kolonien unverzüglich verlassen. Wenig später diejenigen, die nicht gewillt waren Staatsangehörige der jeweiligen neuen Kolonialmacht zu werden. Tausende Reichsbüger_innen verließen daraufhin die Kolonien und kehrten in die alte Heimat zurück. Schnell und konsequent war die deutsche Zeit in Afrika und Asien beendet.

Lettow-Vorbeck übernahm 1919 in Deutschland die Führung eines Freikorps und marschierte im selben Jahr in Hamburg ein um die Sülzeunruhen, die wegen angeblich verdorbener Lebensmittel ausgebrochen waren, niederzuschlagen. Beim rigorosen Vorgehen des Freikorps gab es 80 Tote. Ein Jahr später beteiligte sich der Kolonialheld am Kapp-Putsch, dem ersten rechtsradikalen Umsturzversuch in der deutschen Geschichte. Nach dem gescheiterten Putsch war seine militärische Karriere beendet, doch blieb er eine angesehene Persönlichkeit, vor allem in der Kolonialszene.
Im Jahr 1922 schlossen sich verschiedene Gruppen zur Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft zusammen. Eine angestrebte Vereinigung aller entstandenen Organisationen konnte aber erst in der NS-Zeit mit dem Reichskolonialbund erzwungen werden. Es gab hochtrabende Pläne für eine NS-Kolonialpolitik in Afrika, die Illusionen blieben.
Deshalb konnte die deutsche Kolonialgeschichte nach 1945 zu einem Anknüpfungspunkt für rechtsgerichtete Geschichtsverklärung werden. Die Mythen des Kaiserreiches, wirkten in der jungen Bundesrepublik ungebrochen weiter. Ehemalige Kolonialsoldaten aus der Kaiserzeit organisierten sich in örtlichen Kameradschaften. Diese schlossen sich 1956 zum Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Überseetruppen zusammen. Ehrenvorsitzender wurde Paul von Lettow-Vorbeck, der zwar als rechte, militaristische Galionsfigur galt aber kein NSDAP-Mitglied gewesen war.

Erst mit dem politischen Aufbruch in den 1960er Jahren begann eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte. In diese Zeit fielen auch der Vietnam-Krieg, revolutionäre Aufstände in Lateinamerika und verschiedene antikoloniale Befreiungskämpfe in Afrika. In antiimperialistischer Solidarität fühlte sich die entstehende Studentenbewegung mit den Befreiungsbewegungen weltweit verbunden. In diesem Zusammenhang wurde auch die Kolonialgeschichte interpretiert. In Hamburg kam es ab 1961 zu kleineren Protestaktionen gegen das Wißmann-Denkmal. Im Jahr 1967 lag der Bronze-Mann zum ersten Mal neben dem Sockel, wurde jedoch wieder aufgestellt. Im folgenden Jahr entstand im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) bzw. maoistischen Gruppen die Idee, aus einer Kundgebung heraus das Denkmal umzureißen. Wenn auch letzteres scheiterte, entstand eine Filmdokumentation, als lebendiger Beleg für die 1968-Bewegung. Unbekannte brachten den Bronzemann einige Zeit nach der Kundgebung in einer nächtlichen Aktion zu Fall. Nach dem zweiten Denkmalsturz wurde der Wißmann in Hamburg nicht wieder aufgestellt.

Hamburger Abendblatt, 1.11.1968.

Bad Lauterberg lag in diesen Jahren am Ende der Welt; nur wenige Kilometer vom Grenzzaun der DDR entfernt, im Zonenrandgebiet. Von den Revolten in den großen Städten blieb die Harzstadt unberührt. Aus diesem Grund hielt der Traditionsverband seit 1969 seine jährliche Jahreshauptversammlung in der Kneippstadt ab. Stets offiziell vom Bürgermeister begrüßt, egal ob der von der SPD oder CDU war. Den Höhepunkt bildete die Kranzniederlegung am Wißmann-Denkmal. Alte Kameraden traten dazu mit schwarz-weiß-roter Kolonialfahne, der Petersflagge, und ordensgeschmückter Brust an. Die Lokalpresse berichtete ausführlich und positiv über die Veranstaltung. Überhaupt fanden sich ab und an Artikel über Wißmann. Dafür sorgte Max Walsleben, Mitglied der städtischen Archivgemeinschaft, anerkannter Fachmann zum Thema Hermann von Wißmann und Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes Osterode.
Doch ewig währte die Ruhe für den Traditionsverband und das Wißmann-Jubelgedenken nicht. Im Jahr 1978 gründete sich der Antifaschistische Arbeitskreis Bad Lauterberg. In seinem Publikationsorgan, dem INFO, war der Traditionsverband seit 1979 Thema. Darüber hinaus äußerten sich Aktivist_innen in Leserbriefen der regionalen Zeitungen. Wer den Traditionsverband und damit Wißmann angriff kratzte allerdings am Allerheiligsten. Überhaupt Antifaschismus, das galt als kommunistischer Kampfbegriff und wühlte in der Vergangenheit herum, die man so gern verdrängte. Doch der Arbeitskreis ging noch einen Schritt weiter und meldete für den 23. Oktober 1982 die erste Nachkriegsdemonstration in Bad Lauterberg an. Es war gleichzeitig die erste Demo überhaupt, die sich gegen den deutschen Kolonialismus richtete. „Kein Kolonialtruppentreffen in Bad Lauterberg und anderswo! Schluß mit der Verherrlichung der deutschen Kolonialverbrechen und der Pflege rassistischer und imperialistischer Tradition“, lautete die programmatische Parole. Dreizehn Gruppen aus der Region stellten sich hinter den Aufruf. Antiimperialismus war der Kernbegriff, man sah sich in einem größeren Prozess. Es ging darum, die Gesellschaft aus ihren überkommenen Traditionen und Strukturen zu reißen. Eine revolutionäre, avantgardistische Position in Konfrontation zum Bestehenden.

Plakat 1982 in der Bearbeitung von 2022.

Von offizieller Seite versuchte man alles um die Demo zu unterbinden. Die Route wurde untersagt und musste juristisch durchgesetzt werden. Am Ende waren es nicht mehr als 120 Personen, die an der Demonstration teilnahmen.

Ein Artikel in der Frankfurter Rundschau am 25.10.1982 beschrieb die Stimmung. „Über eintausend Schaulustige säumten, ‚wie bei einem Schützenumzug‘ (so ein Polizeisprecher) die Straßen der Kleinstadt als die Demonstranten durch den Ort zogen und anschließend an einem Kolonialdenkmal einen Kranz für die Opfer des deutschen Kolonialismus in Afrika und Asien niederlegten. Bereits in der folgenden Nacht wurde der Kranz von unbekannten Tätern beiseite geschafft.“

Hämisch berichtete das Bad Lauterberger Tageblatt „Gegendemonstration fand keinen Beifall … Auch die Teilnahme von Professoren in der hundertköpfigen Schar der vom Antifa Bad Lauterberg mobilisierten Hilfstruppen konnte die Qualität der Gegendemonstration gegen das Kameradentreffen in Bad Lauterberg nicht aufwerten. – Es dauerte lange eher sich der Zug am Stadthaus formierte; denn es gab für die Teilnehmer zum Teil lange Anmarschwege. So dicht sind die Anhänger der Antigeschichts-Bewegung nicht gesät.“

Anti-Kolonial-Demonstration des Antifaschistischen Arbeitskreis Bad Lauterberg am 23.10.1982 in der Wißmannstraße.

Wenn auch keine Demo mehr stattfand, ging das antikoloniale Engagement des Arbeitskreises in den nächsten Jahren weiter. Doch Bad Lauterberg an der Zonengrenze war als Abwanderungsgebiet bekannt, der Arbeitskreis schrumpfte und hörte 1985 auf zu existieren.

In diesem Jahr durchkreuzte ein vorgetäuschter Sprengstoffanschlag der Aktion Springteufel, wie es im Bekennerschreiben hieß, dass Jahrestreffen des Traditionsverbandes. Danach wurde es ruhig um das Thema, ohne das es je ganz in Vergessenheit geriet. In den 1990er Jahren wurde der Wißmann-Kult samt Traditionsverband bei diversen Veranstaltungen und antifaschistischen Stadtführungen die von Göttingen aus organisiert wurden, immer wieder angesprochen. Gegen den immer stärken aufkommenden Neonazismus in der Stadt sollte am 29. Januar 1994 eine Antifa-Demo stattfinden. Wie ein alternativer Stadtrundgang sollte sie durch Bad Lauterberg führen. Mit Zwischenstationen an verschiedenen Orten, wie dem Wißmann-Denkmal. In alter Tradition ging man in der Kurstadt gegen die Demonstration auf die Barrikaden. Ein ehemaliger NPD-Funktionär richtete ein Schreiben an die Geschäftswelt. „Zur Vermeidung antifaschistischen Terrors mit einhergehender gnadenloser Gewalt“ empfahl er den Geschäftsleuten ihre Schaufenster zu verbarrikadieren. Das Gewaltszenario wurde gern aufgegriffen, die Stadtverwaltung wappnete sich und stand in direktem Kontakt mit der Polizei. Die Hysterie war so groß, das ein geplantes Antifa-Konzert am Abend abgesagt werden musste, weil der Wirt den Veranstaltungsraum nicht mehr zur Verfügung stellen wollte und sich in der Presse mit dem Satz entschuldigte „Ich will kein Unruhestifter sein“. Trotz starker Polizei-Präsenz verlief die Demo friedlich.
Bad Lauterberg verwandelte sich immer weiter zu einem braunen Nest. Im Jahr 2007 waren rund 50 Personen in der Stadt der rechtsradikalen Szene zuzuordnen. Die NPD stellte einen Stadtratsabgeordneten und Neonazis betrieben Geschäfte wie den Tattoo-Laden Zettel am Zeh. Als Reaktion hatte sich im Frühjahr 2007 ein Präventionsrat aus Mitgliedern der Grünen bis hin zur CDU gebildet. Nach eigenem Bekunden war es ein Vorschlag aus diesem Gremium, das den Rat der Stadt veranlasste, den Traditionsverband nicht mehr offiziell zu begrüßen.

Erstmalig seit 1969 war 2007 kein Vertreter von Rat und Verwaltung bei der Eröffnung der Jahreshauptversammlung im Kursaal anwesend. Das Letzte mal berichtete die regionale Presse 2009 über das Treffen. Seit dem ist nichts mehr über die Aktivitäten des Verbandes in Bad Lauterberg bekannt geworden.

Die Koloniale Erzählung hatte einen entscheidenden Dämpfer erhalten. Auch die Propaganda vom heren Afrikaforscher Wißmann, der gegen den arabischen Sklavenhandel kämpfte und zum geachteten Gouverneur von Deutsch-Ostafrika aufstieg, ließ sich nicht aufrecht erhalten.
Der Druck auf das überkommene Geschichtsbild des Kolonialismus, das jahrelang nicht angetastet worden war, nahm ständig zu. In der globalisierten Welt bedurfte es einer neuen Geschichtsauffassung. Dabei ging es nicht um einen antiimperialistischen Systemsturz sondern eine Korrektur bürgerlicher Überlieferung. Ausdruck dieser Veränderung waren etliche Umbenennungen von Straßennamen, und Diskussionen zu Ausstellungen in europäischen Museen und die Restitution afrikanischer Kunst wie die Benin-Bronzen oder der Luf-Boot. Gleichzeitig entstand in den USA die Black Lives Matter-Bewegung die nach Europa ausstrahlte und Rassismus und Postkoloniale Strukturen auf die Tagesordnung setzte.
Auch gegen den Wißmann-Kult in Bad Lauterberg regten sich neue Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Gruppen. Eine Tafel die der Traditionsverband am Wißmann-Denkmal angebracht hatte, wurde im Dezember 2021 von der Stadt entfernt und eine neue, offizielle Infotafel aufgestellt. Ebenso verschwand ein Gedenkstein des Traditionsverbandes am Grab von Wißmanns Mutter. An den Straßenschildern Wißmannstraße sind die beschönigenden Hinweise „Afrikaforscher“ abmontiert. Vor allem aber, steht immer noch, das Wißmann-Denkmal in Bad Lauterberg im Harz.

Das Wißmann-Denkmal im Kurpark von Bad Lauterberg 2022. Die mit einem Sandstrahler bearbeiete Stelle auf dem Stein, zeugt von einem Farbanschlag in jüngster Zeit.

When Cowboy Ronny comes to Town

Die Schlacht am Nollendorfplatz – vor 40 Jahren besuchte US-Präsident Reagan Westberlin.

Bernd Langer, 11.06.2022

Zwischen 1979 und 1983 bestimmt die atomare Hochrüstung die politischen Debatten. Das Schreckgespenst eines dritten Weltkriegs droht. Gleich mehrfach sind die Supermächte USA und Sowjetunion in der Lage das Leben auf der Erde auszulöschen. SS 20 stehen gegen Pershing II Raketen und Cruise Missiles. Das heißt, letztere sollen, laut NATO-Doppelbeschluss, erst noch in Westeuropa stationiert werden.
Gegen die atomare Aufrüstung wendet sich weltweit eine neue Friedensbewegung. Sie basiert auf vielen kleinen, unabhängigen Gruppen und Bürgerinitiativen. Unter der Parole »Schwerter zu Pflugscharen« und der Abbildung der Skulptur des sowjetischen Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch, die vor dem UNO-Hauptgebäude in New York steht, findet dies auch in der DDR seinen Widerhall.

Neue Friedensbewegung

In der Bundesrepublik setzt die Friedensbewegung am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten ein unübersehbares Zeichen. Mehr als 800 Organisationen unterstützen den Aufruf »Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen« dem rund 300.000 Menschen folgen. Ab März 1982 koordiniert sich die Bewegung im BAF (Bundeskongress Autonomer Friedensgruppen). Dabei kann das Spektrum der Aufrüstungsgegner kaum gegensätzlicher sein. Christen und Kommunisten der verschiedensten Strömungen agieren neben Gewerkschaftern, Sozialdemokraten, Grünen und besorgten Menschen aller Couleur. Aber das Ziel bzw. der Gegner eint, zumindest vorübergehend.
Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) steht zur Politik der USA, wo seit Januar 1981 Präsident Ronald Reagan regiert. Der erzkonservative Reagan hat sich vor seiner politischen Karriere als Schauspieler in zweitklassigen Western versucht. Für ihn ist die Sowjetunion »das Reich des Bösen«.
Anlässlich der NATO-Gipfelkonferenz vom 9. bis 11. Juni 1982 in Bonn will Reagan für die Raketenstationierung werben. Dagegen mobilisiert die BAF bundesweit mit einem riesigen Friedens-Bündnis für Donnerstag, den 10. Juni. Auf diesen Tag fällt Fronleichnam, der aber nicht in allen Bundesländern ein Feiertag ist. Am folgenden Tag ist eine Stippvisite des US-Präsidenten in Westberlin geplant. Doch der Besuch von US-Außenminister Alexander Haig am 13. September 1981 hat zu Straßenschlachten geführt. Da erneut Ausschreitungen zu befürchten sind, gilt für den 11. Juni ein stadtweites Demoverbot. Dennoch gibt es einen Aufruf sich um 10 Uhr am Nollendorfplatz zu versammeln, und die Alternative Liste (AL) versucht die Demo juristisch durchzusetzen.
Ziviler Ungehorsam wird von den Friedensbewegten akzeptiert und praktiziert, Militanz dagegen abgelehnt. Das beruht auf einer prinzipiell pazifistischen Einstellung, außerdem durchkreuzt Militanz die auf Breite und Verankerung in der Bevölkerung abzielende Politik der Friedensbewegung. Das sieht die militante Szene, die sich über Hausbesetzungen, Antifa und Anti-AKW-Kampf herausgebildet hat, gänzlich anders. In Abgrenzung zum »gewaltfreien Widerstand« bezeichnen sich diese autonomen und antiimperialistischen Gruppen als Antikriegsbewegung und nehmen die Parole »Krieg dem imperialistischen Krieg!« wörtlich.
Als Geburtsstunde dieser militanten Bewegungswelle gilt der 6. Mai 1980. Im Bremer Weserstadion soll an diesem Tag mit der ersten öffentlichen Gelöbnisfeier der Bundeswehr außerhalb einer Kaserne der 25. Jahrestag des NATO-Beitritts gefeiert werden. Es kommt zu schweren Krawallen.
Autonome und Antiimperialistischen-Gruppen verstehen sich im Zusammenhang mit einem weltweiten Befreiungskampf. Ähnlich wie RZ (Revolutionären Zellen) und RAF. Für erstere hegen Autonome große Sympathien. Da die RZ unter der Parole »Schafft viele Revolutionäre Zellen« auf Massenmilitanz setzen, bestehen ideologische Übergangsfelder. Der RAF stehen Autonome dafür distanziert gegenüber. Militärische Strukturen, selbsternannte Avantgarden und das Töten von Menschen passen nicht zu einer antiautoritären Jugendbewegung gegen die postfaschistische BRD-Gesellschaft. Aufhebung autoritärer Strukturen und die Idee einer sozialen Revolte machen sie aus.
Explizit antiimperialistischen Gruppen, kurz Antiimps, orientieren sich hingegen oft deutlicher an der RAF. Darüber hinaus sind all diese Gruppen untereinander in diverse Fraktionen aufgeteilt. Doch eint sie eine Grundhaltung gegen den US-Imperialismus. Mit der Politik der Sowjetunion findet hingegen fast gar keine Auseinandersetzung statt. Es geht um die BRD und deren Politik, die man als im Schlepptau der USA befindlich wahrnimmt.

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Lappenkrieg
Im Vorfeld des Reagan-Besuchs führen die RZ vom 1. bis 9. Juni zehn Sprengstoff- und einen Brandanschlag durch. Ziele sind das US-Hauptquartier in Frankfurt am Main, US-Offiziersclubs und Rüstungsunternehmen. Fast noch mehr Aufsehen erregt der »Lappenkrieg« in Westberlin. Transparente mit Parolen gegen den US-Präsidenten an besetzten Häusern werden von der Polizei abgenommen, Parolen übertüncht, selbst Aufkleber verboten und Kassetten mit Kriegsgeräuschen beschlagnahmt. Es entwickelt sich ein Katz- und Maus-Spiel mit hunderten von Polizeieinsätzen.
Aber nicht nur Parolen sind verboten, auch die Demo am 11. Juni wird am Vorabend endgültig vom Oberverwaltungsgericht untersagt. Erlaubt ist eine Kundgebung der AL am 10. Juni am Wittenbergplatz, wo sich ca. 80.000 Menschen versammeln. Gleichzeitig protestieren in Bonn fast 500.000 Menschen an den Rheinwiesen. Das ist die bis dato größte Nachkriegsdemo.
Obwohl alles friedlich verläuft finden im Laufe des Tages in Westberlin zahlreiche Hausdurchsuchungen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) statt, 29 Personen werden in Vorbeugehaft genommen. Denn trotz Verbot mobilisieren autonome und antiimperialistische Gruppen weiterhin für den 11. Juni.
Um für den Staatsbesuch Stimmung zu machen, hat der Senat 500.000 Flugblätter drucken lassen, die jeder Westberliner Tageszeitung außer der TAZ beigelegt werden. Auf ein ›Bad in der Menge‹ muss Reagan dennoch verzichten. Stattdessen wird zur Begrüßung am Flughafen Tempelhof eine handverlesene Menge organisiert und am Charlottenburger Schloss eine Hollywood-Kulisse aufgebaut. Abgeschirmt spricht der Präsident dort vor 25.000 ausgewählten Westberlinern.
Zu den vielen kleinen unabhängigen Gruppen in dieser Zeit zählt auch der Antifaschistische Arbeitskreis Bad Lauterberg. Wir haben uns bereits an der Friedensdemo 1981 in Bonn beteiligt. Aber das war nicht mein Ding, ich bin kein Pazifist sondern verstehe mich als Autonomer. Für einige von uns steht fest, dass wir in Westberlin demonstrieren. Auf eigene Faust wollen wir mit dem PKW fahren, die Übernachtung ist bei einem Bekannten organisiert. Helme, Knüppel oder ähnliches packen wir nicht ein. Wir können nur über die Transitstrecke durch die DDR nach Westberlin gelangen und rechnen damit, durchsucht zu werden.
So kommt es dann auch. Bei der Einreise am Kontrollpunkt Dreilinden wird unser Auto gefilzt. Auf dem Parkplatz stehen ein paar leere Fahrzeuge, deren Aussehen und Aufkleber darauf schließen lassen, dass die Polizei hier fündig geworden ist. Insgesamt werden 72 Personen bei der Einreise nach Westberlin aufgrund des ASOG festgesetzt und teilweise erst nach 48 Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt.
Aber bei uns ist nichts zu finden, wir können weiter.
Nach einer kurzen Nacht nehmen wir am Morgen die U-Bahn. Entgegen vieler Befürchtungen gibt es keine Polizeikontrollen. Kurz vor 10 Uhr steigen wir im überfüllten Bahnhof aus. Eine unüberschaubare Menschenmenge strömt zu den Ausgängen. Die U-Bahn fährt nur unterirdisch, das Gleis oben ist stillgelegt und in alten Wagons ein Flohmarkt eingerichtet. Der hat natürlich geschlossen, die Aufgänge sind mit Eisengittern verriegelt, uniformierte BVG-Angestellte davor postiert. Doch unsere Aufmerksamkeit gilt dem Platz. Als wir ins Freie treten, empfängt uns eine atemberaubende Atmosphäre. Eine Art Rauschen ist zu hören, das hunderte von Menschen erzeugen, die Pflastersteine aneinander schlagen. Adrenalin steigt ins Blut, Euphorie und Furcht prickeln durch den Körper. Im großen Rund sind überall Gleichgesinnte zu sehen, hier und da mit Helmen.
Unvergessliche Bilder, wie ein Typ mit Helm, Maske und schwarzer Lederjacke der auf einem Poller steht. In seiner Rechten hält er ein langes Stahlrohr, oben plattgeklopft, aufrecht wie einen Spieß. Der U-Bahnhof ist teilweise eingerüstet, dort werden einige Stahlrohre abmontiert. Überall wühlen Leute Steine aus den Gehwegen und werfen sie auf die Straße.

Im Kessel
Mehrere tausend Militante aus dem gesamten Bundesgebiet sind trotz Verbot auf dem Nollendorfplatz versammelt und ab kurz nach 10 Uhr eingeschlossen. Die Polizei riegelt alle sechs Zufahrtsstraßen ab. Ringsum Wasserwerfer, Polizeiwannen, Hundertschaften. NATO-Draht wird ausgerollt. Mit Presslufthämmern sind vorher Halterungen für den Drahtverhau in der Straßendecke verankert worden. »Aktion Eisenbart« taufen Polizeistrategen diese Massenfestsetzung.
Auf dem Platz gibt es weder Transparente noch einen Lautsprecherwagen, nicht mal ein Megafon. Jeder ist auf sich bzw. seine Bezugsgruppe gestellt. Für unseren alten Freund, bei dem wir übernachten, ist das alles zu viel, er will nur noch raus. Das wollen auch eine Reihe von Passanten, die zufällig im Kessel gelandet sind.
Doch die U-Bahn-Eingänge sind mit Gittern verschlossen, dahinter uniformierte BVG-Knechte. Verzweifelte rütteln an den Gittern. Daraufhin ziehen die BVG’ler grinsend mit Knüppeln kreuz und quer über die Gitterstäbe oder schlagen direkt auf die Hände. Dem Dreckspack macht das Spaß.
In der Maaßenstraße, unweit des Geschäfts Möbel Roland, fährt ein Lautsprecherwagen der Polizei auf und gibt bekannt, dass die Demo verboten ist. An vorbereiteten Kontrollstellen könne man einzeln, nach Feststellung der Personalien und Durchsuchung den Platz verlassen. Das mit den Passierstellen ist jedoch eine Lüge, niemand kommt vom Nollendorfplatz.
Wut und Frust entladen sich in Richtung Lautsprecherwagen. Ein Steinhagel zwingt die Polizisten in Deckung, es gelingt den Stacheldraht beiseite zu ziehen und ein paar Meter in die Maaßenstraße vorzudringen. Sogleich wird die Attacke von der Polizei zurückgeschlagen, ein paar Leute verheddern sich beim zurückrennen im NATO-Draht, nur knapp können sie den vorstürmenden Polizisten entkommen.
Dumpfe Abschüsse sind zu hören. Einen weißen Schweif hinter sich herziehend fliegen Gasgranaten auf dem Platz. Tränengas ist ätzend, gerät man hinein, ist man mit einem Schlag orientierungslos und hat das Gefühl ersticken zu müssen. Gegen den bohrenden Schmerz in den Augen hilft nur das Ausspülen mit Wasser. Die Granaten bestehen aus einer Aluminiumkapsel die in einer weißen Styropor Ummantelung steckt. Beim Auftreffen fliegt das Styropor weg oder verschmort an der Kapsel. Mit dicken Handschuhen kann man die ziemlich heiß werdenden Aluminiumkapseln zurückwerfen. Während die Polizei mit Gasmasken ausgerüstet ist, sehe ich bei Autonomen keine einzige. Man greift auf primitive Hilfsmittel zurück. Ich habe eine weiße Bundeswehr-Gasschutzbrille auf und ein mit Zitronensaft getränktes Tuch vor dem Gesicht. Ein wenig hilft das. Im Tohuwabohu auf dem Platz taucht vor uns ein Typ mit blutender Kopfwunde auf. Er ruft nach einem Sanitäter und schimpft auf die Idioten, die ihm von hinten mit einem Stein getroffen haben.
Auf der Suche nach einer Passierstelle gehen wir in die Motzstraße. In der Mitte der Fahrbahn geben die Stacheldrahtrollen den Weg frei, in der breiten Lücke stehen kampfbereite Hundertschaften hinter denen Wasserwerfer aufgefahren sind. Hier ist kein Durchkommen. Sogleich beginnen Schimpfereien von Leuten die den Platz verlassen wollen, der Einsatzleiter wird verlangt. Aber kein Verantwortlicher tritt in Erscheinung, dafür gibt die Polizei über Lautsprecher eine andere Kontrollstelle bekannt. Dem schenkt niemand mehr Glauben. Wir wollen zurück auf den Platz, als sich vor uns auf der gesamten Breite der Straße ein schwarzer Block formiert. Wir weichen in einen Hauseingang aus.
Dicht an dicht, untergehakt, Helme, schwarze Sturmhauben und Lederjacken, so rücken die Autonomen langsam heran. Viele haben Knüppel oder Eisenstangen in den Händen, einige reihen sich noch ein. Vereinzelt sind graue Haare unter der Maskierung zu erkennen. Noch nie habe ich so alte Leute bei den Autonomen gesehen. Ich werde an diesem Tag 22 Jahre alt, sehr viel älter sind Autonome für gewöhnlich nicht.
Beim Anblick der kampfentschlossenen Militanten werden die Polizisten unruhig. »Linie zusammenrücken!«, schallt es aus einem Lautsprecher. Plötzlich trommeln die Polizisten auf ihre Schilde, der bollernde Ton dröhnt durch die Straße. Seltsamerweise fliegt kein Stein, auch Tränengas wird nicht verschossen.
In Trippelschritten schiebt sich der Block bis auf wenige Meter an die Polizeikette heran. Da hört das Trommeln auf die Schilde mit einem Schlag auf. Für einen Moment sind nur die Schritte aus dem schwarzen Block zu hören. Gespannte Gesichter bei der Polizei, ihre Plexiglasschilde hochgezogen, die Schlagstöcke fest in den Fäusten. Dann ein Ruf und fast gleichzeitig lassen sich die Autonomen los und schießen wie ein Blitz heran. Knüppel schmetterten auf Helme und Schilde, dazwischen das eklige, dumpfe Geräusch wenn ein Schlag einen Körper trifft. Einige Autonome sacken von Schlägen getroffen weg, durch ihre Schilde und Helme sind die Polizisten im Vorteil. Die Autonomen kommen nicht durch. Die Reihen trennen sich, ohne dass die Polizei nachsetzt.
Doch es ist noch nicht zu Ende. In etwa fünf Meter Abstand formiert sich der Block neu. Der Durchbruch soll erzwungen werden, und in neuem Anlauf krachen die Reihen aufeinander. Die Autonomen versuchen die Polizisten hinter ihren Schilden in die Defensive zu drängen. Ab und zu gelingt ein Schlag über einen Schild, direkt auf den Helm. Um zuzuschlagen müssen die Polizisten einen Ausfallschritt machen. Links den Schild anheben und mit der Rechten den langen Schlagstock durchziehen. Es wirkt wie bei einer Schlacht aus ferner Zeit. Aber trotz aller Entschlossenheit bleiben die Autonomen unterlegen. Binnen weniger Minuten gibt es unter ihnen wieder etliche Verletzte, sie weichen geschlossen zurück. Keuchend stehen die Polizisten da, den Schrecken im Gesicht. Aber ihre Reihen haben gehalten.

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Durchbruch
Wir kehren auf den Platz zurück. An sämtlichen Sperren greifen Militante die Polizei an. Wahre Steinwolken gehen auf die sie nieder, aber die NATO-Drahtrollen verhindern wirkungsvolle Durchbruchsversuche. Im Getümmel wird die Mercedes-Limousine eines US-amerikanischen Fernsehteams entdeckt. Das Auto wird auf den Platz gezerrt, auf das Dach gedreht und angezündet. Insgesamt gehen an diesem Tag mindestens zehn Fahrzeuge in Flammen auf.
Kurz nach 11 Uhr werden endlich Kontrollstellen geöffnet, viele verlassen den Kessel. Wer bleibt, ist entschlossen zu kämpfen. Die Konfrontation eskaliert zur wohl härtesten Straßenschlacht in der Geschichte Westberlins. Mit Eisenstangen und Steinen, etwas anderes steht nicht zur Verfügung, rennen wir immer wieder gegen die Polizei an. Es geht über Stunden so, ohne an Intensität zu verlieren. Rund um den Nollendorfplatz erstreckt sich die Kampfzone. Flammen, Qualm, Martinshörner, Wasserwerfer, Pflastersteine, Tränengas, überall Scharmützel. Die Lage wird zunehmend unübersichtlich. Vor allem bekommt die Polizei Probleme weil Hundertschaften auch von Gruppen außerhalb des Kessels angegriffen werden. Auf dem Kudamm versuchen 1.500 Leute, die nicht mehr auf den Platz gekommen sind, eine Spontan-Demo durchzusetzen. Die wird von der Polizei schnell aufgelöst. Aber es sind sicher noch mindestens 2.000 Menschen auf dem Nollendorfplatz, und die gleiche Zahl greift die Polizeiabsperrungen von außen an.
Der Ausbruch muss jedoch von innen erfolgen. An der Ecke Maaßenstraße, wo Möbel Roland seine Schaufenster mit Spanplatten verbarrikadiert hat, kracht und splittert es, die Platten werden weggebrochen, die Schaufenster gehen zu Bruch. Möbel, Bücher Attrappen und anderer Krempel fliegen auf die Straße. In Richtung Bülowstraße entsteht eine brennende Barrikade. Teppiche aus dem Möbelgeschäft werden über die NATO-Drahtrollen geworfen und eine größere Gruppe versucht darüber zu stürmen. Das misslingt, doch einige Rollen sind plattgedrückt oder aus ihren Verankerungen gerissen.
Irgendwann befinde ich mich von meiner Bezugsgruppe getrennt an einer Stelle, an der es bereits mehrere Attacken gegeben hat. Die Drahtrollen in der Straßenmitte sind weggezogen. Dahinter stehen Polizisten mit Gasmasken, sie schießen Granaten, sobald sich eine Menschentraube bildet. Es gilt, sich spontan zusammenzuschließen und überraschend die Polizeiabsperrungen anzugreifen.
So kommen wir zusammen, ein Pulk, der schnell auf ein paar hundert Leute anwächst. Viel Zeit bleibt nicht, Brüder und Schwestern im Geiste formieren wir uns ohne Leitung. Vertrauen uns ganz einfach so. Niemand wird zurückstehen.
Mit einem Steinhagel setzen wir über den NATO-Draht. Die überraschten Polizisten geraten in Panik, springen in die anfahrenden Wannen, Steine fliegen in die offenen Türen. Sie rasen davon. Wir haben sie geschlagen, ein Wahnsinnsgefühl!
Die Auseinandersetzungen sind damit aber noch lange nicht beendet, sondern verlagern sich auf den benachbarten Winterfeldplatz, wo sie bis in die frühen Abendstunden andauern. Ich sehe jedoch keinen Sinn in einer weiteren Konfrontation und setzte mich ab.
Aus dem Areal zwischen Winterfeld- und Nollendorfplatz bis zur Bülowstraße hat sich die Polizei weitgehend zurückgezogen. Überall kokelnde Barrikaden und einige Autowracks. Der Boden ist mit unzähligen Pflastersteinen übersät, dazwischen hunderte von weißen Styroporkapseln abgeschossener Tränengasgranaten.
Und da steht doch an der Bülowstraße, Ecke Zietenstraße, eine verlassen Bullenwanne. Das Fahrzeug ist wegen eines Motorschadens zurückgelassen worden. Schnell finden sich ein paar Leute zusammen, und die Wanne wird auf die Seite gelegt. Kurz darauf brennt sie lichterloh. Das Bild geht später um die Welt.
Großartige Fotos und Gefühlserlebnisse sind aber nur zwei Aspekte dieses Tages. Zur Bilanz gehören hunderte von Verletzten und 415 Festnahmen. Es gibt zivile Greiftrupps, die Leute mit gezogener Pistole festnehmen, und in der Nacht durchsucht die Polizei besetzte Häuser. Gegen 22 Personen werden Haftbefehle wegen schwerem Landfriedensbruch ausgestellt. Auch im Nachhinein gibt es etliche Haussuchungen, und noch Monate später wertet die Polizei Fotos und Videoaufzeichnungen aus. Ein Aktivist bekommt für einen nachgewiesenen Steinwurf dreieinhalb Jahre Knast.
Die AL hat sich politisch ziemlich aus dem Fenster gelehnt und distanziert sich nicht von der verbotenen Demonstration. In der Nacht zum 12. Juni werden ihr Büro und die daneben befindliche Igel-Kneipe ein Raub der Flammen. Gleich in der Nacht des Brandanschlags gibt es eine Soli-Demo. Ich erinnere mich noch genau, wie ein pöbelnder Mob uns vom Straßenrand aus beschimpft. Wir sind eben nur eine kleine radikale Minderheit.
Nach dem 11. Juni 1982 werden militante antiimperialistische Demonstrationen nicht mehr zugelassen. Als US-Vizepräsident George Bush am 25. Juni 1983 Krefeld besucht, wird ein entsprechender Versuch von der Polizei im Ansatz zerschlagen und 118 Strafermittlungsverfahren eingeleitet. Zum letzten Aufbäumen von Friedens- und Antikriegsbewegung gerät dann der »Heiße Herbst« 1983. Mittels »Störmanövern« sollen die NATO-Herbstmanöver sabotiert werden. Schließlich beginnt im November 1983 die Stationierung der US-Atomraketen. Damit bricht die Mobilisierungsfähigkeit zusammen. Die Autonomen machen trotzdem weiter, allerdings bald auf anderem Terrain. So wird in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre autonomer Antifaschismus mehr und mehr zum bestimmenden Thema.

Generalstreik für die sozialistische Republik

100 Jahre Abwehr des Kapp-Putsches am Beispiel Bad Lauterberg

Autor: Bernd Langer|erschienen in Unser Harz Nr.9/2020|in gekürzter Fassung am 19. April im Harzkurier

Im gesamten Reichsgebiet hat sich die Spaltung der sozialdemokratischen Bewegung nach der Novemberrevolution 1918 vertieft. Auf der einen Seite existiert die gemäßigte, eher dem bürgerlichen Lager zuzuordnende SPD, während die Vertreter_innen der U(nabhängigen)SPD, die beim Umsturz eine entscheidende Rolle gespielt haben, sich mehr und mehr an den Rand gedrängt und um die proletarische Revolution betrogen fühlen.

Die politischen Entwicklungen in den großen Städten bilden sich analog in der Provinz ab. Ein Beispiel gibt Bad Lauterberg, wo ab April 1919 eine USPD-Ortsgruppe in Erscheinung tritt, deren Anhängerschaft größer ist als die der SPD. Zwar findet am 1. Mai 1919 noch eine gemeinsame Maifeier mit der SPD statt, doch dann trennen sich die Wege.

Wirtschaftlich bleibt die Lage angespannt. In einigen Betrieben ist Kurzarbeit angeordnet, die Lebensmittelversorgung ist auf einen niedrigen Stand rationiert. Als Folge entsteht ein grassierender Schleichhandel. Besonders hart sind die lohnabhängigen Schichten von der Misere betroffen, die keine Wucherpreise zahlen können. Schuld an den steigenden Lebensmittelpreisen tragen nach Ansicht vieler Arbeiter_innen Kurgäste und andere „Nichtstuer“. Es kommt vor, dass Kurgästen auf dem Weg zum Bahnhof die Koffer geöffnet und diese „revidiert“, also durchsucht werden.

Ideologisch wird der proletarische Unmut durch eine Reihe von Veranstaltungen mit prominenter Beteiligung untermauert. So spricht Ende Mai 1919 Hans Plettner, USPD-Sekretär aus Hannover, in Bad Lauterberg und fordert zur Vereinigung von SPD und USPD auf sozialistischer Grundlage auf. Wenig später tritt der Schriftsteller Karl Meier aus Berlin für die USPD auf und gibt die Schuld an Streiks und Unruhen im Land der SPD, weil diese das Hauptproblem, die immer noch offene Sozialisierungsfrage, nicht angehe.

Am 11. August eskaliert die Situation, als eine Kundgebung gegen den Schleichhandel aus dem Ruder läuft. Nach einigen Ansprachen vor dem Rathaus, die sich gegen Kaufleute und Kurgäste richten, bricht die hungernde Menge zu einer Spontandemonstration durch die Hauptstraße auf. Verdächtige Läden werden gestürmt und nach gehorteter Ware durchsucht. Auch bei etlichen Kaufleuten, Schlachtern usw. wird illegale Ware entdeckt. Insbesondere im Kaufmannsladen der Frau Meyer in der unteren Hauptstraße und bei einem Schwarzhändler Teizel in der Schulstraße wird man fündig. „Die beiden hatte man vor einen Einspänner gespannt, und sie mussten die Fuhre mit beschlagnahmten Lebensmitteln zum Rathaus bringen.“[1] Die sichergestellten Lebensmittel werden am nächsten Tag zu festgesetzten Preisen verkauft.[2]

Da sich ein Großteil der Arbeiter_innen nach links entwickelt hat, wird bei der Monatsversammlung des sozialdemokratischen Wahlvereins am 16. August der Antrag gestellt, geschlossen zur USPD überzutreten.[3] Obwohl ein großer Teil der Mitglieder den Übertritt vollzieht, bleibt die SPD am Orte bestehen.

Bei ihrer nächsten Vollversammlung hat die USPD wieder Plettner aus Hannover zu Gast. Der beendet die Zusammenkunft mit dem Aufruf, das Rätesystem zu verwirklichen.[4]

Wenig später agitiert das USPD-Mitglied Jean Uebel[5] als Vorsitzender des Ortsverbandes des Zentralverbandes der proletarischen Freidenker gegen die Kirche, mit dem Erfolg, dass bis Dezember 56 Personen aus der Gemeinde austreten.[6]

Die Revolutionsfeiern am 9. November werden getrennt begangen. Während die SPD nach einer Rede von Senator Steckhahn einen Ball im Kursaal eröffnet, ruft die USPD „alle Genossen, die auf dem Boden des Sozialismus stehen“ auf, in den kleinen Saal des Hotel Kurhaus zu kommen. Senator Steckhahn kritisiert in seiner Festrede die radikalen „krassen und undurchführbaren Forderungen“ der Unabhängigen und meint, „man könne nicht einfach alles umwerfen.“[7]

Im Gegensatz dazu eröffnet der Ortsvorsitzende der USPD, Hermann Stopperich,[8] die Veranstaltung mit einer Anspielung auf die SPD. Momentan ginge es nicht um „Vergnügungen und Tanzlustbarkeiten“, sondern es gelte vielmehr, der in Schutzhaft sitzenden Genossen zu gedenken und deren sofortige Freilassung zu fordern. Ferner müsse auf die Abschaffung der Todesstrafe hingewirkt werden. Dann singt der Arbeitergesangverein Frohsinn und es folgt der Festredner Jean Uebel. Dieser meint, dass der Arbeiter nun zu der Erkenntnis komme, dass er „um die Früchte der Revolution betrogen worden sei“, denn es herrsche die Diktatur des Bürgertums. Auch der Militarismus tauche wieder auf. Er fügt einige Beispiele an, bei denen die Reichswehr gegen streikende Arbeiter eingesetzt worden ist und führt aus, wie die Regierung mit Belagerungszustand und Schutzhaft herrscht. Auch seien verschiedentlich Einwohnerwehren gegen Arbeiter eingesetzt worden. Daher müssten die Blicke den „Brüdern und Schwestern in Rußland zugewandt“ sein, „mit ihnen müssen wir uns vereinen, damit das rote Banner der Räterepublik errichtet werde!“ Am Ende wird eine Resolution „Freiheit denen, die für die Freiheit kämpfen!“ [9] einstimmig angenommen und nach Berlin zur Reichsregierung geschickt.

Auf einer schwach besuchten Vollversammlung der USPD am 16. Dezember unter dem Motto „Gegenrevolution“ verkündet Jean Uebel, dass die unabhängige Partei „nicht auf dem Wege der Demokratie, sondern durch die Diktatur des Proletariats den Sozialismus verwirklichen wolle.“[10]

Arbeiterschaft und Bürgertum stehen sich in zwei Lagern gegenüber. Die aus der Kaiserzeit herrührende Privilegierung der bürgerlichen Klasse ist zwar politisch formal durch das gleiche, allgemeine Wahlrecht und andere rechtliche Gleichstellungen aufgehoben, aber man lebt immer noch in den alten Klischees und Bildern und bleibt vor allem sozial getrennt.

Einen entscheidenden Höhepunkt erfährt dieser soziale Konflikt im Zuge der Abwehrmaßnahmen gegen den Kapp-Putsch. Die überraschende Nachricht vom Putsch in Berlin erreicht eine öffentliche Versammlung der USPD im Kursaal. Die Partei hat dort am Samstag, dem 13. März 1920, als prominenten Referenten Karl Aderhold, Mitglied der Nationalversammlung, aus Hannover zu Gast. Nach den Meldungen vom Einmarsch der Marinebrigade Ehrhardt in die Reichshauptstadt wird die Veranstaltung unterbrochen. General Walther von Lüttwitz und Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp sollen die Macht an sich gerissen haben. Die Regierung Ebert/Bauer ist nach Dresden entkommen, von wo sie kurze Zeit später in das für sie sicherere Stuttgart weiterflieht.

Während „Reichswehr nicht auf Reichswehr schießt“, wie es General von Seeckt von der Reichswehrleitung formuliert, antwortet die Arbeiterschaft in ganz Deutschland auf diesen ersten rechtsradikalen Putsch mit einem Generalstreik, dem sich auch Beamtenschaft und selbst Geschäftsleute anschließen. An diesem Widerstand und der Unfähigkeit der Putschisten scheitert der Umsturz bereits am 17. März. Doch das Land ist in Unruhe, Arbeiterwehren die vielerorts entstehen, wollen ihre Waffen nicht mehr ohne größere politische Zugeständnisse abgeben, manche glauben gar, die Stunde der Revolution sei gekommen. In der Region um Halle, im Ruhrgebiet und an anderen Orten führt das zum Bürgerkrieg. Die Auswirkungen dieser Bewegung spielen sich auch in der Provinz ab.

In Bad Lauterberg ruft die USPD für den nächsten Tag, Sonntag, den 14. März, zu einer Versammlung an der Quelle, einem Pavillon im Stadtzentrum, auf. Dort kommt gegen 11.30 Uhr eine große Menschmenge zusammen. Verschiedene Redner fordern, sich dem Generalstreik anzuschließen. Am Ende wird ein dreifaches Hoch auf die Republik ausgebracht.[11]

Obwohl die Streikparole seit dem 13. März im Umlauf ist, setzt der Streik in Bad Lauterberg erst am Montag, dem 15. März, mit voller Wucht ein. An diesem Tag bestimmen USPD, SPD und Gewerkschaften im Schützenhaus einen Vollzugsrat, der ausschließlich aus Mitgliedern von USPD und SPD besteht. Als Leitungsgremium wird ein engerer Vollzugsrat gewählt, der aus fünf USPD- und einem SPD-Mitglied besteht. Da nun die Arbeiterschaft für Ruhe und Ordnung sorgen will, wird eine Volkswehr gegründet sowie eine Überwachungskommission für den Magistrat und eine Kommission zur Regelung des Ernährungswesens eingesetzt.[12] Bad Lauterberg ist damit in der Hand der sozialistischen Arbeiterparteien.

Mittels eines Flugblatts veröffentlicht der Vollzugsrat seine Anordnungen. Sämtliche Fabriken und Kaufhäuser müssen ihren Betrieb einstellen. Außerdem werden alle Genossen, die das 20. Lebensjahr erreicht haben, aufgefordert, „zur Bekämpfung der reaktionären Regierung“ in die Volkswehr einzutreten. Um die Bewaffnung zu gewährleisten, sollen sämtliche Hand- und Schusswaffen an die Volkswehrkommission abgegeben werden, was als „Schutzmaßnahme für Lauterberg gegen etwaige Überfälle von Seiten reaktionärer Truppen“[13] gedacht ist. Allerdings wird die Forderung, die Waffen abzuliefern, von Teilen des Bürgertums ignoriert. Die Volkswehr richtet ihr Hauptquartier im Schützenhaus ein.

Der Magistrat ist von den Ereignissen überrumpelt und erklärt sich zunächst mit den Maßnahmen des Vollzugsrates einverstanden.

Um die Neuigkeiten sofort bekannt zu machen, rattert der linke Aktivist Albert Knochel mit einem Auto durch den Ort, trötet mit dem Signalhorn und verkündet: „Kollegen und Kolleginnen! Wir haben die Macht an uns gerissen, entweder wir streiken oder wir legen die Arbeit nieder!“ – Kurz darauf kommt der Gegenbimmler, Fleckendiener Müller, der im Namen des Bürgermeisters proklamiert: „[…] noch haben wir die Macht […]!“[14] Als Antwort detoniert eine Handgranate vor der Tür des Wissmannhauses,[15] in dem der alte Bürgermeister von Ernsthausen wohnt. In Panik sucht von Ernsthausen das Weite. Noch lange Zeit erinnern Handgranatensplitter im Türrahmen an diese Episode.[16]

Der linke Aktivist Albert Knochel, der mit den Worten: „[…] entweder wir streiken oder wir legen die Arbeit nieder!“, den Generalstreik in Bad Lauterberg bekannt gibt. Die Aufnahme zeigt Knochel ein Jahr zuvor, in alter Uniform ohne Kokarden und Abzeichen, auf der Mai-Demo 1919 in Bad Lauterberg.

Unter dem Motto „Der Kampf gegen die Reaktion“ ruft die USPD am 15. März um 20 Uhr zu einer Volksversammlung im Kursaal auf.[17] Der Saal ist übervoll und der Vorsitzende der USPD, Stopperich, „ergriff als Referent das Wort. Er zeichnete das Bild über die augenblickliche politische Lage, über die Kämpfe für und gegen die Reaktion, die sich in den Großstädten abspielten. […] Heute gälte es für jeden Arbeiter und Beamten, diese Reaktion zu bekämpfen. Das einzige, aber tödlich wirksame Mittel in der Hand des Arbeiters sei der Generalstreik, in den seit heute auch alle Betriebe – mit Ausnahme derjenigen, die für Erhaltung des Lebens unbedingt erforderlich – eingetreten sind. Dieser Generalstreik – ein politischer Streik, der nicht bezahlt wird – müsse die Reaktion niederzwingen, denn keine Regierung sei lebensfähig, der die Arbeiter ihren Dienst verweigerten. Alle sollten eingedenk des großen Zieles gern die kleinen Opfer, die ihnen dieser Generalstreik auferlegte, bringen.“[18]

Verschiedene Redner bringen eine entschlossene und radikale Stimmung zum Ausdruck. „Herr Hanisch betonte, dass es die Pflicht eines jeden sei, in diesem Augenblick einmütig in den Reihen der Kämpfer gegen die Reaktion zu stehen, es gälte einen Kampf um Sein und Nichtsein. Die gemeinsame Not der Stunde würde alle Arbeiter zusammenschweißen zu einem Kampfblock, dem alle Widersacher weichen müssten.“[19]

Solche Worte zeigen Wirkung, auch die anwesenden SPD-Mitglieder lassen sich mitreißen: „Herr Fischer verlas dann folgende heute Nachmittag im Schützenhaus gefasste Entschließung: Sämtliche anwesenden Vertreter der Gewerkschaften sowie der Vorstände beider sozialistischen Parteien erklären einstimmig, den Generalstreik solange durchzuhalten, bis die Reaktion beseitigt und an deren Stelle eine rein sozialistische Regierung eingesetzt ist.“[20]

Allerdings führt das Auftreten des Vollzugsrats zu Konflikten mit dem Bürgertum. Der Magistrat gedenkt nicht, seine Befugnisse an die sozialistische Arbeiterschaft abzutreten, und der Bürgermeister spricht dem Vollzugsrat die Legitimation ab.

Dessen ungeachtet patrouillieren Angehörige der Volkswehr durch die Stadt und achten auf die Durchführung der Kampfmaßnahmen. So fordern sie den Lehrer Bartels kategorisch auf, die Schule zu schließen. Nur widerwillig und unter Protest lässt sich der Lehrer in den Streik zwingen. Desweiteren werden nachts Patrouillen auf den Weg geschickt, um den Schleichhandel zu unterdrücken.

Die sozialistische Arbeiterschaft misstraut dem Bürgertum und verdächtigt es pauschal, mit den Putschisten sympathisieren. Dagegen sehen viele Bürger_innen sich und ihr Eigentum von den Proletarier_innen bedroht. In der Nacht zum 17. März eskaliert die Situation, als in der Aue, einem vornehmlich proletarischen Stadtgebiet, auf den USPD-Mann Hanisch geschossen wird. Umgehend zieht die Volkswehr bei sämtlichen Bürgern die Waffen ein, wozu Abteilungen der Volkswehr Hausdurchsuchungen vornehmen. Als sich Bürger gegen die Willkürmaßnahmen wehren, führt das zu Tätlichkeiten.

Mittlerweile gibt der Vollzugsrat bekannt, dass in Süddeutschland und Westfalen die Räterepublik ausgerufen worden sei. In Braunschweig und Heiligenstadt sollen heftige Kämpfe stattfinden, in Hamburg, Gotha und anderen Städten die Arbeiter die Macht vollständig übernommen haben. Abgesehen von Gotha entsprechen die Meldungen zwar nicht den Tatsachen, geben den linken Aktivisten aber Rückenwind.

Die Stimmung zwischen den politischen Lagern in Bad Lauterberg wird immer gereizter, was sich auch bei einer öffentlichen Versammlung zeigt, die am Mittwochabend, dem 17. März, im Kursaal einberufen wird. Die Aussprache endet in einer verbalen Konfrontation. Maßner von der bürgerlichen Fraktion: „Ich rufe den Bürgern zu: ‚Heraus aus dem Mauseloch!‘“, darauf antwortet Branig von den Linken: „Diese Worte haben den Kampf entfacht, aber wir werden nicht eher ruhen, bis die Diktatur des Proletariats den Sieg in Deutschland feiert.“[21]

Major Maßner, der in Bad Lauterberg eine kleine Fabrik leitet, bringen solche Äußerungen auf die Palme. Dazu erscheint eine Gruppe von 10 Leuten der Volkswehr vor seinem Haus und wirft, nachdem nicht geöffnet wird, eine Handgranate vor den Eingang. Als Maßner daraufhin an die Tür tritt, wird sein Haus durchsucht und zwei Gewehre mitgenommen. Empört spricht der Major von „Plünderung“ und bringt den Vorfall am 18. März zur Anzeige. Ein ähnlicher Vorfall ereignet sich beim Geheimen Bergrat Uthemann.[22]

Es gibt zwei sich argwöhnisch betrachtende Fraktionen, auf der einen Seite der Vollzugsrat mit der Volkswehr und auf der anderen der Magistrat und das Bürgertum. Die sozialistische Arbeiterschaft ist in Bad Lauterberg aber eindeutig in der Mehrheit und zudem bewaffnet, insofern ist die Machtfrage geklärt. Auf dieser Grundlage stellt die Volkswehr in den folgenden Tagen gehortete Lebensmittel sicher und verteilt sie an Bedürftige.

Die in Bad Lauterberg aufgestellte Volkswehr besteht ausschließlich aus sozialistisch eingestellten Arbeitern. Ihr Hauptquartier ist das Schützenhaus,
heute Hotel Riemann.

Am 18. März wird bekannt, dass der Putsch wegen des Generalstreiks gescheitert ist, die Regierung Ebert/Bauer übernimmt wieder die Geschäfte, Gespräche zur Beendigung des Streiks werden aufgenommen. Noch bleibt die Informationslage allerdings unklar. Trotzdem veröffentlichen fünf Industrielle und Kaufleute in Bad Lauterberg im Namen der gesamten Bürgerschaft ein Flugblatt, in dem sie das Vorgehen der USPD als ungesetzlich diffamieren und dazu auffordern, am 19. März die Arbeit wieder aufzunehmen. Wer dem nicht nachkommt, soll entlassen werden. Zusätzlich veröffentlicht der Magistrat am 19. März ein Flugblatt, in dem er sich vom Vollzugsrat distanziert und erklärt, dass er die ihm beigeordnete Überwachungskommission nicht anerkennt. Noch am selben Tag wird dem Magistrat im Fleckenkollektiv[23] von allen Parteien das Vertrauen ausgesprochen, mit Ausnahme der USPD, die nicht in diesem Gremium vertreten ist. Das heißt, dass die SPD auf die Seite der „bürgerlichen Parteien“ wechselt.

Am selben Tag tritt das Gewerkschaftskartell zusammen, das am Ort aus den vier Verbänden der Holz-, Metall-, Berg- und Mühlenarbeiter besteht. Die Gewerkschafter_innen stimmen über den Streik ab und sprechen sich mit 478 zu 85 Stimmen für die Fortführung des Ausstandes aus, was dem Magistrat am 21. März offiziell mitgeteilt wird. Damit bekennen sich die Arbeiter_innen zum linken Flügel der Sozialdemokratie, denn am 20. März erklärt der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) in Berlin, der Dachverband der freien Gewerkschaften, das Ende des Generalstreiks. Im Gegensatz dazu wollen linkssozialistische Organisationen ihn erst abbrechen, wenn die Vergesellschaftung der Großindustrie vorgenommen worden ist.

Währenddessen treffen in Bad Lauterberg Nachrichten von Kämpfen zwischen Reichswehr und Arbeiterwehren im knapp 150 km entfernt liegenden Halle ein. Außerdem soll sich im Ruhrgebiet eine Rote Ruhrarmee konstituiert haben. Um das Blutvergießen zu beenden, finden unaufhörlich Verhandlungen statt. Als der Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) am 22. März zurücktritt, bricht auch die USPD den Generalstreik ab. Nur im Ruhrgebiet eskaliert die Situation, und vereinzelt gibt es noch weitere Städte und Regionen, in denen die Kampfmaßnahmen länger durchgeführt werden – zu denen, die am längsten durchhalten gehören die Arbeiter_innen in Bad Lauterberg.

Die bürgerlichen Parteien in Lauterberg schließen sich zu einem Block zusammen und erklären, ihrerseits für „Ruhe und Ordnung“ sorgen zu wollen. Bereits am 17. März hat General Walter von Hülsen, der Chef der 10. Reichswehrbrigade in Hannover, an den Landrat in Osterode ein Telegramm gesandt. Einerseits gibt der General darin seiner Hoffnung Ausdruck, „dass auch in dem mir unterstellten Gebiet der bedauernswerte Streik sein Ende nehmen wird“,[24] anderseits sind die Behörden damit in Kenntnis gesetzt, dass das Militär zum Einmarsch bereit steht. Spätestens seit dem 22. März ist der Magistrat in Bad Lauterberg über dieses Telegramm informiert. An diesem Tag verfügt General Hülsen, dass alle Schusswaffen sowie Munition und Sprengmittel von den Gemeindebehörden einzusammeln sind. Wenig später bekräftigt der Landrat diese Verordnung, was mittels Zeitungsanzeige und Flugblatt bekannt gemacht wird. Doch die Arbeiterwehr gibt ihre Waffen nicht ab und bleibt auf dem Posten. Im Gegenzug bewaffnen sich die Bauern im Dorf Scharzfeld, die politisch rechts stehen. Die Scharzfelder Bauern geben vor, sich gegen Überfälle der Sozialisten aus Lauterberg verteidigen zu wollen und stehen als Verstärkung für die Reichswehr gegen „die Roten“ zur Verfügung.

Am 26. März werden Vertreter des Lauterberger Magistrats, darunter auch Funktionsträger der SPD, im Rathaus in Herzberg zusammengerufen. Offiziere der Reichswehr geben bekannt, dass am nächsten Tag eine groß angelegte Entwaffnungsaktion im Südharz anläuft. In Bad Lauterberg seien die Waffen bis 10 Uhr abzugeben, im anderen Fall würden Zwangsmaßnahmen erfolgen.

Der Einsatz der Reichswehr bezieht sich auf verschiedene Orte, mindestens 400 Soldaten marschieren in Herzberg ein, wo ebenfalls Entwaffnungsaktionen erfolgen. Ziel und Schwerpunkt der Operation ist aber Bad Lauterberg.

Am Morgen des 27. März, einem Samstag, wird das Harzstädtchen umstellt. Zeitzeug_innen berichten von Geschützen auf dem Butterberg. In der Stadt profiliert sich Senator Steckhahn von der SPD, der bereits bei den Gesprächen am Vortag mit den Reichswehroffizieren Kontakt aufgenommen hat, als Waffeneinsammler. Das macht keine Probleme, denn die Angehörigen der Volkswehr sehen ein, dass es keinen Sinn hat, gegen die Reichswehr anzutreten. Kurz nach 10 Uhr meldet Steckhahn, die Waffen seien eingesammelt, und Reichswehr marschiert in die Stadt. Von den Soldaten werden an den Ortseingängen mit spanischen Reitern gesicherte Kontrollposten aufgestellt und an strategisch wichtigen Punkten in der Stadt MGs in Stellung gebracht. Dann erfolgen Haussuchungen bei linken Aktivisten. Insgesamt dauert die Entwaffnungsaktion eine Stunde.

Anschließend zieht sich die Reichswehr in das für sie etwas angenehmere Scharzfeld zurück und biwakiert auf dem Mühlenplatz. Dorthin werden auch die beschlagnahmten Waffen gebracht. Viele Schaulustige, Jugendliche und Kinder finden sich ein, etliche sind den Soldaten aus Bad Lauterberg gefolgt. Eine Pistole, Ausrüstungsgegenstände und einige der beschlagnahmten Gewehre kommen der Reichswehr bei dieser Gelegenheit abhanden.

Nach der Entwaffnung ist der Streik in Bad Lauterberg beendet und am Montag, dem 29. März, wird die Arbeit wieder aufgenommen. Im Nachhinein werden einige Gerichtsverfahren angestrengt, die aber wenig später durch eine Amnestie für alle im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch begangenen Straftaten null und nichtig werden.

Gravierend wirken sich die Ereignisse auf das Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum aus, sowie auf das Verhältnis zwischen USPD und SPD. Die Linken werfen der SPD Verrat vor, selbst Maifeiern werden ab jetzt getrennt durchgeführt. Als Folge der Radikalisierung wird wenig später die Ortsgruppe der KPD in Lauterberg gegründet, zu der bald sehr viele USPD-Mitglieder übertreten.

Lauterberger Wochen- und Anzeigenblatt (LWA), existiert bis 30.6.1929, ab 1.7.1929 Bad Lauterberger Tageblatt (BLT).


[1] Theo Schlösser, Lebenserinnerungen, o. J., mündlicher Bericht, nicht gedrucktes Skript, im Besitz des Verfassers.

[2] Lauterberger Wochen- und Anzeigenblatt (LWA), 12.8.1919.

[3] LWA, 16.8.1919.

[4] Die Versammlung fand am 1.9.1919 statt. Vgl.: LWA, 4.9.1919.

[5] Jean Uebel, im Weltkrieg Unteroffizier, 1918 Soldatenrat in Bad Lauterberg, 1919-1922 USPD, 1924-1933 Ortsvereinsvorsitzender und Wortführer der SPD, 1945-1946 kurzzeitig von den Alliierten als Bürgermeister eingesetzt.

[6] LWA, 13.9.1920, und Evangelisches Pfarramt Bad Lauterberg, Akte Austritte 1910-1945.

[7] LWA, 11.11.1920.

[8] Hermann Stopperich, gebürtig in Dahlhausen, heute Bochum, kommt 1917 nach Bad Lauterberg und arbeitet in der Industrie. Bis dahin war er als Soldat im Weltkrieg und wird wohl Ende des Krieges erneut eingezogen. 1918 ist er Mitglied im Soldatenrat in Münster. Im selben Jahr schließt er sich der SPD und dem Metallarbeiterverband an. Er ist Betriebsratsvorsitzender und Vorsitzender der Betriebsratsvereinigung in Bad Lauterberg und tritt zur USPD über. Bis 1922 ist er deren Parteisekretär und von 1949 bis zu seinem Tod 1952 Bundestagsabgeordneter der SPD für den Wahlkreis Harz.

[9] LWA, 11.11.1920.

[10] LWA, 17.11.1920.

[11] LWA, 15.11.1920.

[12] Vgl.: Handschriftlicher Bericht vermutlich des Bürgermeisters, zit. in: Eberhard Jacobshagen: Die Entwicklung der SPD und KPD in der Weimarer Republik, dargestellt am Beispiel einer niedersächsischen Kleinstadt: Bad Lauterberg. Schriftliche Hausarbeit für das Lehramt an Volksschulen. Bad Lauterberg 1969, S. 27 f.

[13] Flugblatt des Bad Lauterberger Vollzugsrats, zit. in: Jacobshagen (1969), S. 28.

[14] Theo Schlösser, Lebenserinnerungen, o. J., mündlicher Bericht, nicht gedrucktes Skript, im Besitz des Verfassers.

[15] In dem Haus in der heutigen Wissmannstraße lebte die Mutter Hermann von Wissmanns nach dem Tod ihres Mannes. Der prominente Afrikaforscher, Offizier und Kolonialbeamter, später Reichskommissar und letztendlich Gouverneur von Deutsch-Ostafrika, Hermann von Wissmann (1853 – 1905) besuchte des öfteren seine Mutter, das Haus erhielt daraufhin seinen Namen.

[16] Hierbei handelte es sich wohl um eine Machtdemonstration gegenüber dem Bürgertum. Der Bürgermeister ist seit den Wahlen von 1919 August Stauf (SPD).

[17] LWA, 16.3.1920.

[18] LWA, 16.3.1920.

[19] LWA, 16.3.1920.

[20] LWA, 16.3.1920.

[21] LWA, Nr. 33, 18. März 1920.

[22] Siehe: Jacobshagen (1969), S. 29.

[23] Verwaltung mit zentralörtlicher Funktion, ein Flecken bildet für die umliegenden Dörfer den Mittelpunkt.

[24] Zit. in: Jacobshagen (1969), S. 30.

Visuelle Hymne

Das Antifa-Comic von Gord Hill

Bernd Langer

Qualitativ auf hohem Niveau, vierfarbig, im DIN-A4-Format und als gebundenes Buch mit festem Einband, ist das Antifa-Comic von Gord Hill in deutscher Übersetzung erschienen. Der seit 1990 politisch aktive Autor ist kanadischer Staatsbürger und indigener Aktivist der Kwakwaka’wakw-Nation. U.a. betreibt er die Homepage Warrior Publications und arbeitet auch unter dem Pseudonym Zig Zag. Zu seinen Kunstwerken gehören Grafiken, T-Shirts, Gemälde, Schnitzereien und Comics. Die Arbeiten von Gord sind Kunst aus dem Widerstand.

Sein nunmehr drittes Comic kommt ohne die das Genre kennzeichnenden Sprechblasen aus und ist eher ein illustriertes Geschichtsbuch. Wobei Gord Hill meist historische Fotos und Plakate als Vorlagen für seine Zeichnungen verwendet, was dem Ganzen Authentizität verleiht und hier und da einigen älteren Antifa-Aktivist_innen ein Lächeln abgewinnen wird, wenn sie ihre Aktionen oder gar sich selbst im Comic wiederfinden.

Den militanten Antifaschismus zu thematisieren und popularisieren ist Teil der aktuellen Auseinandersetzung. Posaunt doch US-Präsident Donald Trump herum, dass er die Antifa verbieten will, die selbst in der BRD, allen voran dem Bundestag, als linksradikale Gefahr gilt. Insofern kommt dass Antifa-Comic genau zur richtigen Zeit.

Gord Hill ist es gelungen, 100 Jahre Geschichte auf 113 Seiten darzustellen. Obgleich durch die zwangsläufigen Verkürzungen viele Inhalte verloren gehen und die Darstellungen nicht frei von Fehlern und Widersprüchen sind.

So ist die anarchistische Orientierung des Autors bereits auf der Titelseite unübersehbar durch eine schwarze Fahne markiert. Demgegenüber beruht seine geschichtliche Darstellung vor allem auf der kommunistischen Sichtweise. Der Januaraufstand 1919 in Berlin heißt bei Gord „Spartakusaufstand“, bei dem „1.200 Spartakisten“ ihr Leben verloren. Tatsächlich waren es insgesamt 120 Tote, die meisten Linken waren USPD-Mitglieder oder Unorganisierte.

Solche Fehler und unkorrekte Beschreibungen finden sich leider zuhauf. Inhaltlich führt dies manchmal zu Schräglagen. So beim Kapitel über den antifaschistischen Kampf in Italien, wo über dem Anteil der „Arditi del Popolo“ (ehemalige Kriegsfreiwillige) eingehend berichtet wird.Keine Erwähnung findet hingegen, dass ein Großteil der Arditi mit dem Faschismus sympathisierte, sich Mussolini anschloss und ihre Waffenfarbe die Vorlage für das Schwarzhemd lieferte.

Im dem Teil ab 1945, der die Hälfte des Bandes ausmacht, sind die Beschreibungen bis auf wenige Ausrutscher präziser. Etwa heißt es im Kapitel zur BRD „Nach dem Abzug der Alliierten 1949 wurden einige neue faschistische Parteien gegründet“.

Vor allem die internationale Darstellung des antifaschistischen Widerstandes, der oft mitsamt seiner historischen Entwicklung in den betreffenden Ländern abgehandelt wird und bis ins Jahr 2018 reicht, gehört zu den Stärken des Comics. Wenngleich auch hier einiges verkürzt erscheint. Wie zum Beispiel beim Kapitel „Der NATO-Putsch in der Ukraine“, in dem das Wirken faschistischer Gruppen beschrieben wird, hingegen antifaschistische Gruppen keine Erwähnung finden.

Dass die Antifa in den USA und vor allem in Kanada in dem Band eine große Rolle spielen, ist logisch, dass aber Frankreich lediglich auf zwei mageren Seiten abgehandelt wird, übergeht die große Bedeutung die das Land für den internationalen Antifaschismus hatte. In Frankreich entstand 1934 die Volksfront und in einer mehrtägigen Straßenschlacht vor den Regierungsgebäuden in Paris wurden die Faschisten gestoppt.

Dabei scheut sich der Comic nicht vor inhaltlichen Statements. Gleich auf der ersten Seite wird der Faschismus in acht Punkten definiert. Richtig stimmig gelingt das nicht, es handelt sich eher um eine Charakterisierung des Nationalsozialismus. Auf Seite zwei folgt dann alter Wein in neuen Schläuchen. Unter einem Kapitalisten mit Zylinder, der erschrocken von der Revolution in Russland liest, steht: „In diesem Kontext entstand der Faschismus als politisch militärische Kraft, die eingesetzt wurde, um revolutionäre Bewegungen anzugreifen und damit die Macht von Staat und Kapital auch in Krisenzeiten zu sichern.“

Das erinnert an John Heartfields Fotomontage „Millionen stehen hinter mir“, auf der ein riesiger Kapitalist aus dem Hintergrund Adolf Hitler ein Bündel Geldscheine zusteckt. Nicht ganz falsch, sicher, doch mit Recht ist diese simple Erklärung umstritten. Die Existenz heutiger rechtsradikaler Entwicklungen bzw. Regime lassen sich so jedenfalls nur unzureichend erklären. Faschismus ist eben nicht einfach eine Verschwörungdes Kapitals und Nazis nicht die willenlosen Marionetten der Industriebosse.

Ein Comic ist aber keine wissenschaftliche Abhandlung. Seine inhaltlichen Mängel stellen das Gesamtwerk nicht in Frage. Gord Hills Comic ist ein lohnender, künstlerischer Beitrag zur Antifa-Bewegung und eine gute Einführung in das Thema.

25 Jahre FAP-Verbot

Das Ende der letzten legalen, bundesweiten Neonazi-Partei

Vorrangiges Thema der Rechtsradikalen ist Anfang der 1970er Jahre die neue Ostpolitik der Bundesregierung. Vor allem geht es um die staatsrechtliche Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Linie, ohne die Ansprüche auf diese Gebiete vollends aufzugeben. Dagegen mobilisiert die NPD im Jahr 1970 mit der Aktion Widerstand, der sich viele rechtsradikale Zirkel anschließen. In diesem Zusammenhang kommt auch der dem Hitlergruß ähnelnde Widerstandsgruß mit erhobenem rechtem Arm und abgespreizten drei Fingern auf. Sämtliche Veranstaltungen der Aktion Widerstand verlaufen gewalttätig, so das sich die NPD bereits im folgenden Jahr gezwungen sieht, die Organisation aufzulösen. Dennoch hat diese kurze Zeit zu einem Radikalisierungsschub samt Generationenwechsel geführt. Nun entstehen Wehrsportgruppen und Neonazi-Parteien nach Vorbild der NSDAP sowie der Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik.

Eine zentrale Rolle spielt der Anfang 1977 wegen seiner Gesinnung aus der Bundeswehr entlassene Michael Kühnen. Mit dem Deutschamerikaner Gary Lauck gründet Kühnen im selben Jahr den SA-Sturm Hamburg als Teil der NSDAP/AO (sowohl Aufbau- als auch Auslands-Organisation). Über Lauck gelangt in den nächsten Jahren Hakenkreuz-Propagandamaterial aus den USA in die BRD. Darunter auch die Zeitung NS-Kampfruf, in der Kühnen seine programmatische Schrift Die zweite Revolution veröffentlicht. Internationales Aufsehen erregt die von Kühnen, Christian Worch und anderen gegründete ANS (Aktionsfront Nationaler Sozialisten) 1978 in Hamburg mit der „Eselmasken-Aktion“. Einige Neonazis setzen sich entsprechende Masken auf und hängen sich Schilder mit der Aufschrift „Ich Esel glaube noch, dass in deutschen KZs Juden ‚vergast‘ wurden“ um. Dieser Aufmarsch wird nach wenigen Metern von der Polizei unterbunden. Es gibt aber Filmaufzeichnungen, die als Sensationsnachrichten weltweit ausgestrahlt werden.

Es dauert nicht lange und Kühnen sitzt zum ersten Mal im Knast. Während der Haft ereignet sich 1981 ein Fememord. Das ehemalige ANS-Mitglied Johannes Bügner wird wegen erwiesener Homosexualität von seinen Kameraden mit 20 Messerstichen ermordet, die Kehle durchgeschnitten. Kühnen distanziert sich von dieser Tat, die ihn aufgrund seiner eigenen sexuellen Neigung nicht in Ruhe lässt. Zunächst aber geht die neonazistische Aufbauarbeit ohne weitere interne Konflikte weiter.

Im Jahr 1983 vereinigt sich die ANS mit den NA (Nationalen Aktivisten) zur bundesweit agierenden ANS/NA, die noch im selben Jahr verboten wird. Mit diesem Verbot haben die Neonazis gerechnet und Kontakt mit der FAP (Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei) aufgenommen. Die 1979 vom ehemaligen HJ-Führer und nachmaligen NPD-Funktionär Martin Pape in Stuttgart gegründete Partei ist bis zu diesem Zeitpunkt eine unbedeutende, regionale Erscheinung. Das ändert sich mit der Übernahme der FAP durch die verbotene ANS/NA. Aus taktischen Gründen tritt Kühnen selbst nicht in die FAP ein, die schnell zu der angesagtesten Neonazi-Partei der BRD wird.

Kühnen veröffentlicht dann 1986 die Broschüre Nationalsozialismus und Homosexualität, die er dem ermordeten Bügner widmet. Ein direktes Outing findet sich zwar nicht im Text, trotzdem gilt er auch als öffentliches Bekenntnis Kühnens. Der Text führt zu einer erbittert geführten internen Auseinandersetzung. An deren Ende gilt Homosexualität, zumindest in größeren Teilen der rechtsradikalen Szene, nicht mehr als „perverse Entartung“. Kühnen stirbt 1991 an AIDS.

Der Programmatik Kühnens folgend versucht die FAP ein möglichst getreues Abbild der NSADP darzustellen. Es gibt Standarten sowie eine Art Parteiuniform, man trägt Schulterriemen, Gebietsdreieck und Feldmütze mit SS-Totenkopf. Das Äußere zeigt, dass es sich bei der FAP eher um einen Schlägerhaufen handelt, der sich in der Nachfolge der SA begreift. Parlamentarisch bleibt die Partei denn auch absolut bedeutungslos und erreicht Wahlergebnisse meist unter 1 Prozent. Zu ihrer Hochzeit, Anfang der 1990er Jahre, zählt die Partei maximal 1.000 Mitglieder.

Vorsitzender der FAP ist seit 1988 bis zu ihrem Verbot 1995 Friedhelm Busse (1929 – 2008).[1] Über die NPD ist Busse, der auch über Kontakte zur NSDAP/AO verfügt, an der Gründung der Aktion Widerstand beteiligt und wird kurz darauf wegen ständiger gewalttätiger Übergriffe aus der Partei ausgeschlossen. 1971 gründet er die Partei der Arbeit/Deutsche Sozialisten die sich ab 1975 VSBD/PdA (Volkssozialistische Bewegung Deutschland/Partei der Arbeit) nennt. Die VSBD wird nach einer Schießerei mit zwei Toten[2] Anfang 1982 verboten. Busse kommt für mehr als drei Jahre in den Knast und wird bald nach seiner Haftentlassung FAP-Vorsitzender.

Zu den frühen Zentren der neuen FAP zählt Südniedersachsen. Im Dorf Mackenrode bei Göttingen lebt der österreichische Frührentner Karl Polacek (1934 – 2014) in seinem Haus, das ab Mitte der 1980er Jahre als Parteizentrum dient. Es gelingt Polacek, Einfluss auf die Skinhead-Szene zu gewinnen, zu dessen Vertretern Thorsten Heise aus Northeim zählt.

Der Aufbau der Neonazi-Strukturen trifft in Südniedersachsen jedoch auf den Widerstand der Antifa-Bewegung. Mittels permanenter militanter Konfrontationen, deren Höhepunkt ein Frontalangriff auf das Haus während einer FAP-Schulung 1991 darstellt, Anschlägen, Aufklärungsarbeit und Demonstrationen, gelingt es, die Neonazis in ihre Schranken zu weisen.[3] Als Polacek 1992 nach Österreich abgeschoben wird, verlagert sich der Schwerpunkt der FAP nach Northeim, zum Wohnhaus von Thorsten Heise. Dort findet 1994 eine Antifa-Demo mit mehr als 3.000 Menschen der Autonomen Antifa (M) statt. Anschließend durchsucht die Polizei das von Neonazis verbarrikadierte Anwesen von Thorsten Heise. Wenige Monate später wird die FAP verboten. Das Verbot wird aufgrund fehlender Parteieigenschaften nach Vereinsrecht durchgeführt. Fast sämtliche Kader der FAP treten bald darauf (wieder) in die NPD ein.

Einen solchen bundesweiten Zusammenschluss wie die FAP hat die Neonaziszene bislang nicht mehr zustande gebracht. Heute existieren mit der Neonazisekte III. Weg, der Kleinstpartei Die Rechte, der diffusen Szene der Freien Kameradschaften und der erheblich geschrumpften NPD vier Fraktionen. Übrig geblieben ist auch Thorsten Heise, dem Ambitionen auf den NPD-Vorsitz nachgesagt werden. Wir werden sehen, was daraus wird.

Foto: Verbrennen der FAP-Standarte vor dem Haus von Thorsten Heise bei der Antifa-Demo in Northeim am 4.6.1994.

[1] Busses Vater ist bereits 1920 Mitglied der NSDAP und SA-Sturmbannführer im Ruhrgebiet. In diesem Geiste erzogen meldet sich Busse, im Jahr 1944 mit gerade mal 15 Jahren freiwillig zur SS-Division-Hitlerjugend und erlebt im letzten Aufgebot als Panzerjäger den Krieg.

[2] Bereits am 24. Dezember 1980 will das VSBD Mitglied Frank Schubert in seinem Auto Waffen aus der Schweiz schmuggeln. Als ihn an der Grenze Schweizer Zöllner kontrollieren wollen, erschießt er zwei der Beamten und verletzt zwei weitere, anschließend erschießt sich Schubert selbst. Im Oktober 1981 stoppt die Polizei in München ein Auto mit fünf VSBD Mitgliedern die von der Wohnung Busses zu einem Banküberfall aufbrechen. Es kommt zu einer Schießerei bei der zwei VSBD-Mitglieder sterben und einer schwer verletzt wird.

[3] Es sollte nicht vergessen werden, dass in diesem Zusammenhang drei Menschen in Göttingen ihr Leben verlieren. 1987 verunglückt der Neonazi Ingo Kretschmann, der zuvor einige Zeit im FAP-Haus in Mackenrode gelebt hat, beim Experimentieren mit selbstgebastelten Sprengkörpern tödlich. 1989 wird Conny Wessmann von der Polizei bei einer Antifa-Aktion vor ein Auto getrieben. In der Nacht zum 1. Januar 1991 wird Alexander Selchow von einem FAP-Mitglied erstochen.

Die Tode von Conny und Alex

Vor 30 Jahren in Göttingen

Man schrieb Freitag, den 17. November 1989, es war eine kalte Novembernacht. In Northeim hatte ich einen Dia-Vortrag über Neonazis gehalten und war auf der Rückfahrt nach Göttingen. Da flackerte von Ferne auf der Weender Landstraße Blaulicht in der Höhe des Iduna Zentrums. Ein Polizeieinsatz gegen 21.30 Uhr, direkt gegenüber des Uni-Geländes, da musste Stress mit Neonazis der Grund sein. Seit das Haus des Frührentners Karl Polacek (1934 – 2014) in Mackenrode der FAP (Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei) als Stützpunkt diente, kam es jedes Wochenende zu Schlägereien in der Stadt. Wir hatten für solche Fälle Telefonketten organisiert um in Kürze militante Gegenwehr auf der Straße organisieren zu können. Neben den Nazis stand allerdings stets schützend die Polizei. Das im Hinterkopf stellte ich mein Auto ab und näherte mich einer merkwürdigen Szene. Einige Genoss_innen aus der autonomen Bewegung liefen konfus herum, andere lagen sich weinend in den Armen. Dazwischen Polizisten, die nicht so recht wussten was zu tun war. Es musst gerade eben passiert sein. Stadtauswärts lief der Verkehr noch. Auf der abgesperrten Fahrbahn in Richtung Stadt, stand ein weißer PKW mit zersplitterter Frontscheibe und offener Fahrertür. Einige Meter davon entfernt lag rücklings eine Frau auf der Fahrbahn. Sie war offensichtlich im hohen Bogen durch die Luft geschleudert worden. Verletzungen waren nicht zu erkennen, das Gesicht war zur Seite gedreht. Doch unter der reglos daliegenden breitete sich eine große Blutlache aus, die in der Kälte kondensierte.

Es dauerte einige Zeit bis der Notarztwagen eintraf und kurz darauf ein weiteres Fahrzeug heran fuhr. Die hinteren Türen des Wagens öffneten sich, und ein Zinksarg kam zum Vorschein. Zwei Männer stellten die Blechkiste neben die Tote und nahmen den Deckel ab. Als die Leichenträger den leblose Körper in den Blechsarg hoben, machte das endgültig klar, die Frau auf dem Asphalt, Kornelia Wessmann, genannt Conny, 24 Jahre, Studentin, war wirklich tot.

Die Verantwortung für diesen Tod hatte die Polizei, wie bei den drei anderen Toten aus der Bewegung zuvor. Olaf Ritzmann, der in Hamburg bei einer Anti-Strauß-Demo 1980 sterben musste. Klaus Jürgen Rattay, Hausbesetzer in Westberlin, der 1981 in den fließenden Verkehr getrieben wurde. Günter Sare, den bei einer Anti-NPD Demonstration in Frankfurt/Main 1985 ein Wasserwerfer überrollte.

Wie in diesen Fällen musste eine Antwort her! In vielen Städten der BRD gingen Menschen auf die Straße und es gab einige Sachschäden. Vor allem in Göttingen, wo es eine Woche lang täglich zu Demonstrationen kam und in der Innenstadt ständig Scheiben von Banken und Kaufhäusern zu Bruch gingen. Den Abschluss bildete eine bundesweite Demo am 25.11.1989.

Die Polizei hielt sich, abgesehen von Vorkontrollen auf der Autobahn, vollständig zurück. Kein Polizist war in der Nähe der Demo zu sehen. Mehr als 18.000 Menschen kamen zusammen, vorn ging ein großer schwarzer Block und die Fahne der Antifaschistischen Aktion mit Trauerflor wehte an der Spitze.

Ab der Kreuzung der Weender Landstraße, lief die Demo bis zur Todesstelle als Schweigemarsch. Erst auf dem Rückweg setzte kurz vor dem erreichen der Fußgängerzone donnernd der Sprechchor: „Feuer und Flamme für diesen Staat!“ ein. Die Worte hallten in der breiten Einkaufsstraße wie ein Racheschrei. Dann zerlegten wir die Innenstadt. Wobei darauf geachtet wurde, das niemand plünderte.

Am Ende, als sich die Demonstration am Jugendzentrum Innenstadt auflöste, preschte plötzlich eine Hundertschaft frontal in die Versammelten. Sofort hagelte es Steine, Flaschen, Feuerwerkskörper und Molotowcocktails auf die Polizisten, die derbe einstecken mussten und flüchteten.

Für die Region Südniedersachsen war Connys Tod von großer Bedeutung. Die Antifa-Bewegung erlebte einen großen Aufschwung und das Verhalten der Polizei geriet unter öffentlichen Druck. Daran änderten auch die Sachschäden in der Innenstadt nichts.

Auch durch den Mord an dem 21-jährigen Wehrdienstleistenden Alexander Selchow in der Silvesternacht 1991 blieb Antifa ein Thema. Zwei FAP-Anhänger erstachen den Bundeswehrsoldaten in Rosdorf bei Göttingen. Diese Tat hatte allerdings mit dem Tod von Conny wenig zu tun. Der Mord an Alex gehörte eher zu der rechtsradikalen Gewaltwelle die durch Anschluss der DDR an die BRD entstand. Allein die Statistik der Bundesregierung führt 83 Todesopfern seit 1990 durch rechtsradikale Gewalttaten auf.

Göttingen, Januar 1991.

„The only serious Trouble“

Der 9. November 1989 und die Antifa – eine persönliche Erinnerung

Bernd Langer

Am Abend des 9. November 1989 hatte wir in Göttingen mit unserer Antifa-Demo gerade, von der Geismar Straße kommend, die Ecke Wendenstraße erreicht. Hier befand sich ein italienisches Restaurant, in dem sich Neonazis trafen. Grund für eine Zwischenkundgebung unserer Anti-Pogrom-Demo. Seit einiger Zeit stellten Neonazis ein erhebliches Problem dar. Im Dorf Mackenrode, 15 Kilometer von Göttingen entfernt, residierte der österreichische Frührentner Karl Polacek und hatte sein Haus zu einem Zentrum für die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) gemacht. In der Partei organisierte sich die Skinheadszene um Thorsten Heise und Jörg Latzkowiak aus Göttingen und Northeim. Eine Sonnenwendfeier im Dezember 1986 brachte die Neonazis zum Ersten mal in die Schlagzeilen. Seitdem kam es ständig zu Schlägereien in der Innenstadt. FAP-Skins machten Jagd auf Schwule, verprügelten Ausländer und versuchten Linke anzugreifen. Als Gegenreaktion organisierte die autonome Szene Telefonketten. Bekannte WGs konnten damit in kürzester Zeit eine ansehnliche Zahl von Militanten mobilisieren.

Niedergang der Autonomen

In Göttingen existierte eine große autonome Szene. Sie hatte seit den 1970er Jahren in der Anti-AKW-Bewegung eine Rolle gespielt und war 1980 durch Hausbesetzungen in Erscheinung getreten. Antifa spielte hingegen bei den Autonomen kaum eine Rolle. Sicher gab es auch in Göttingen Zusammenstöße, aber eine kontinuierliche Antifa-Arbeit entwickelte erst der 1977 entstandene Arbeitskreis Antifaschismus, der sich vor allem aus dem Kommunistischen Bund (KB) rekrutierte und 1981 wieder von der Bildfläche verschwand. Die erste autonome Antifa-Gruppe in Göttingen initiierte ich 1983. Ihr gehörten anfangs gar keine Autonomen an, sondern einige Anarchisten und ein paar jugendliche Aktivisten_innen, die nicht mit den Autonomen verwechselt werden wollten. Daher hieß die Gruppe Unabhängige Antifa, der Name änderte sich erst im Lauf des Jahres 1984 in „Autonome Antifa“. Ohnehin gingen die Aktionen in der Stadt nur zu einem Teil von den im autonomen Plenum organisierten Autonomen aus. Die Übergänge in der politischen Subkultur waren fließend, vor allem zu den sogenannten Gö-Punks.

Im November 1986 kam es erneut zu einer Welle von Hausbesetzungen. Eines dieser Häuser lag in der Burgstraße, unweit eines Büros, das vom NPD-Landesvorsitzenden Hans-Michael Fiedler betrieben wurde. Da die Polizei in der Defensive war, ergriffen wir die Gelegenheit, hackten ein Loch in das Rollo vor dem Schaufenster und stiegen in den Laden ein. Wenig später flog das Inventar nebst allen Büchern und Unterlagen auf die Straße. Einiges wurde zur Auswertung weggeschafft, mit dem Rest vor dem Laden ein großes Feuer entfacht. An dieser Aktion schieden sich wenig später die Geister, weil sie angeblich an die Bücherverbrennung erinnert habe. Aber der Nazi-Krempel musste schnell vernichtet werden.

Zur selben Zeit erfuhr die autonome Bewegung auch bundesweit einen letzten Auftrieb durch den Super-GAU in Tschernobyl. Insbesondere die Auseinandersetzungen um die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf spielten kurzfristig eine herausragende Rolle. Doch ein Grundproblem der Autonomen blieb: Abgesehen von der Phrase, dass man kollektiv und selbstbestimmt kämpfen wollte und militant agierte, existierten keine Konzepte. Ohne eine weitergehende politische Überlegung führte die Militanz zwangsläufig in die Sackgasse.

So kam das unvermeidliche Ende, bei dem die Startbahn-West am Flughafen Frankfurt am Main eine besondere Rolle spielte. Obwohl bereits seit 1984 in Betrieb, fanden weiterhin regelmäßig Aktionen statt. Bis bei einer nächtlichen Demonstration am 2. November 1987 zwei Polizisten erschossen wurden. Die folgende Repression und die selbstzerfleischenden Diskussionen beschleunigten den Niedergang der autonomen Szene.

Zugleich löste sich die 1985 entstandene bundesweite autonome Antifa-Koordination auf. Die letzte größere Aktion war eine Demonstration gegen das Herbstlager der Wiking-Jugend in Hetendorf bei Celle im Herbst 1987, die in einem Polizeikessel endete.

In Südniedersachsen traten die Neonazis immer offensiver in Erscheinung. Wie gefährlich die Entwicklung war, zeigte sich im Januar 1987, als Ingo Kretschmann, aus dem Dunstkreis der FAP um Polacek, beim Experimentieren mit Sprengsätzen tödlich verunfallte. Auch kam es nun in Göttingen und Northeim permanent zu Zusammenstößen mit Faschisten.

Ein Gegenschlag erfolgte durch das Antifa-Kommando Siegbert und Lotte Rotholz. Am 25. Juni 1987 brannten die Kellergarage samt Auto und Teile des Hauses von Karl Polacek nieder. Einen nachhaltigen Erfolg zeitigte das nicht. Nach kurzer Unterbrechung gingen die Auseinandersetzungen in Göttingen weiter. Am Abend des 23. Januar 1988 griffen die Neonazis das Jugendzentrum Innenstadt (JuZI) an. Die Telefonkette funktionierte und die Nazis erlebten ihr blaues Wunder. Sie wurden durch die Stadt zu ihren Autos zurückgeprügelt, die Fahrzeuge demoliert. Das Eingreifen der Polizei unterband die Totalverschrottung, und der geschlagene Haufen wurde zur Autobahn geleitet. Währenddessen nahmen wir in der Innenstadt die Wohnung eines Neonazis auseinander. Alles Private, vom Foto bis zum Bankauszug, wurde zur Auswertung eingesackt, was von Wert und Nutzen war, sozialisiert und der Rest zu Kleinholz verarbeitet, selbst die Rigipswände an einigen Stellen eingeschlagen.

Antifaschistische Aktion

In der Presse war von Zusammenstößen rivalisierender Jugendbanden zu lesen. Mit dieser Floskel wurde stets geleugnet, dass es sich um politische Auseinandersetzungen handelte. In der Bundesrepublik gab es ein Neonazi-Problem, aber es wurde nicht ernst genommen. Lediglich ein paar ewig Gestrige hätten da einige Jugendliche um sich geschart. Das Thema würde sich in einigen Jahren biologisch von alleine erledigen. So predigten es Medien und die etablierten Parteien.

Wir mussten überhaupt erst einmal darum kämpfen, dass Antifa als Feld der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen wurde. Die Gelegenheit ergab sich vor Ort, weil Gewerkschafter mit rechtsradikalen Einstellungen in den Betrieben konfrontiert waren. Es entstand ein Bündnis, das von Autonomen über die Grünen bis zum DGB reichte. Damit betraten wir politisches Neuland. Krönung unserer Bestrebungen war die Antifa-Bündnisdemo am 7. Mai 1988 in Mackenrode. In 20 Reisebussen und etlichen Privatfahrzeugen fuhren 2.000 Demonstrantinnen und Demonstranten aus Göttingen in das Dorf. Angeführt von einem großen schwarzen Block ging es am FAP-Haus vorbei zur Abschlusskundgebung auf dem Dorfplatz. Das Haus wurde mit einigen Farbbeuteln und einzelnen Steinen beworfen. Ein Angriff fand aufgrund der Bündnisabsprachen aber nicht statt. Politisch gelang uns mit der Demo ein großer Erfolg. Nun waren Autonome als politische Bündnispartner anerkannt, und die Wahrnehmung der Antifa in der Öffentlichkeit änderte sich. Um für diesen Weg zu werben, gaben wir eine Broschüre über die Demo heraus. Auf der Titelseite war die rote Fahne der Antifaschistischen Aktion abgebildet, die kurz vor der Mackerode-Demo fertig gestellt wurde und dort zum Ersten mal flatterte. Die Symbolik  war neu und stellte einen kalkulierten Tabubruch dar, weil Autonome eigentlich keine roten Fahnen verwendeten. Bald kopiert, sollte diese Fahne das Symbol der Antifa-Bewegung werden.

Für die Altautonomen war ein Bündnis mit etablierten Kräften Verrat an der revolutionären Sache. Man müsse im Kampf auf die eigenen Kräfte vertrauen und ein schwarzer Block das Haus auch tatsächlich angreifen, hieß es in polemischen Papieren. Wenige Wochen später wurde das Bündnis beendet und ich, als Repräsentant dieser Politik, aus der autonomen Antifa ausgeschlossen. Als Grund diente ein Kritikpapier an einer Aktion in Kassel, das mit Einige Autonome Antifas unterzeichnet war. Daraufhin behauptete die Autonome Antifa, ich würde in ihrem Namen Papiere veröffentlichen. Bei Autonomen bedeutete ein Gruppenausschluss auch soziale Ausgrenzung. Viele Treffpunkte waren damit tabu, Freundschaften gekündigt. Ganz zurückziehen wollte ich mich dennoch nicht und begann mit zunächst zwei Personen an einer Ausstellung kriminalisierter Plakate zu arbeiten. Wir trafen uns regelmäßig im Keller des Grünen Zentrums als Ausstellungsgruppe. Zudem machte sich ein gesellschaftlicher Rechtsruck bemerkbar und wir mischten uns langsam wieder in das politische Geschehen ein und vergrößerten unseren Kreis. Das verlangte jedem Neuzugang einen bewussten Schritt ab. Denn sich zu dieser Gruppe zu bekennen bedeutete, dass der Umgang mit einigen Fraktionen aus der Szene nicht mehr möglich war.

1989 wurde zu einem Jahr bislang nicht gekannter Antifa-Aktivität. Ein Grund war die DVU – Liste D (Deutsche Volksunion). Zunächst ein Verein, gründete sich die DVU 1987 als Partei. Von Anfang an arbeitete sie mit der NPD zusammen und errang bereits im Gründungsjahr ein Mandat in Bremerhaven. Der große Coup war aber mit dem Einzug ins Europa-Parlament im Juni 1989 geplant. NPD und DVU traten gemeinsam als Liste D an und der DVU-Vorsitzende Gerhard Frey pulverte 18 Millionen DM in den Wahlkampf. Es gab eine Postwurfsendung für jeden bundesdeutschen Haushalt und eine Flut an öffentlichen Wahlveranstaltungen. Ernsthafte Konkurrenz hatte die Liste D durch die 1983 gegründeten Republikaner, an deren Spitze seit 1985 Franz Schönhuber stand. Einstmals Freiwilliger der SS-Leibstandarte war Schönhuber nach dem Krieg ein anerkannter Journalist in Bayern, u. a. stellvertretender Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens und Hauptabteilungsleiter des Bayerischen Rundfunks. Doch dann veröffentlichte der Veteran sein Buch Ich war dabei. Es folgte die fristlose Kündigung beim Bayerischen Rundfunk, wogegen der Geschasste klagte und vom Gericht eine Abfindung von 290.000 DM und die sofortige monatliche Pension von 7.000 DM zugesprochen bekam. Derart von finanziellen Sorgen befreit konnte sich Schönhuber mit ganzer Energie in die Politik stürzen. In Westberlin gelangten die Republikaner im Juni 1989 mit  7,5 Prozent der Stimmen in den Senat. Erstmals war dies einer Partei rechts von der CDU gelungen. Ein allgemeiner Aufschrei ging durch die Republik, überall gingen die Menschen gegen den rechtsradikalen Wahlsieg auf die Straßen. Auch in Göttingen kam es zu einer Spontandemo, über die noch länger gesprochen wurde. Da die Polizei nicht so schnell reagieren konnte und nur einige Beamte zur Beobachtung abgestellt waren, verlegten wir die Demoroute kurzerhand durch das Warenhaus C&A.

Für den Europawahlkampf 1989 war dann bundesweit eine wahre Welle von Liste-D-Veranstaltungen angekündigt. Vor der Stadthalle in Göttingen ging es dabei am 13. Mai 1989 zwischen Antifas und der Polizei ziemlich zur Sache. Besonders die extra aus Westberlin angekarrte EbLT (Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training) sorgte für Verhaftete und Verletzte. Einem beherzten Antifaschisten gelang es schließlich, das Mikrofonkabel der NPD zu kappen. Weitere Veranstaltungen der Liste D in und um Göttingen fanden dann nicht mehr statt.

Letztendlich scheiterte die Liste D bei den Europawahlen im Juni  mit 1,6 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Das lag vor allem an den Republikanern, die ihre Konkurrenz überflügelten und mit sieben Prozent der Stimmen ins Europaparlament einzogen.

Anti-Pogrom-Demo

In diesen Auseinandersetzungen hatten wir uns, in einem ätzenden Ringen mit der autonomen Szene, profiliert, ohne einen Gruppennamen zu haben. Aufrufe unterzeichneten wir schlicht mit Autonome Antifas aus Göttingen und verfolgten das Konzept einer breit angelegten Antifa-Arbeit, das von Geschichtsarbeit bis zu Militanz reichte. Letztere ging natürlich nicht von der legal agierenden Gruppe aus.

Unsere Geschichte und Inhalte sollten im Vordergrund stehen. Der 9. November als Datum von Novemberrevolution, Hitlerputsch und Reichspogromnacht bot sich in diesem Zusammenhang an. Historisches ließ sich außerdem gut mit dem aktuellen Geschehen verbinden. So entstand die Idee zur Anti-Pogrom-Demo am 9. November 1989. Wir gewannen dafür auch die Unterstützung einiger anderer linken Gruppen. Zu einer von diesen gehörte  auch Conny Wessmann. Ein Transparent der Demo, das sie mitgestaltet hatte, sollte in den nächsten Monaten noch oft zu sehen sein.

Die Demo fand am Abend statt. Die Route führte mit etlichen Zwischenkundgebungen durch die Stadt. Als wir in Richtung Albani-Kirche weiterzogen, sprach sich auf einmal herum, das in Berlin die Mauer gefallen sei. Wir nahmen das als Neuigkeit hin, ohne weiter darauf zu reagieren. In den letzten Monaten waren viele DDR-Flüchtlinge über die Botschaft in Prag oder die ungarische Grenze abgehauen. Dass in der DDR und in Osteuropa ein Umbruch im Gang war, konnte man nicht übersehen. Der Fall der Mauer kam dann trotzdem überraschend. Aber mit uns hatte das nichts zu tun. Unser Kampf ging weiter und eskalierte wenige Tage später, als Conny Wessmann bei einer Antifa-Aktion starb. Sie gehörte zu einer Gruppe, die am 17. November über eine Telefonkette mobilisiert worden war und sich den Neonazi entgegenstellen wollte. Von der Polizei sollte die Gruppe verhaftet werden, Conny wurde dabei vor ein Auto getrieben. Im Bundesgebiet und vor allem in Göttingen kam es daraufhin zu Demos und militanten Aktionen. Seinen Abschluss fand die Empörung über den Mord  in einer bundesweiten Demonstration am 25. November 1989 in Göttingen mit mehr als 15.000 Menschen. Sämtliche Schaufensterscheiben der großen Kaufhäuser in der Innenstadt gingen zu Bruch, vor dem JuZI kam es zur Konfrontation mit der Polizei, die in die Flucht geschlagen wurde.

Im Trubel um den Mauerfall blieb Connys Tod ein Randthema. Auf den allgemeinen nationalen Wiedervereinigungstaumel reagierte die Linke mit der Kampagne „Nie wieder Deutschland“. Als politische Parole war das zwar eher populistischer Nonsens, doch auch in Göttingen stellten wir unsere Aktionen unter diese Überschrift. Wenn die Bevölkerung einen Staat völlig reformieren und umgestalten würde, wäre das sicher ein interessantes Experiment, aber einen Anschluss der DDR lehnten wir ab. Er würde nur den Kapitalismus und die Kräfte, die wir bekämpften, stärken. So ungefähr war unsere Sicht der Dinge. Was einmal mehr zeigte, dass wir überhaupt keine Ahnung hatten und vollständig überrascht waren. Vor der Grenzöffnung bestanden so gut wie keine Kontakte in die DDR, autonome Strukturen existierten dort ohnehin nicht. Das entwickelte sich jetzt alles sehr schnell und bereits am 10. März 1990 fand die erste autonome Antifa-Demo in Leipzig statt. »Gegen Faschismus und die Einverleibung der DDR durch die BRD« lautete die Parole. Eine Abschlusskundgebung im Hauptbahnhof und selbstgestrickte Sturmhauben blieben mir in Erinnerung, doch weitere Kontakte ergaben sich nicht.

Am 15. März 1990 riefen wir in Göttingen zur Demo auf. Erstmals unter dem Namen Autonome Antifa (M). Es gab ein großes Transparent einer antiimperialistischen Gruppe mit der Aufschrift „Völkerrechtliche Anerkennung der DDR“. Gar nicht anachronistisch war hingegen unsere Agitpropaktion am 2. Oktober 1990, dem Vorabend der sogenannten Wiedervereinigung. Vier Verkleidete (Kapitalist, Polizist, Militarist, SA-Mann), deren Gesichter als Totenschädel geschminkt waren, hielten ein Transparent mit dem Slogan „Wir begrüßen Deutschland!“ in Frakturschrift. Dazu wurden falsche Hunderter als Begrüßungsgeld unters Volk gebracht. Jeder DDR-Bürger und jede DDR-Bürgerin bekam nach der Grenzöffnung 100 DM. Wir meinten, dass 100 Mark allen zustanden und druckten eine Neandertaler auf den Geldschein. Der Hunderter kam dann in einigen Fällen tatsächlich in Umlauf, was ein Verfahren wegen Herstellung und Verbreitung von Falschgeld nach sich zog.

Antifa contra Wiedervereinigung

Nach dieser Agitprop-Aktion zog unsere Demo durch die Stadt. Das Göttinger Tageblatt berichtete am 3. Oktober 1989: „Steine fielen, Böller krachten: Göttingen am Abend vor Deutschland“. Und in der New York Times war zu lesen: „The only serious trouble was reportet in Göttingen, a West German city near the former border, where about 1.000 radical youth went on a rampage, smashing windows and denouncing unity.“

Unsere Agitprop-Aktion und Demo am 2. Oktober setzten wir in den folgenden drei Jahre in immer größerem Format fort. Dann wurden wir kriminalisiert.

Wir wollten die Organisierung der Antifa-Bewegung, waren maßgeblich an der Gründung der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) im Jahr 1992 beteiligt und verfolgten das Konzept eines revolutionären, antikapitalistischen Antifaschismus. Dabei entpuppte sich die untergehende autonome Bewegung als unser größter Widersacher. Allein fünf Aktenorder füllten die Kritikpapiere gegen den Organisierungsprozess.

Währenddessen steigerte sich der Straßenterror der Neonazis. Allein von Oktober 1990 bis Mitte Juni 1991 gab es neun Tote. Darunter war der 21jährige Wehrdienstleistende Alexander Selchow, der in der Silvesternacht 1990 in Rosdorf von Neonazis erstochen wurde. Die Täter stammten aus dem Kreis um Polacek in Mackenrode, der sich kurz darauf in einer Illustrierten mit einem großen Messer beim Interview ablichten ließ. Darauf musste es eine Antwort geben! Die sollte nach der Gedenkdemo für Alex am 5. Januar 1991 mit 5.000 Menschen erfolgen, doch der Aufruf, im Anschluss nach Mackerode zu fahren, wurde vom Veranstalter verhindert. Erst im Herbst sollte es dazu kommen. Wir hatten erfahren, dass in Mackenrode ein Schulungswochenende der FAP stattfand. Im JuZI versammelte sich ein Plenum und zerredete die Idee nach Mackenrode zu fahren. Schließlich stand ich auf und sagte, dass ich losfahren würde, wer Bock hätte, solle sich anschließen. Man schrieb den 26. Oktober 1991 als wir am helllichten Tag Mackenrode erreichten. Es war davon auszugehen, dass wir irgendwann vor dem Haus von der Polizei gestoppt werden würden. Doch es war nur eine Zivilstreife vor Ort, die das Gebäude aus der Entfernung beobachtete. Was nun passierte, hätte man sich nicht besser ausdenken können. Sonst griffen Nazis immer linke Projekte an, hier war es andersherum. Wie wir ausstiegen, formierten wir uns zum Frontalangriff auf das FAP-Haus. Nazis in Parteiuniformen mit Schulterriemen kamen aus dem Gebäude. Nur sie und wir auf der Straße. Steine, Mollis, Zwillen – auf die Fresse. Vier schwerverletzte Neonazis lagen auf der Straße, dazu weitere, die sich mit blutigen Köpfen noch auf den Beinen halten konnten, und verwüstete Vorgärten ließen wir nach ca. 15 Minuten zurück. Das war europaweit eine Zeitungsmeldung wert. Von uns hat es keine(n) erwischt.

Erfolgreiche Bündnisarbeit

Sicher war dies eine herausragende Aktion, doch vor allen Dingen wurden wir durch die Wiederaufnahme der Bündnisdemonstrationen zu einem regionalen Faktor. Es gab noch zwei dieser Bündnisdemos, eine 1993 zum Wohnhaus des NPD-Funktionärs Hans Michael Fiedler in Adelebsen mit mehr als 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die andere 1994 zum Wohnhaus des damaligen FAP-Funktionärs Thorsten Heise in Northeim mit mehr als 3.000 Menschen. Die Demos waren angekündigt, aber nicht angemeldet und stets von einem breiten Bündnis bis hin zu den Grünen und dem DGB unterstützt, angeführt von einem voll ausgerüsteten schwarzen Block von mehr als 1.000 Antifas. Wir bestimmten die Demonstrationen, inhaltlich und visuell. Der schwarze Block wurde als taktisches Mittel eingesetzt, Angriffe gingen von ihm nicht aus.

Unser Kampf war erfolgreich: Der Ausbreitung des Neofaschismus haben wir auf Jahre hinaus Einhalt geboten. Doch in die Zeit unserer größten politischen Erfolge fiel die Kriminalisierung. Der Staat ermittelte gegen uns wegen der „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ (§ 129a). Selbst daran sind wir nicht gescheitert. Aber das wäre bereits eine andere Geschichte.

Abbildung: Der Wi(e)dervereinigungs-Hunderter oder Neandertaler, am Abend des 2.10.1990 in Göttingen verteilt. Einige Scheine gerieten in Umlauf, was Ermittlungen wegen Herstellung und Verbreitung von Falschgeld nach sich zog.

„Frauen lasst uns das selbst in die Hand nehmen!“

Zum Anteil von Frauen am Klassenkampf und Novemberrevolution am Beispiel Bad Lauterberg

Autor: Bernd Langer|erschienen in undercurrents – Forum für linke Literaturwissenschaft im Juli 2019

Sie haben ihre Geschichte nicht aufgeschrieben. Den Arbeiterinnen und Arbeitern fehlte schlichtweg Sinn und Zeit dafür. Was überdauerte, sind Fragmente, Zeitungsmeldungen, hier und da ein Flugblatt, mit Glück eine persönliche Aufzeichnung oder ein Foto. Vieles ging zudem durch die Nazi-Zeit und den Krieg verloren. Danach schwieg man lieber über das, was war. Doch soziale Kämpfe finden nicht im luftleeren Raum statt, sie zeichnen Spuren, verändern und münden in der Gegenwart, in der das nicht Abgegoltene weiter Aufgabe bleibt.

So verstand ich vom Anbeginn meiner Politisierung in den 1970er Jahren die Aneignung und Aufarbeitung der Widerstandsgeschichte als Teil meiner Aufgabe. Dass in meiner ersten politischen Gruppe, dem ‚Antifaschistischen Arbeitskreis Bad Lauterberg‘, ein alter Kommunist mitarbeitete, kam mir dabei zugute. Über die Jahre konnte ich weitere letzte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus meiner Heimatstadt befragen und ein paar spärliche Dokumente sammeln. Mehr und mehr fügten sich die Bruchstücke zu einem Bild.

Ausgangspunkt war für mich die Novemberrevolution 1918. Als große Ausnahme war in Bad Lauterberg mit Lina Heidelberg eine Frau Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates (ASR). Im weiten Umland findet sich erst mit Minna Faßhauer in Braunschweig wieder eine Frau in einem Revolutionsgremium. Minna Faßhauer, die erste Ministerin Deutschlands, war knapp drei Monate im Amt, Lina Heidelberg konnte sich keine zwei Wochen als Mitglied im ASR halten. Honorige Bürger machten Druck, wollten den ASR delegitimieren, am Ende konnte Lina Heidelberg, weil sie eine Frau war, nur noch als Beigeordnete weitermachen.

Der Volksmund nannte sie bald die Rosa Luxemburg von Bad Lauterberg. Ab wann Lina Heidelberg diesen Beinahmen erhielt lässt sich nicht mehr klären. In jedem Fall wurde sie im Jahr 1923 zur lokalen Legende, weil sie den größten Straßenkrawall in der Geschichte Bad Lauterbergs auslöste.

Minna Faßhauer und Lina Heidelberg stammten aus dem Proletariat und handelten aus der politisch wie sozial doppelt entrechteten Rolle als Frau und Arbeiterin. Wie die Kämpferinnen aus der sozialistisch-proletarischen Bewegung vor ihnen. In der folgenden Geschichte will ich an den Anteil dieser Frauen erinnern. Wobei ich Bezeichnungen wie Arbeiterbewegung oder Holzarbeiterstreik als feststehende historische Begriffe betrachte.

Frauen ohne Wahlrecht

Als der ‚Rat der Volksbeauftragen‘ am 9. November 1918 in Berlin die Macht übernahm, hatte sich der Kaiser bereits nach Belgien abgesetzt. Damit war die Monarchie gestürzt, Deutschland eine Republik und der verlorene Weltkrieg konnte am 11. November beendet werden. In den folgenden Tagen wurde die gesellschaftliche Umwälzung auch in der Provinz nachvollzogen. So erreichte die Revolution Bad Lauterberg im Harz, zu diesem Zeitpunkt ein Flecken (Stadtrechte ab 1929), der zum Kreis Osterode im Königreich Preußen gehörte.

Die bisherigen politischen Gremien waren durch ein sozial segregiertes Wahlsystem bestimmt worden. Frauen hatten weder aktives noch passives Wahlrecht. Wählen durften nur Männer, die mindestens 25 Jahre alt waren. Wer öffentliche Armenunterstützung erhielt oder durch ein rechtskräftiges Urteil die bürgerlichen Rechte verloren hatte, blieb vom Wahlrecht ausgeschlossen. Bei den Wahlen zum Provinziallandtag kam hinzu, dass im Königreich Preußen seit der Revolution 1848/49 das Dreiklassenwahlrecht in Kraft war, welches die Wähler nach der Höhe ihrer Steuerleistung in drei ‚Klassen‘ einstufte. Damit nicht genug, konnten bei Gemeindewahlen nur Bürger den Magistrat bestimmen. Das Gesetz unterschied grundsätzlich zwischen Bürgern und Einwohnern. Bürger konnte nur sein, wer ein Haus besaß und Häusersteuer abführte oder wer sonst direkte Landsteuer von mindestens 6 Reichsmark zahlte. Außerdem musste der Betreffende seit mindestens sechs Monaten seinen Wohnsitz am Ort haben und durfte nicht in Lohn und Kost eines anderen stehen. Nur wer diese Voraussetzungen erfüllte, konnte das Bürgerrecht erwerben und bei Gemeindewahlen abstimmen.

Den Bürgern gleichberechtigte Bürgerinnen gab es nicht. Zwar konnte eine Frau durch Erbschaft die sozialen und ökonomischen Privilegien ihres Standes beanspruchen, von den politischen Mitwirkungsrechten blieb sie aber ausgeschlossen. Für Bankgeschäfte, gewerbliche Verträge u. ä. benötigten Frauen einen Mann als Vormund. Die Ehe war gesetzte Norm und man blieb in der Regel ein Leben lang zusammen. Alleinstehend lebte man nur in Ausnahmefällen, den Begriff Single gab es nicht.

Eine Scheidung war unter gewissen Vorrausetzungen in einigen deutschen Staaten ab 1794 möglich, wurde aber erst 1875 mit dem ‚Gesetz über die Eheschließung‘ reichsweit geregelt. Abseits juristischer Möglichkeiten galt eine Scheidung weiterhin als Stigma.

Für die Frau verbanden sich mit der Eheschließung einige Sicherheiten und soziales Prestige, doch blieb sie ein Mensch zweiter Klasse. Bis in die Zeit der Bundesrepublik änderte sich an diesen Verhältnissen wenig. Bis zum 1. Juli 1958 konnte der Ehemann den Arbeitsvertrag seiner Frau ohne deren Einwilligung fristlos kündigen. Auch hatte ein Ehemann das Recht, den Lohn seiner Frau zu verwalten. Ein eigenes Bankkonto können Frauen erst seit 1962 eröffnen, als geschäftsfähig gelten sie seit 1969. Noch bis 1977 durften verheiratete Frauen ohne Genehmigung ihres Ehemannes keine Erwerbstätigkeit aufnehmen.

In Verbindung mit linksliberalen Einflüssen war diese Entmündigung Antrieb für den Feminismus. Dabei strebten die linksliberalen Strömungen des 19. Jahrhunderts nach der Durchsetzung individueller Freiheitsrechte. Sozialistische Gedanken, wie Aufbau eines Sozialstaates, wurden abgelehnt. Der Feminismus bezog sich in seinen Anfängen daher vor allem auf die bürgerlichen Frauen, die sich erheblich in Bildungsniveau, Erziehung usw. von denen aus dem Proletariat unterschieden. Der soziale Stand markierte eine kulturelle Kluft. Tatsächlich grenzten sich Frauen, die sich dem Klassenkampf zurechneten, vom ‚bürgerlichen‘ Feminismus ab. Clara Zetkin, die Wortführerin der proletarischen Frauenbewegung, prägte diese Auseinandersetzung und stilisierte in der Debatte nach marxistischer Denkart die soziale Frage zum gesellschaftlichen Hauptwiderspruch.

Abbildung: ‚The Capitalist Vampire‘, Holzschnitt, 1885, England, von Walter Crane (1845–1915) für das Justice Journal (Parteizeitung der Social Democratic Federation). Späterer Druck mit deutschem Text.
Mit der Fanfare des Sozialismus erweckt der Freiheitsengel mit Jakobinermütze das Proletariat, das dem blutsaugenden Vampir Kapitalismus ausgeliefert ist. Die soziale Frage war die zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung des
19. Jahrhunderts. Patriarchale Unterdrückung wurde von der Arbeiterbewegung als Nebenwiderspruch gesehen.

Der große Holzarbeiterstreik

Der Klassenkampf hatte in Bad Lauterberg bereits vor dem I. Weltkrieg seine Spuren hinterlassen. Ende des 19. Jahrhunderts zählte der Ort zu den wichtigen Zentren der deutschen Möbel-, genauer Stuhlproduktion. Das erklärt, warum wohl bereits 1863 eine sozialdemokratische Ortsgruppe existierte. Auf dem ‚Allgemeinen deutschen sozial-demokratischen Arbeiterkongress‘ im Jahr 1869 in Eisenach befand sich jedenfalls mit Eduard Dannhauer ein Delegierter aus Lauterberg, der 105 Mitglieder vertrat (vgl. Tyke, SPD Bad Lauterberg). Das war der Gründungskongress der SDAP (Sozialistische deutsche Arbeiterpartei). Diese Partei entstand auf Initiative von August Bebel und Karl Liebknecht als marxistisch ausgerichtete Konkurrenz zum ADAV (Allgemeinen deutschen Arbeiterverein).

Als sich in Lauterberg im Jahre 1896 fünf örtliche Möbelfabrikanten zu einem Kartell zusammenschlossen, um die Löhne zu drücken, kam es zu einem erbittert geführten Arbeitskampf, der reichsweit für Aufsehen sorgte. Der große Lauterberger Holzarbeiterstreik (es gab noch einen zweiten mit erheblich weniger Härte geführten 1907/08) dauerte von Mai bis Dezember 1896.

Abbildung: Austragungsort des Streiks war nicht nur Lauterberg, sondern auch eine große Fabrik auf dem Oderfeld und damit die Gemeinde Barbis, zu dieser Zeit mit mehr als 1300 Einwohnern und Einwohnerinnen ein bedeutendes Dorf im Kreis Osterode.

Im Verlauf des achtmonatigen Streiks kam es zu Schlägereien mit angeheuerten Streikbrechern, es gab Verletzte durch Messerstechereien, sogar mit Pistolen wurde aufeinander geschossen und ein Streikbrecher-Lokal brannte nieder. Mehr als 500 Arbeiter und Arbeiterinnen waren im Ausstand oder ausgesperrt. Polizei und Behörden standen auf Seiten der Fabrikanten.

Es gab aber nicht nur Krawalle, vor allem hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter durch den Ausstand zum ersten Mal in ihrem Leben Freizeit. Ansonsten war eine tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden üblich. Gearbeitet wurde sechs Tage die Woche, Urlaub gab es überhaupt nicht. So ist in der Zeitung ‚Der Holzarbeiter‘ Nr. 25 vom 21. Juni 1896 auf Seite 4 zu lesen:

„Eine vorzügliche Wirkung hat diese Aussperrung noch; die Arbeiter haben Muße zum Nachdenken über sozialpolitische Dinge und eine allwöchentlich stattfindende große Versammlung unterstützt die Bildungsbestrebungen in vorzüglicher Weise. Diese Versammlungen verlaufen stets musterhaft und sind sehr stark besucht, so sprachen hier der Reihe nach Gen. Trautwein (600), Gen. Keßler (600), Gen. Weißmann-Halle (600), Genossin Greifenberg-Berlin 700 Personen, darunter viele Frauen.“

Die zeitgenössische Sprachregelung subsumierte unter der Mehrzahl ‚Arbeiter‘ Männer wie Frauen. Hinzu kam, dass in Deutschland Frauen erst ab dem Jahr 1908 Mitglied einer Partei oder Gewerkschaft werden konnten. Allein schon deshalb war es ausgeschlossen, dass eine Frau in einem Streik von 1896 eine offizielle Position einnahm. So wird der Anteil von Frauen in dieser Auseinandersetzung erst bei näherer Betrachtung deutlich.

Leider lässt sich nur über die Agitatorin Marie Greifenberg etwas mehr sagen. Im Gegensatz zu feministischen bürgerlichen Kreisen, die in den achtziger und neunziger Jahren auf das gezielte Verteilen von Petitionen setzten, versuchte die proletarische Frauenbewegung, ihre Basis über Agitationstouren durch das Land zu verbreitern. Als Rednerinnen fungierten begabte Arbeiterinnen. Eine davon war Marie Greifenberg, geb. Fein, Ehefrau eines Kartonarbeiters (vgl. Sachse 2011). Im Übrigen standen Frauen auf beiden Seiten, traten also auch als Streikbrecherinnen in Erscheinung.

Dem Streikführer Fritz Erfurth ging es nicht so sehr um eine Verbesserung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse, sondern um Grundsätzliches, d.h. den Kampf um den Sozialismus. Weshalb sich die Auseinandersetzung radikalisierte. Das öffentliche Leben in Lauterberg war stark beeinträchtigt und ein Streikende nicht abzusehen. Zwar funktionierte die Unterstützung der Streikenden durch den DHV (Deutscher Holzarbeiter Verband), doch kam dieser nach einigen Monaten an seine finanziellen Grenzen. Selbst in der sozialdemokratischen Presse mussten Gelder für den Ausstand in Lauterberg gesammelt werden, damit die Kasse des Holzarbeiterverbandes nicht vollständige ausblutete. Schließlich schritt die Führung des DHV ein, um den Streik schnellstmöglich beizulegen. Inkognito reiste eine Gewerkschaftsdelegation aus Hamburg nach Lauterberg, um zuerst mit den Fabrikanten Kontakt aufzunehmen und deren Bedingungen für die Beilegung der Auseinandersetzungen zu erkunden und zu akzeptieren. Anschließend  brachten die DHV-Delegierten ihrer Basis bei, was diese nun zu tun hatte. Der Streikführer Fritz Erfurth, der gleichzeitig die SPD in Lauterberg anführte, wurde fallen gelassen. Er musste mit seiner Familie den Harz binnen 14 Tagen auf Nimmerwiedersehen verlassen. Sämtliche Arbeiterinnen und Arbeiter wurden zunächst entlassen und mussten bei ihrer Wiedereinstellung eine Erklärung unterschreiben, dass sie kein Mitglied der Gewerkschaft waren (vgl. Das HolzArbeiterBuch 1993).

Solche Erfahrungen wirkten nach und trugen dazu bei, dass die sozialdemokratische Partei am Ort bedeutungslos blieb und sich zu Beginn des I. Weltkrieges auflöste. Doch existierte in Lauterberg weiterhin ein klassisches Proletariat. Insgesamt 17 größere Betriebe beschäftigten ca. 1700 Arbeiterinnen und Arbeiter. Hinzu kamen viele kleine Handwerksbetriebe. Landwirtschaft hatte hingegen kaum Bedeutung für den Ort.

Die Oberschicht repräsentierte ein Bürgertum, das sich Villen bauen ließ und mit den wohlhabenden Kurgästen harmonierte. Bereits ab Sommer 1839 begann auf Initiative des Arztes Dr. Ritscher ein Bäderbetrieb, weshalb die Stadt ab dem Jahr 1906 den Titel Bad tragen durfte. Bald besuchten mehr gut betuchte Kurgäste die Stadt, als sie Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Die sozialen Ungleichheiten zwischen Reich und Arm, Bürgertum und Proletariat, prallten somit unmittelbar und ständig aufeinander.

Die Novemberrevolution

Im Kaiserreich behielt das Bürgertum die Zügel fest in der Hand. Das zeigte sich vor allem bei der politischen Mitbestimmung. So waren in Bad Lauterberg bei den Bürgervorsteherwahlen des Jahres 1913 von den ca. 6000 Einwohnerinnen und Einwohnern nur 581 Bürger (unter 10 Prozent!) stimmberechtigt. Während des Weltkrieges fanden keine Gemeindewahlen statt. Der Krieg führte zu einer drastischen Veränderung der sozialen Verhältnisse. Bereits ab 1915 wurden Lebensmittelkarten eingeführt und im Jahr 1916 übernahm die Oberste Heeresleitung unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff quasi die Regierung. Deutschland unterstand damit faktisch einer Militärdiktatur. Das gesamte öffentliche Leben und die Industrie wurden dem Programm der totalen Kriegsführung unterworfen.

Für Bad Lauterberg hatte dies u.a. die Auswirkung, dass der Rüstungsbetrieb ‚Kuhlmann‘, mit Stammsitz in Rüstringen (Wilhelmshaven), eine Fabrik aufbaute. Mit dem Betrieb kamen im Jahr 1916 auch eine Anzahl von sozialistisch eingestellten Arbeitern aus der Nordseestadt in den Ort. Dass sich 1917 ein ‚Sozialdemokratischer Wahlverein‘ neu gründete, hat vermutlich mit den Arbeitern aus Wilhelmshaven zu tun. In jedem Falle hatte die Gruppe entscheidenden Anteil an der Bildung des Arbeiter – und Soldatenrates (ASR) 1918.

Für den 13. November 1918 kursierte in der Stadt ein Aufruf. Eine Volksversammlung sollte im Stadtzentrum bei der ‚Quelle‘, einem öffentlichen Brunnenpavillon, in dem eine Heilquelle sprudelte, stattfinden. Gegen 14 Uhr wurde eine rote Fahne auf dem Gebäude angebracht und es sammelten sich Tausende von Menschen. Adolf Trauzettel, der Wortführer der Arbeiter aus Wilhelmshaven, eröffnete die Versammlung, deren Tagesordnungspunkte waren: 1.) Bildung des Arbeiter- und Soldatenrates, 2.) Absetzung des Bürgermeisters und des Baumeisters, 3.) Verschiedenes.

Es folgte die Wahl des vorläufigen Arbeiter- und Soldatenrates. Dessen Mitglieder legitimierte die Menge einfach durch Handzeichen. Zum Vorsitzenden wurde Adolf Trauzettel bestimmt. Ein wahrlich revolutionärer Schritt verband sich jedoch mit der Wahl von Lina Heidelberg in den ASR. Gewählt wurde sie sicher deshalb, weil sich viele Frauen unter den Versammelten befanden. Spontan wählten sie eine aus ihren Reihen ins revolutionäre Gremium. Zwar erhielten Frauen durch die Revolution ihr aktives wie passives Wahlrecht, das war aber offiziell erst im Januar 1919 der Fall.

Bislang waren Frauen vor allem in bürgerlichen Organisationen wie dem ‚Evangelischen Frauenbund‘ oder dem ‚Vaterländischen Frauenverein‘ aktiv. Dass sich Frauen, zumal Arbeiterinnen, führend in der sozialistischen Bewegung engagierten, blieb die Ausnahme. Obwohl sie klar in der sozialistischen Bewegung verortet werden kann, ist über ein parteipolitisches Engagement von Lina Heidelberg nichts bekannt. Im November 1918 war sie 46 Jahre alt, hatte ihren Mann verloren und musste sechs Kinder allein großziehen.

Eine Urenkelin berichtete, das Lina Heidelberg als resolute, anpackende Persönlichkeit bekannt war, die sich nicht so leicht von Schwierigkeiten unterkriegen ließ.

Abbildung: ‚Die Quelle‘ in Bad Lauterberg. Ein 1846 errichteter Brunnenpavillon, oft Treffpunkt von Versammlungen und Demonstrationen. Im Jahre 1955 abgerissen. Foto: Felix Petz, 1890.

Nach der Wahl zog die Demonstration zu dem nur wenige hundert Meter entfernt liegenden Rathaus. Es folgte die Absetzung von Bürgermeister und Baumeister. Abschließend wurde, unter allgemeinem Jubel, eine rote Fahne auf dem Rathaus gehisst (BLT – Bad Lauterberger Tageblatt , Nr. 133, 14.11.1918).

Obwohl der ASR offiziell die politische Führung übernommen hatte, blieben Verwaltung und Polizei unangetastet. Die meisten Mitglieder des ASR sahen ihre Tätigkeit lediglich als Provisorium. Möglichst bald sollten reguläre Neuwahlen stattfinden, um einen neuen Stadtrat und einen Bürgermeister zu bestimmen. Mehr als Symbolpolitik war dem ASR ohnehin nicht möglich. Seine Mitglieder hatten keine Erfahrungen hinsichtlich der kommunalen Stadtverwaltung und mussten ihre Maßnahmen stets mit dem Magistrat und dem Bürgervorsteherkollegium abstimmen. Politisch stand der ASR auf Seiten der SPD, distanzierte sich sogar öffentlich von den Bolschewiki und dem Spartakusbund.

Wann sich eine örtliche Sektion der USPD gründete, ist nicht bekannt. Inserate und Berichte im BLT dokumentieren ab April 1919 eine rege Parteiarbeit.

Bürger

Für den 27. November 1918 riefen angesehene Bürger aus Bad Lauterberg „die über 20 Jahre alten Mitglieder der bürgerlichen Parteien (Hervorh. i. Orig., B.L.), Männer und Frauen, auf“, sich im Kursaal zusammen zu finden (BLT, 26.11.1918). Die bevorstehenden Wahlen für die konstituierende Nationalversammlung sollten besprochen werden. Dabei war die Bezeichnung ‚bürgerliche Parteien‘ eine Provokation gegenüber dem ASR und der sozialdemokratisch gesinnten Arbeiterschaft. Denn in der Novemberrevolution spielten die ‚bürgerlichen Parteien‘  keine Rolle, lösten sich auf bzw. bildeten sich gerade wieder neu.

Der vormalige Anhänger der rechtsradikalen ‚Deutschen Vaterlandspartei‘, Direktor Dr. Bartels, führte das Wort. Jetzt, nach der Revolution, konnte von seiner rechtsnationalen Einstellung natürlich keine Rede mehr sein. Im Gegenteil, der Herr Direktor verkündete, auf dem Boden der neuen Regierung Haase/Ebert zu stehen. Dennoch müsse er die Legitimation des ASR in Frage stellen. Eine Wahl einfach so mit Handzeichen, das ginge nicht. Damit kam Direktor Bartels aber beim vollzählig erschienenen ASR nicht durch. Bartels schwenkte daraufhin schnell um und kam auf’s Wesentliche zu sprechen, schließlich ginge es um die Rettung des Vaterlandes, wofür die Wahl der Nationalversammlung eine dringende Voraussetzung sei. Geschickt versuchte Bartels, die Versammelten zu umgarnen. U.a. referierte Rektor Hoff über die nun kommende Einheitsschule und die Lehrmittelfreiheit. „Es solle alles geschehen zum Besten unserer Kinder, für die das Beste gerade gut genug sei.“ (Die Einführung der Einheitsschule und die Lehrmittelfreiheit scheiterten wenig später am Widerstand der bürgerlichen Parteien.)

Noch lebte man von der Hoffnung, alles würde gut werden, USPD und SPD stellten ja mit Haase und Ebert gemeinsam eine rein sozialistische Revolutionsregierung. Lina Heidelberg schenkte der Entwicklung ihr Vertrauen: „Frau Heidelberg erinnerte daran, was die Frauen im Kriege alles erlitten und geduldet haben. Alles sei so knapp, daß es schwer sei, den Hunger zu stillen. Sogar von Seiten unserer Feinde seien die Leistungen der deutschen Hausfrau anerkannt und bewundert. Während das Volk habe hungern und darben müssen, sei in der kaiserlichen Hofhaltung alles vorrätig gewesen: Zucker, Fett, Fleisch usw. Sie rief allen Frauen zu, getreulich auszuharren und der neuen Regierung ihr Vertrauen entgegen zu bringen.“ (BLT, 28.11.1918)

Alsdann wurde von Direktor Bartels die Katze aus dem Sack gelassen. Er schlug die Bildung eines Bürgerrates vor, der die Arbeit des ASR unterstützen sollte. Hier unterschätzten Bartels und seine Bürger die Intelligenz ihrer Kontrahenten. Der Schlosser Pfotenhauer wandte ein, dass der frühere Klassenunterschied jetzt nicht mehr bestünde, es gäbe nur noch Staatsbürger, deshalb sei ein Bürgerrat überflüssig. Eine Gründung dieser Institution wurde mehrheitlich abgelehnt. Einer anderen Forderung musste nachgegeben werden, weil Frauen eben weder Arbeiter noch Soldaten waren. „Vorsitzender gab bekannt, daß Frauen keine Mitglieder im A- und S-Rat sein könnten, wohl aber könnten sie bei der Beratung über Lebensmittelversorgung usw. hinzugezogen werden. Dazu wurden von der Versammlung Frau Heidelberg, Frau Barsch und Frau Leinhos gewählt“ (BLT, 28.11.1918).

Radikalisierung

Für den 19. Januar 1919 wurden die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung angesetzt, im Zuge dessen fanden kurz darauf auch Landtags- und Gemeindewahlen statt. Damit verlor der ASR seine Funktion. Was Dr. Bartels, der bei den Wahlen für die ‚Deutsch-Hannoversche Partei‘ – nach dem hannoverschen Herrschergeschlecht kurz ‚Welfenpartei‘ genannt – antrat, im Verein mit angesehenen Bürgern zum finalen Schlag gegen den ASR nutzen wollte. Es sei angemerkt das sich die ‚Welfenpartei‘ im Zuge ihres Niedergangs ab 1924 in die DNVP und die NSDAP auflöste.

Für den 5. Februar 1919 beriefen angesehene Bürger im Kursaal eine öffentliche Versammlung ein. Vorher verbreitete die ‚Welfenpartei‘ Flugblätter gegen die örtliche SPD, was mit dazu beitrug, dass über 1000 Personen den Saal bis auf den letzten Platz füllten. Mit dem ersten Tagesordnungspunkt wurde die Frage gestellt, ob die Besoldung des ASR im Interesse der Gemeinde wäre. Was die Bürger mit Verweis auf die Geldnot der Kommune verneinten, auch versuchten sie mit allerlei Argumenten den ASR zu diskreditieren und verlangten seine Absetzung. Damit überspannten Dr. Bartels und die Seinen den Bogen. Es gab viel Widerspruch von den anwesenden sozialistisch gesinnten Arbeiterinnen und Arbeitern. Unter denen, die sich zu Wort meldeten, waren Lina Heidelberg und ihre Kollegin Ackermann (Vorname nicht bekannt). Es gab immer mehr Zwischenrufe, so dass Bartels schließlich kapitulieren musste und den Vorsitz der Versammlung einem Angehörigen des ASR übergab (BLT, 6.2.1919). Der ASR bestand weiter und löste sich erst im April 1919 auf. Zu diesem Zeitpunkt sorgte die Lebensmittelversorgung für Zündstoff, die sich nach der Revolution in Bad Lauterberg zunehmend verschlechterte. Schuld daran gab man der Kreisverwaltung in Osterode, wo noch immer der kaiserliche Landrat Freiherr von Stockmar sein Amt ausübte. Mit einer großen Demonstration machten die sozialistischen Parteien in Bad Lauterberg am 9. April 1919 auf diese Misere aufmerksam. Für den Abend rief die USPD zum ersten Mal zu einer Versammlung in den Kursaal auf. Vorsitzender der USPD war der Angestellte Herrmann Stopperich. Sehr viel später, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde Stopperich von den Alliierten als SPD-Vorsitzender eingesetzt und zog im Jahr 1949 als Direktkandidat des Wahlkreises Harz in den ersten Bundestag ein, dem er bis zu seinem Tode 1952 angehörte.

Am 24. April 1919 wurde eine Kommission, bestehend aus 29 Lauterberger SPD- und USPD-Mitgliedern, beim Landrat in Osterode vorstellig. Dieser Vorstoß wurde auch von 3000 Arbeiterinnen und Arbeitern in der Kreisstadt unterstützt, die sich auf dem Marktplatz versammelten. Stopperich verlangte im Namen der Lauterberger Bevölkerung den Rücktritt des Landrats, doch dieser lehnte ab. Daraufhin verkündete die Kommission, dass die Lauterberger Bevölkerung den Landrat forthin als nicht mehr existent betrachten würde.

Weiterhin agierten SPD und USPD gemeinsam und feiern den 1. Mai 1919 in Bad Lauterberg mit einem Umzug zum Schützenplatz. Mehrere tausend Menschen folgten dem Aufruf. Doch bald erfolgte ein tiefer politischer Bruch, der mit dem Einmarsch der Marinebrigade Ehrhardt am 13. März 1920 in Berlin zusammenhing. Gegen den Kapp-Putsch riefen alle sozialistischen und demokratischen Parteien und Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Dass sich ein Aktionsausschuss aus USPD und SPD in Bad Lauterberg bildete, der den Streik proklamierte, war keine Frage. Darüber hinaus stellten linke Aktivisten eine Sicherheitswehr auf, der Bürger nicht angehören durften. Allein das sorgte für viel Unmut beim Bürgertum. Wie konnte es sein, das die sozialistischen Parteien einfach ihre eigene bewaffnete Macht ins Leben riefen, um damit das öffentliche Leben zu kontrollieren? Die Situation eskalierte, als in der Nacht des 17. März Schüsse auf ein bekanntes USPD-Mitglied abgegeben wurden. Seine Genossen handelten sofort, den Bürgern mussten ihre Waffen weggenommen werden. Das nun die Proleten der Sicherheitswehr ohne viel Federlesens ihre Wohnungen durchsuchten, war für viele Bürgerinnen und Bürger eine unfassbare Anmaßung.

Der Putsch brach bereits am 17. März zusammen. Während die gemäßigten Kräfte den Streik daraufhin am 18. März für beendet erklärten, wollten Linkssozialisten erst Bedingungen durchgesetzt wissen bzw. sahen Kommunisten und andere Linksradikale die Zeit für die proletarische Revolution gekommen. In einigen Regionen eskalierte das in bewaffneten Kämpfen. Auch die Sicherheitswehr in Bad Lauterberg wollte ihre Waffen nicht freiwillig abgeben. Schließlich umstellte am 27. März die Reichswehr die Stadt und erzwang die Waffenabgabe. Im Ergebnis führten die Auseinandersetzungen um den Kapp-Putsch zu einer Radikalisierung. Viele USPD-Mitglieder traten zur KPD über und gründeten 1921 eine KPD-Ortsgruppe (BLT 16.3., 18.3. und 30.3.1920, sowie Skript Männel 1951/1992).

Hungerrevolte

Durch den verlorenen Krieg und den Versailler Vertrag war das Deutsche Reich wirtschaftlich ruiniert. Mangelhafte Lebensmittelversorgung und steigende Preise blieben ein ständiges Problem. Im Jahr 1923 eskalierte die Situation in einer Hyperinflation. Geld verlor stündlich an Wert. Auf dem Höhepunkt der Geldentwertung im November 1923 entsprach der Kurs für einen US-Dollar 4,2 Billionen Reichsmark.

Abbildung: Eine Inflationsmedaille dokumentiert die Geldentwertung. Hunger, Elend und Aufruhr waren die Folge, die staatliche Ordnung stand vor dem Kollaps.

Geschäftsleute horteten ihre Waren, hofften auf eine Aufwertung des Geldes, gute Lebensmittel bekam man nur noch auf dem Schwarzmarkt. Mit aller Härte trafen diese Zustände die proletarische Bevölkerung. Es ging den Menschen schlechter als im Krieg, es gab wieder Hunger. Das führte zu Unruhen, die fast den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung zur Folge hatten. Auch in Bad Lauterberg fanden Demonstrationen statt, die schließlich eskalierten:

„Begonnen hat es am Rathaus, im kleinen Kurpark war eine Versammlung. Am kleinen Pavillon […]. Die Leute waren wütend, weil sie hungerten und dabei wussten, dass die Speiskammern der Reichen voll waren. So einfach war das, und schöne Reden füllen auch nicht den Magen. Da nahm dann Lina Heidelberg das Heft in die Hand. ‚Frauen, lasst uns das selbst in die Hand nehmen. Die Männer sind alles Flaschen!‘  und so begann dann der Protest- und Hungermarsch durch Bad Lauterberg“ (Lebenserinnerungen Theo Schlösser o.J.).

Umgehend wurden Lebensmittelläden und Geschäfte von der Menge gestürmt und geplündert. Der anwesende Stadtpolizist war machtlos. Erst zwei Tage nach der Hungerrevolte kam eine Hundertschaft nach Bad Lauterberg. Die Einheit wurde in einer Schule einquartiert und durchkämmte in den folgenden Tagen Wohnungen der proletarischen Bevölkerung. Einiges ‚Diebesgut‘ wurde von den Polizisten noch gefunden, es folgten etliche Gerichtsverhandlungen. Zu den Verurteilten gehörte auch Lina Heidelberg, sie wurde vom Landgericht Göttingen wegen Landfriedensbruch zu drei Monaten und drei Wochen Haft verurteilt.

Die Polizeihundertschaft blieb vorerst in Bad Lauterberg stationiert und ging mehrfach gegen kommunistische Versammlungen und einzelne Linke vor. Höhepunkt dieser Konfrontation war der mysteriöse Mord an dem Polizeiwachtmeister Alwin Hegener in der Nacht des 8. Oktober 1924:

„Es hing mit der Hungerrevolte zusammen. Am Bahnhof […] war ein Schild wegen eines toten Sipo-Mannes [Sicherheitspolizei, B.L.] aufgestellt. Von dem war ein blutbesudeltes Notizbuch gefunden worden […]. Es wurde aber nichts weiter gefunden […]. Man vermutete Rache, weil der Sipo den Ernst Struwe einmal furchtbar verprügelt hatte. Bei ihm wurde das ganze Haus ausgeräumt […]. Es wurde nichts gefunden. Dann stellte die Sipo in der MIAG [Mühlenbau und Industrie Aktiengesellschaft, B.L.] Nachforschungen an, ob die Leiche im Kessel verbrannt worden war. Auch in der Königshütte wurde gesucht, weil man sich erzählte, der Tote sei im Kupolofen verbrannt worden. Man hat dann die Suche eingestellt“ (Lebenserinnerungen von Theo Schlösser).

Es gab auch den Verdacht, die Leiche sei im Wiesenbeker Teich versenkt worden. Das Gewässer wurde abgesucht und sogar Taucher eingesetzt. Alle Bemühungen waren vergebens, die Leiche des Wachtmeisters wurde nie gefunden.          

Mitte der 1920er Jahre beruhigte sich die Situation. Im Jahr 1927 wurde Lina Heidelberg noch einmal wegen Beleidigung zu 40 Reichsmark Geldstrafe verurteilt. Welchen Hintergrund dieses Verfahren hatte, ist nicht bekannt. Über ein weiteres politisches Engagement von Lina Heidelberg finden sich keine Informationen. Sie starb (laut Melderegisterauskunft) am 17. August 1938, wenige Tage vor ihrem 66. Geburtstag.

Quellenverzeichnis

Helga Grebing, Hans-Otto Hemmer, Gottfried Christmann (Hg.) 1993: Das HolzArbeiterBuch. Köln: Bund-Verlag GmbH, Kapitel II, S. 106 – 110, Gottfried Christmann: ‚Revolution im Harz, der Lauterberger Stuhlarbeiterstreik‘.

Jacobshagen 1969: Eberhard Jacobshagen: Die Entwicklung der SPD und KPD in der Weimarer Republik, dargestellt am Beispiel einer niedersächsischen Kleinstadt: Bad Lauterberg. Schriftliche Hausarbeit für das Lehramt Geschichte an Volksschulen.

Sachse 2011: Mirjam Sachse: Von ‚weiblichen Vollmenschen‘ und Klassenkämpferinnen. Dissertation, Kassel.

Teyke, Gudrun: Geschichte der SPD Bad Lauterberg, unter: https://spd-badlauterberg.de/historie-des-ortsverein/ (abgerufen am 1.7.2019)

Schlösser o.J.: Theo Schlösser: Lebenserinnerungen. Nicht gedrucktes Skript, im Besitz des Verfassers.

Männel 1951/1992: Eberhard Männel: Karl Peix ein Kämpfer gegen Krieg und Faschismus. Überarbeitetes handschriftliches Skript, im Besitz des Verfassers.

Zeitungen

Holzarbeiter-Zeitung. Zeitschrift für die Interessen aller Holzarbeiter. Publikationsorgan des Deutschen Holzarbeiter-Verbandes, Nr. 25, Hamburg, 1896.

Bad Lautberger Tageblatt (BLT), erschien 1854 – 1997

Nr. 133, 65. Jahrgang, 14.11.1918, Ausgabe 6.2.1919, Ausgaben 16.3.1920, 18.3.1920. 30.3.1920