When Cowboy Ronny comes to Town
Die Schlacht am Nollendorfplatz – vor 40 Jahren besuchte US-Präsident Reagan Westberlin.
Bernd Langer, 11.06.2022
Zwischen 1979 und 1983 bestimmt die atomare Hochrüstung die politischen Debatten. Das Schreckgespenst eines dritten Weltkriegs droht. Gleich mehrfach sind die Supermächte USA und Sowjetunion in der Lage das Leben auf der Erde auszulöschen. SS 20 stehen gegen Pershing II Raketen und Cruise Missiles. Das heißt, letztere sollen, laut NATO-Doppelbeschluss, erst noch in Westeuropa stationiert werden.
Gegen die atomare Aufrüstung wendet sich weltweit eine neue Friedensbewegung. Sie basiert auf vielen kleinen, unabhängigen Gruppen und Bürgerinitiativen. Unter der Parole »Schwerter zu Pflugscharen« und der Abbildung der Skulptur des sowjetischen Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch, die vor dem UNO-Hauptgebäude in New York steht, findet dies auch in der DDR seinen Widerhall.
Neue Friedensbewegung
In der Bundesrepublik setzt die Friedensbewegung am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten ein unübersehbares Zeichen. Mehr als 800 Organisationen unterstützen den Aufruf »Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen« dem rund 300.000 Menschen folgen. Ab März 1982 koordiniert sich die Bewegung im BAF (Bundeskongress Autonomer Friedensgruppen). Dabei kann das Spektrum der Aufrüstungsgegner kaum gegensätzlicher sein. Christen und Kommunisten der verschiedensten Strömungen agieren neben Gewerkschaftern, Sozialdemokraten, Grünen und besorgten Menschen aller Couleur. Aber das Ziel bzw. der Gegner eint, zumindest vorübergehend.
Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) steht zur Politik der USA, wo seit Januar 1981 Präsident Ronald Reagan regiert. Der erzkonservative Reagan hat sich vor seiner politischen Karriere als Schauspieler in zweitklassigen Western versucht. Für ihn ist die Sowjetunion »das Reich des Bösen«.
Anlässlich der NATO-Gipfelkonferenz vom 9. bis 11. Juni 1982 in Bonn will Reagan für die Raketenstationierung werben. Dagegen mobilisiert die BAF bundesweit mit einem riesigen Friedens-Bündnis für Donnerstag, den 10. Juni. Auf diesen Tag fällt Fronleichnam, der aber nicht in allen Bundesländern ein Feiertag ist. Am folgenden Tag ist eine Stippvisite des US-Präsidenten in Westberlin geplant. Doch der Besuch von US-Außenminister Alexander Haig am 13. September 1981 hat zu Straßenschlachten geführt. Da erneut Ausschreitungen zu befürchten sind, gilt für den 11. Juni ein stadtweites Demoverbot. Dennoch gibt es einen Aufruf sich um 10 Uhr am Nollendorfplatz zu versammeln, und die Alternative Liste (AL) versucht die Demo juristisch durchzusetzen.
Ziviler Ungehorsam wird von den Friedensbewegten akzeptiert und praktiziert, Militanz dagegen abgelehnt. Das beruht auf einer prinzipiell pazifistischen Einstellung, außerdem durchkreuzt Militanz die auf Breite und Verankerung in der Bevölkerung abzielende Politik der Friedensbewegung. Das sieht die militante Szene, die sich über Hausbesetzungen, Antifa und Anti-AKW-Kampf herausgebildet hat, gänzlich anders. In Abgrenzung zum »gewaltfreien Widerstand« bezeichnen sich diese autonomen und antiimperialistischen Gruppen als Antikriegsbewegung und nehmen die Parole »Krieg dem imperialistischen Krieg!« wörtlich.
Als Geburtsstunde dieser militanten Bewegungswelle gilt der 6. Mai 1980. Im Bremer Weserstadion soll an diesem Tag mit der ersten öffentlichen Gelöbnisfeier der Bundeswehr außerhalb einer Kaserne der 25. Jahrestag des NATO-Beitritts gefeiert werden. Es kommt zu schweren Krawallen.
Autonome und Antiimperialistischen-Gruppen verstehen sich im Zusammenhang mit einem weltweiten Befreiungskampf. Ähnlich wie RZ (Revolutionären Zellen) und RAF. Für erstere hegen Autonome große Sympathien. Da die RZ unter der Parole »Schafft viele Revolutionäre Zellen« auf Massenmilitanz setzen, bestehen ideologische Übergangsfelder. Der RAF stehen Autonome dafür distanziert gegenüber. Militärische Strukturen, selbsternannte Avantgarden und das Töten von Menschen passen nicht zu einer antiautoritären Jugendbewegung gegen die postfaschistische BRD-Gesellschaft. Aufhebung autoritärer Strukturen und die Idee einer sozialen Revolte machen sie aus.
Explizit antiimperialistischen Gruppen, kurz Antiimps, orientieren sich hingegen oft deutlicher an der RAF. Darüber hinaus sind all diese Gruppen untereinander in diverse Fraktionen aufgeteilt. Doch eint sie eine Grundhaltung gegen den US-Imperialismus. Mit der Politik der Sowjetunion findet hingegen fast gar keine Auseinandersetzung statt. Es geht um die BRD und deren Politik, die man als im Schlepptau der USA befindlich wahrnimmt.
Lappenkrieg
Im Vorfeld des Reagan-Besuchs führen die RZ vom 1. bis 9. Juni zehn Sprengstoff- und einen Brandanschlag durch. Ziele sind das US-Hauptquartier in Frankfurt am Main, US-Offiziersclubs und Rüstungsunternehmen. Fast noch mehr Aufsehen erregt der »Lappenkrieg« in Westberlin. Transparente mit Parolen gegen den US-Präsidenten an besetzten Häusern werden von der Polizei abgenommen, Parolen übertüncht, selbst Aufkleber verboten und Kassetten mit Kriegsgeräuschen beschlagnahmt. Es entwickelt sich ein Katz- und Maus-Spiel mit hunderten von Polizeieinsätzen.
Aber nicht nur Parolen sind verboten, auch die Demo am 11. Juni wird am Vorabend endgültig vom Oberverwaltungsgericht untersagt. Erlaubt ist eine Kundgebung der AL am 10. Juni am Wittenbergplatz, wo sich ca. 80.000 Menschen versammeln. Gleichzeitig protestieren in Bonn fast 500.000 Menschen an den Rheinwiesen. Das ist die bis dato größte Nachkriegsdemo.
Obwohl alles friedlich verläuft finden im Laufe des Tages in Westberlin zahlreiche Hausdurchsuchungen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) statt, 29 Personen werden in Vorbeugehaft genommen. Denn trotz Verbot mobilisieren autonome und antiimperialistische Gruppen weiterhin für den 11. Juni.
Um für den Staatsbesuch Stimmung zu machen, hat der Senat 500.000 Flugblätter drucken lassen, die jeder Westberliner Tageszeitung außer der TAZ beigelegt werden. Auf ein ›Bad in der Menge‹ muss Reagan dennoch verzichten. Stattdessen wird zur Begrüßung am Flughafen Tempelhof eine handverlesene Menge organisiert und am Charlottenburger Schloss eine Hollywood-Kulisse aufgebaut. Abgeschirmt spricht der Präsident dort vor 25.000 ausgewählten Westberlinern.
Zu den vielen kleinen unabhängigen Gruppen in dieser Zeit zählt auch der Antifaschistische Arbeitskreis Bad Lauterberg. Wir haben uns bereits an der Friedensdemo 1981 in Bonn beteiligt. Aber das war nicht mein Ding, ich bin kein Pazifist sondern verstehe mich als Autonomer. Für einige von uns steht fest, dass wir in Westberlin demonstrieren. Auf eigene Faust wollen wir mit dem PKW fahren, die Übernachtung ist bei einem Bekannten organisiert. Helme, Knüppel oder ähnliches packen wir nicht ein. Wir können nur über die Transitstrecke durch die DDR nach Westberlin gelangen und rechnen damit, durchsucht zu werden.
So kommt es dann auch. Bei der Einreise am Kontrollpunkt Dreilinden wird unser Auto gefilzt. Auf dem Parkplatz stehen ein paar leere Fahrzeuge, deren Aussehen und Aufkleber darauf schließen lassen, dass die Polizei hier fündig geworden ist. Insgesamt werden 72 Personen bei der Einreise nach Westberlin aufgrund des ASOG festgesetzt und teilweise erst nach 48 Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt.
Aber bei uns ist nichts zu finden, wir können weiter.
Nach einer kurzen Nacht nehmen wir am Morgen die U-Bahn. Entgegen vieler Befürchtungen gibt es keine Polizeikontrollen. Kurz vor 10 Uhr steigen wir im überfüllten Bahnhof aus. Eine unüberschaubare Menschenmenge strömt zu den Ausgängen. Die U-Bahn fährt nur unterirdisch, das Gleis oben ist stillgelegt und in alten Wagons ein Flohmarkt eingerichtet. Der hat natürlich geschlossen, die Aufgänge sind mit Eisengittern verriegelt, uniformierte BVG-Angestellte davor postiert. Doch unsere Aufmerksamkeit gilt dem Platz. Als wir ins Freie treten, empfängt uns eine atemberaubende Atmosphäre. Eine Art Rauschen ist zu hören, das hunderte von Menschen erzeugen, die Pflastersteine aneinander schlagen. Adrenalin steigt ins Blut, Euphorie und Furcht prickeln durch den Körper. Im großen Rund sind überall Gleichgesinnte zu sehen, hier und da mit Helmen.
Unvergessliche Bilder, wie ein Typ mit Helm, Maske und schwarzer Lederjacke der auf einem Poller steht. In seiner Rechten hält er ein langes Stahlrohr, oben plattgeklopft, aufrecht wie einen Spieß. Der U-Bahnhof ist teilweise eingerüstet, dort werden einige Stahlrohre abmontiert. Überall wühlen Leute Steine aus den Gehwegen und werfen sie auf die Straße.
Im Kessel
Mehrere tausend Militante aus dem gesamten Bundesgebiet sind trotz Verbot auf dem Nollendorfplatz versammelt und ab kurz nach 10 Uhr eingeschlossen. Die Polizei riegelt alle sechs Zufahrtsstraßen ab. Ringsum Wasserwerfer, Polizeiwannen, Hundertschaften. NATO-Draht wird ausgerollt. Mit Presslufthämmern sind vorher Halterungen für den Drahtverhau in der Straßendecke verankert worden. »Aktion Eisenbart« taufen Polizeistrategen diese Massenfestsetzung.
Auf dem Platz gibt es weder Transparente noch einen Lautsprecherwagen, nicht mal ein Megafon. Jeder ist auf sich bzw. seine Bezugsgruppe gestellt. Für unseren alten Freund, bei dem wir übernachten, ist das alles zu viel, er will nur noch raus. Das wollen auch eine Reihe von Passanten, die zufällig im Kessel gelandet sind.
Doch die U-Bahn-Eingänge sind mit Gittern verschlossen, dahinter uniformierte BVG-Knechte. Verzweifelte rütteln an den Gittern. Daraufhin ziehen die BVG’ler grinsend mit Knüppeln kreuz und quer über die Gitterstäbe oder schlagen direkt auf die Hände. Dem Dreckspack macht das Spaß.
In der Maaßenstraße, unweit des Geschäfts Möbel Roland, fährt ein Lautsprecherwagen der Polizei auf und gibt bekannt, dass die Demo verboten ist. An vorbereiteten Kontrollstellen könne man einzeln, nach Feststellung der Personalien und Durchsuchung den Platz verlassen. Das mit den Passierstellen ist jedoch eine Lüge, niemand kommt vom Nollendorfplatz.
Wut und Frust entladen sich in Richtung Lautsprecherwagen. Ein Steinhagel zwingt die Polizisten in Deckung, es gelingt den Stacheldraht beiseite zu ziehen und ein paar Meter in die Maaßenstraße vorzudringen. Sogleich wird die Attacke von der Polizei zurückgeschlagen, ein paar Leute verheddern sich beim zurückrennen im NATO-Draht, nur knapp können sie den vorstürmenden Polizisten entkommen.
Dumpfe Abschüsse sind zu hören. Einen weißen Schweif hinter sich herziehend fliegen Gasgranaten auf dem Platz. Tränengas ist ätzend, gerät man hinein, ist man mit einem Schlag orientierungslos und hat das Gefühl ersticken zu müssen. Gegen den bohrenden Schmerz in den Augen hilft nur das Ausspülen mit Wasser. Die Granaten bestehen aus einer Aluminiumkapsel die in einer weißen Styropor Ummantelung steckt. Beim Auftreffen fliegt das Styropor weg oder verschmort an der Kapsel. Mit dicken Handschuhen kann man die ziemlich heiß werdenden Aluminiumkapseln zurückwerfen. Während die Polizei mit Gasmasken ausgerüstet ist, sehe ich bei Autonomen keine einzige. Man greift auf primitive Hilfsmittel zurück. Ich habe eine weiße Bundeswehr-Gasschutzbrille auf und ein mit Zitronensaft getränktes Tuch vor dem Gesicht. Ein wenig hilft das. Im Tohuwabohu auf dem Platz taucht vor uns ein Typ mit blutender Kopfwunde auf. Er ruft nach einem Sanitäter und schimpft auf die Idioten, die ihm von hinten mit einem Stein getroffen haben.
Auf der Suche nach einer Passierstelle gehen wir in die Motzstraße. In der Mitte der Fahrbahn geben die Stacheldrahtrollen den Weg frei, in der breiten Lücke stehen kampfbereite Hundertschaften hinter denen Wasserwerfer aufgefahren sind. Hier ist kein Durchkommen. Sogleich beginnen Schimpfereien von Leuten die den Platz verlassen wollen, der Einsatzleiter wird verlangt. Aber kein Verantwortlicher tritt in Erscheinung, dafür gibt die Polizei über Lautsprecher eine andere Kontrollstelle bekannt. Dem schenkt niemand mehr Glauben. Wir wollen zurück auf den Platz, als sich vor uns auf der gesamten Breite der Straße ein schwarzer Block formiert. Wir weichen in einen Hauseingang aus.
Dicht an dicht, untergehakt, Helme, schwarze Sturmhauben und Lederjacken, so rücken die Autonomen langsam heran. Viele haben Knüppel oder Eisenstangen in den Händen, einige reihen sich noch ein. Vereinzelt sind graue Haare unter der Maskierung zu erkennen. Noch nie habe ich so alte Leute bei den Autonomen gesehen. Ich werde an diesem Tag 22 Jahre alt, sehr viel älter sind Autonome für gewöhnlich nicht.
Beim Anblick der kampfentschlossenen Militanten werden die Polizisten unruhig. »Linie zusammenrücken!«, schallt es aus einem Lautsprecher. Plötzlich trommeln die Polizisten auf ihre Schilde, der bollernde Ton dröhnt durch die Straße. Seltsamerweise fliegt kein Stein, auch Tränengas wird nicht verschossen.
In Trippelschritten schiebt sich der Block bis auf wenige Meter an die Polizeikette heran. Da hört das Trommeln auf die Schilde mit einem Schlag auf. Für einen Moment sind nur die Schritte aus dem schwarzen Block zu hören. Gespannte Gesichter bei der Polizei, ihre Plexiglasschilde hochgezogen, die Schlagstöcke fest in den Fäusten. Dann ein Ruf und fast gleichzeitig lassen sich die Autonomen los und schießen wie ein Blitz heran. Knüppel schmetterten auf Helme und Schilde, dazwischen das eklige, dumpfe Geräusch wenn ein Schlag einen Körper trifft. Einige Autonome sacken von Schlägen getroffen weg, durch ihre Schilde und Helme sind die Polizisten im Vorteil. Die Autonomen kommen nicht durch. Die Reihen trennen sich, ohne dass die Polizei nachsetzt.
Doch es ist noch nicht zu Ende. In etwa fünf Meter Abstand formiert sich der Block neu. Der Durchbruch soll erzwungen werden, und in neuem Anlauf krachen die Reihen aufeinander. Die Autonomen versuchen die Polizisten hinter ihren Schilden in die Defensive zu drängen. Ab und zu gelingt ein Schlag über einen Schild, direkt auf den Helm. Um zuzuschlagen müssen die Polizisten einen Ausfallschritt machen. Links den Schild anheben und mit der Rechten den langen Schlagstock durchziehen. Es wirkt wie bei einer Schlacht aus ferner Zeit. Aber trotz aller Entschlossenheit bleiben die Autonomen unterlegen. Binnen weniger Minuten gibt es unter ihnen wieder etliche Verletzte, sie weichen geschlossen zurück. Keuchend stehen die Polizisten da, den Schrecken im Gesicht. Aber ihre Reihen haben gehalten.
Durchbruch
Wir kehren auf den Platz zurück. An sämtlichen Sperren greifen Militante die Polizei an. Wahre Steinwolken gehen auf die sie nieder, aber die NATO-Drahtrollen verhindern wirkungsvolle Durchbruchsversuche. Im Getümmel wird die Mercedes-Limousine eines US-amerikanischen Fernsehteams entdeckt. Das Auto wird auf den Platz gezerrt, auf das Dach gedreht und angezündet. Insgesamt gehen an diesem Tag mindestens zehn Fahrzeuge in Flammen auf.
Kurz nach 11 Uhr werden endlich Kontrollstellen geöffnet, viele verlassen den Kessel. Wer bleibt, ist entschlossen zu kämpfen. Die Konfrontation eskaliert zur wohl härtesten Straßenschlacht in der Geschichte Westberlins. Mit Eisenstangen und Steinen, etwas anderes steht nicht zur Verfügung, rennen wir immer wieder gegen die Polizei an. Es geht über Stunden so, ohne an Intensität zu verlieren. Rund um den Nollendorfplatz erstreckt sich die Kampfzone. Flammen, Qualm, Martinshörner, Wasserwerfer, Pflastersteine, Tränengas, überall Scharmützel. Die Lage wird zunehmend unübersichtlich. Vor allem bekommt die Polizei Probleme weil Hundertschaften auch von Gruppen außerhalb des Kessels angegriffen werden. Auf dem Kudamm versuchen 1.500 Leute, die nicht mehr auf den Platz gekommen sind, eine Spontan-Demo durchzusetzen. Die wird von der Polizei schnell aufgelöst. Aber es sind sicher noch mindestens 2.000 Menschen auf dem Nollendorfplatz, und die gleiche Zahl greift die Polizeiabsperrungen von außen an.
Der Ausbruch muss jedoch von innen erfolgen. An der Ecke Maaßenstraße, wo Möbel Roland seine Schaufenster mit Spanplatten verbarrikadiert hat, kracht und splittert es, die Platten werden weggebrochen, die Schaufenster gehen zu Bruch. Möbel, Bücher Attrappen und anderer Krempel fliegen auf die Straße. In Richtung Bülowstraße entsteht eine brennende Barrikade. Teppiche aus dem Möbelgeschäft werden über die NATO-Drahtrollen geworfen und eine größere Gruppe versucht darüber zu stürmen. Das misslingt, doch einige Rollen sind plattgedrückt oder aus ihren Verankerungen gerissen.
Irgendwann befinde ich mich von meiner Bezugsgruppe getrennt an einer Stelle, an der es bereits mehrere Attacken gegeben hat. Die Drahtrollen in der Straßenmitte sind weggezogen. Dahinter stehen Polizisten mit Gasmasken, sie schießen Granaten, sobald sich eine Menschentraube bildet. Es gilt, sich spontan zusammenzuschließen und überraschend die Polizeiabsperrungen anzugreifen.
So kommen wir zusammen, ein Pulk, der schnell auf ein paar hundert Leute anwächst. Viel Zeit bleibt nicht, Brüder und Schwestern im Geiste formieren wir uns ohne Leitung. Vertrauen uns ganz einfach so. Niemand wird zurückstehen.
Mit einem Steinhagel setzen wir über den NATO-Draht. Die überraschten Polizisten geraten in Panik, springen in die anfahrenden Wannen, Steine fliegen in die offenen Türen. Sie rasen davon. Wir haben sie geschlagen, ein Wahnsinnsgefühl!
Die Auseinandersetzungen sind damit aber noch lange nicht beendet, sondern verlagern sich auf den benachbarten Winterfeldplatz, wo sie bis in die frühen Abendstunden andauern. Ich sehe jedoch keinen Sinn in einer weiteren Konfrontation und setzte mich ab.
Aus dem Areal zwischen Winterfeld- und Nollendorfplatz bis zur Bülowstraße hat sich die Polizei weitgehend zurückgezogen. Überall kokelnde Barrikaden und einige Autowracks. Der Boden ist mit unzähligen Pflastersteinen übersät, dazwischen hunderte von weißen Styroporkapseln abgeschossener Tränengasgranaten.
Und da steht doch an der Bülowstraße, Ecke Zietenstraße, eine verlassen Bullenwanne. Das Fahrzeug ist wegen eines Motorschadens zurückgelassen worden. Schnell finden sich ein paar Leute zusammen, und die Wanne wird auf die Seite gelegt. Kurz darauf brennt sie lichterloh. Das Bild geht später um die Welt.
Großartige Fotos und Gefühlserlebnisse sind aber nur zwei Aspekte dieses Tages. Zur Bilanz gehören hunderte von Verletzten und 415 Festnahmen. Es gibt zivile Greiftrupps, die Leute mit gezogener Pistole festnehmen, und in der Nacht durchsucht die Polizei besetzte Häuser. Gegen 22 Personen werden Haftbefehle wegen schwerem Landfriedensbruch ausgestellt. Auch im Nachhinein gibt es etliche Haussuchungen, und noch Monate später wertet die Polizei Fotos und Videoaufzeichnungen aus. Ein Aktivist bekommt für einen nachgewiesenen Steinwurf dreieinhalb Jahre Knast.
Die AL hat sich politisch ziemlich aus dem Fenster gelehnt und distanziert sich nicht von der verbotenen Demonstration. In der Nacht zum 12. Juni werden ihr Büro und die daneben befindliche Igel-Kneipe ein Raub der Flammen. Gleich in der Nacht des Brandanschlags gibt es eine Soli-Demo. Ich erinnere mich noch genau, wie ein pöbelnder Mob uns vom Straßenrand aus beschimpft. Wir sind eben nur eine kleine radikale Minderheit.
Nach dem 11. Juni 1982 werden militante antiimperialistische Demonstrationen nicht mehr zugelassen. Als US-Vizepräsident George Bush am 25. Juni 1983 Krefeld besucht, wird ein entsprechender Versuch von der Polizei im Ansatz zerschlagen und 118 Strafermittlungsverfahren eingeleitet. Zum letzten Aufbäumen von Friedens- und Antikriegsbewegung gerät dann der »Heiße Herbst« 1983. Mittels »Störmanövern« sollen die NATO-Herbstmanöver sabotiert werden. Schließlich beginnt im November 1983 die Stationierung der US-Atomraketen. Damit bricht die Mobilisierungsfähigkeit zusammen. Die Autonomen machen trotzdem weiter, allerdings bald auf anderem Terrain. So wird in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre autonomer Antifaschismus mehr und mehr zum bestimmenden Thema.