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When Cowboy Ronny comes to Town

Die Schlacht am Nollendorfplatz – vor 40 Jahren besuchte US-Präsident Reagan Westberlin.

Bernd Langer, 11.06.2022

Zwischen 1979 und 1983 bestimmt die atomare Hochrüstung die politischen Debatten. Das Schreckgespenst eines dritten Weltkriegs droht. Gleich mehrfach sind die Supermächte USA und Sowjetunion in der Lage das Leben auf der Erde auszulöschen. SS 20 stehen gegen Pershing II Raketen und Cruise Missiles. Das heißt, letztere sollen, laut NATO-Doppelbeschluss, erst noch in Westeuropa stationiert werden.
Gegen die atomare Aufrüstung wendet sich weltweit eine neue Friedensbewegung. Sie basiert auf vielen kleinen, unabhängigen Gruppen und Bürgerinitiativen. Unter der Parole »Schwerter zu Pflugscharen« und der Abbildung der Skulptur des sowjetischen Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch, die vor dem UNO-Hauptgebäude in New York steht, findet dies auch in der DDR seinen Widerhall.

Neue Friedensbewegung

In der Bundesrepublik setzt die Friedensbewegung am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten ein unübersehbares Zeichen. Mehr als 800 Organisationen unterstützen den Aufruf »Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen« dem rund 300.000 Menschen folgen. Ab März 1982 koordiniert sich die Bewegung im BAF (Bundeskongress Autonomer Friedensgruppen). Dabei kann das Spektrum der Aufrüstungsgegner kaum gegensätzlicher sein. Christen und Kommunisten der verschiedensten Strömungen agieren neben Gewerkschaftern, Sozialdemokraten, Grünen und besorgten Menschen aller Couleur. Aber das Ziel bzw. der Gegner eint, zumindest vorübergehend.
Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) steht zur Politik der USA, wo seit Januar 1981 Präsident Ronald Reagan regiert. Der erzkonservative Reagan hat sich vor seiner politischen Karriere als Schauspieler in zweitklassigen Western versucht. Für ihn ist die Sowjetunion »das Reich des Bösen«.
Anlässlich der NATO-Gipfelkonferenz vom 9. bis 11. Juni 1982 in Bonn will Reagan für die Raketenstationierung werben. Dagegen mobilisiert die BAF bundesweit mit einem riesigen Friedens-Bündnis für Donnerstag, den 10. Juni. Auf diesen Tag fällt Fronleichnam, der aber nicht in allen Bundesländern ein Feiertag ist. Am folgenden Tag ist eine Stippvisite des US-Präsidenten in Westberlin geplant. Doch der Besuch von US-Außenminister Alexander Haig am 13. September 1981 hat zu Straßenschlachten geführt. Da erneut Ausschreitungen zu befürchten sind, gilt für den 11. Juni ein stadtweites Demoverbot. Dennoch gibt es einen Aufruf sich um 10 Uhr am Nollendorfplatz zu versammeln, und die Alternative Liste (AL) versucht die Demo juristisch durchzusetzen.
Ziviler Ungehorsam wird von den Friedensbewegten akzeptiert und praktiziert, Militanz dagegen abgelehnt. Das beruht auf einer prinzipiell pazifistischen Einstellung, außerdem durchkreuzt Militanz die auf Breite und Verankerung in der Bevölkerung abzielende Politik der Friedensbewegung. Das sieht die militante Szene, die sich über Hausbesetzungen, Antifa und Anti-AKW-Kampf herausgebildet hat, gänzlich anders. In Abgrenzung zum »gewaltfreien Widerstand« bezeichnen sich diese autonomen und antiimperialistischen Gruppen als Antikriegsbewegung und nehmen die Parole »Krieg dem imperialistischen Krieg!« wörtlich.
Als Geburtsstunde dieser militanten Bewegungswelle gilt der 6. Mai 1980. Im Bremer Weserstadion soll an diesem Tag mit der ersten öffentlichen Gelöbnisfeier der Bundeswehr außerhalb einer Kaserne der 25. Jahrestag des NATO-Beitritts gefeiert werden. Es kommt zu schweren Krawallen.
Autonome und Antiimperialistischen-Gruppen verstehen sich im Zusammenhang mit einem weltweiten Befreiungskampf. Ähnlich wie RZ (Revolutionären Zellen) und RAF. Für erstere hegen Autonome große Sympathien. Da die RZ unter der Parole »Schafft viele Revolutionäre Zellen« auf Massenmilitanz setzen, bestehen ideologische Übergangsfelder. Der RAF stehen Autonome dafür distanziert gegenüber. Militärische Strukturen, selbsternannte Avantgarden und das Töten von Menschen passen nicht zu einer antiautoritären Jugendbewegung gegen die postfaschistische BRD-Gesellschaft. Aufhebung autoritärer Strukturen und die Idee einer sozialen Revolte machen sie aus.
Explizit antiimperialistischen Gruppen, kurz Antiimps, orientieren sich hingegen oft deutlicher an der RAF. Darüber hinaus sind all diese Gruppen untereinander in diverse Fraktionen aufgeteilt. Doch eint sie eine Grundhaltung gegen den US-Imperialismus. Mit der Politik der Sowjetunion findet hingegen fast gar keine Auseinandersetzung statt. Es geht um die BRD und deren Politik, die man als im Schlepptau der USA befindlich wahrnimmt.

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Lappenkrieg
Im Vorfeld des Reagan-Besuchs führen die RZ vom 1. bis 9. Juni zehn Sprengstoff- und einen Brandanschlag durch. Ziele sind das US-Hauptquartier in Frankfurt am Main, US-Offiziersclubs und Rüstungsunternehmen. Fast noch mehr Aufsehen erregt der »Lappenkrieg« in Westberlin. Transparente mit Parolen gegen den US-Präsidenten an besetzten Häusern werden von der Polizei abgenommen, Parolen übertüncht, selbst Aufkleber verboten und Kassetten mit Kriegsgeräuschen beschlagnahmt. Es entwickelt sich ein Katz- und Maus-Spiel mit hunderten von Polizeieinsätzen.
Aber nicht nur Parolen sind verboten, auch die Demo am 11. Juni wird am Vorabend endgültig vom Oberverwaltungsgericht untersagt. Erlaubt ist eine Kundgebung der AL am 10. Juni am Wittenbergplatz, wo sich ca. 80.000 Menschen versammeln. Gleichzeitig protestieren in Bonn fast 500.000 Menschen an den Rheinwiesen. Das ist die bis dato größte Nachkriegsdemo.
Obwohl alles friedlich verläuft finden im Laufe des Tages in Westberlin zahlreiche Hausdurchsuchungen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) statt, 29 Personen werden in Vorbeugehaft genommen. Denn trotz Verbot mobilisieren autonome und antiimperialistische Gruppen weiterhin für den 11. Juni.
Um für den Staatsbesuch Stimmung zu machen, hat der Senat 500.000 Flugblätter drucken lassen, die jeder Westberliner Tageszeitung außer der TAZ beigelegt werden. Auf ein ›Bad in der Menge‹ muss Reagan dennoch verzichten. Stattdessen wird zur Begrüßung am Flughafen Tempelhof eine handverlesene Menge organisiert und am Charlottenburger Schloss eine Hollywood-Kulisse aufgebaut. Abgeschirmt spricht der Präsident dort vor 25.000 ausgewählten Westberlinern.
Zu den vielen kleinen unabhängigen Gruppen in dieser Zeit zählt auch der Antifaschistische Arbeitskreis Bad Lauterberg. Wir haben uns bereits an der Friedensdemo 1981 in Bonn beteiligt. Aber das war nicht mein Ding, ich bin kein Pazifist sondern verstehe mich als Autonomer. Für einige von uns steht fest, dass wir in Westberlin demonstrieren. Auf eigene Faust wollen wir mit dem PKW fahren, die Übernachtung ist bei einem Bekannten organisiert. Helme, Knüppel oder ähnliches packen wir nicht ein. Wir können nur über die Transitstrecke durch die DDR nach Westberlin gelangen und rechnen damit, durchsucht zu werden.
So kommt es dann auch. Bei der Einreise am Kontrollpunkt Dreilinden wird unser Auto gefilzt. Auf dem Parkplatz stehen ein paar leere Fahrzeuge, deren Aussehen und Aufkleber darauf schließen lassen, dass die Polizei hier fündig geworden ist. Insgesamt werden 72 Personen bei der Einreise nach Westberlin aufgrund des ASOG festgesetzt und teilweise erst nach 48 Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt.
Aber bei uns ist nichts zu finden, wir können weiter.
Nach einer kurzen Nacht nehmen wir am Morgen die U-Bahn. Entgegen vieler Befürchtungen gibt es keine Polizeikontrollen. Kurz vor 10 Uhr steigen wir im überfüllten Bahnhof aus. Eine unüberschaubare Menschenmenge strömt zu den Ausgängen. Die U-Bahn fährt nur unterirdisch, das Gleis oben ist stillgelegt und in alten Wagons ein Flohmarkt eingerichtet. Der hat natürlich geschlossen, die Aufgänge sind mit Eisengittern verriegelt, uniformierte BVG-Angestellte davor postiert. Doch unsere Aufmerksamkeit gilt dem Platz. Als wir ins Freie treten, empfängt uns eine atemberaubende Atmosphäre. Eine Art Rauschen ist zu hören, das hunderte von Menschen erzeugen, die Pflastersteine aneinander schlagen. Adrenalin steigt ins Blut, Euphorie und Furcht prickeln durch den Körper. Im großen Rund sind überall Gleichgesinnte zu sehen, hier und da mit Helmen.
Unvergessliche Bilder, wie ein Typ mit Helm, Maske und schwarzer Lederjacke der auf einem Poller steht. In seiner Rechten hält er ein langes Stahlrohr, oben plattgeklopft, aufrecht wie einen Spieß. Der U-Bahnhof ist teilweise eingerüstet, dort werden einige Stahlrohre abmontiert. Überall wühlen Leute Steine aus den Gehwegen und werfen sie auf die Straße.

Im Kessel
Mehrere tausend Militante aus dem gesamten Bundesgebiet sind trotz Verbot auf dem Nollendorfplatz versammelt und ab kurz nach 10 Uhr eingeschlossen. Die Polizei riegelt alle sechs Zufahrtsstraßen ab. Ringsum Wasserwerfer, Polizeiwannen, Hundertschaften. NATO-Draht wird ausgerollt. Mit Presslufthämmern sind vorher Halterungen für den Drahtverhau in der Straßendecke verankert worden. »Aktion Eisenbart« taufen Polizeistrategen diese Massenfestsetzung.
Auf dem Platz gibt es weder Transparente noch einen Lautsprecherwagen, nicht mal ein Megafon. Jeder ist auf sich bzw. seine Bezugsgruppe gestellt. Für unseren alten Freund, bei dem wir übernachten, ist das alles zu viel, er will nur noch raus. Das wollen auch eine Reihe von Passanten, die zufällig im Kessel gelandet sind.
Doch die U-Bahn-Eingänge sind mit Gittern verschlossen, dahinter uniformierte BVG-Knechte. Verzweifelte rütteln an den Gittern. Daraufhin ziehen die BVG’ler grinsend mit Knüppeln kreuz und quer über die Gitterstäbe oder schlagen direkt auf die Hände. Dem Dreckspack macht das Spaß.
In der Maaßenstraße, unweit des Geschäfts Möbel Roland, fährt ein Lautsprecherwagen der Polizei auf und gibt bekannt, dass die Demo verboten ist. An vorbereiteten Kontrollstellen könne man einzeln, nach Feststellung der Personalien und Durchsuchung den Platz verlassen. Das mit den Passierstellen ist jedoch eine Lüge, niemand kommt vom Nollendorfplatz.
Wut und Frust entladen sich in Richtung Lautsprecherwagen. Ein Steinhagel zwingt die Polizisten in Deckung, es gelingt den Stacheldraht beiseite zu ziehen und ein paar Meter in die Maaßenstraße vorzudringen. Sogleich wird die Attacke von der Polizei zurückgeschlagen, ein paar Leute verheddern sich beim zurückrennen im NATO-Draht, nur knapp können sie den vorstürmenden Polizisten entkommen.
Dumpfe Abschüsse sind zu hören. Einen weißen Schweif hinter sich herziehend fliegen Gasgranaten auf dem Platz. Tränengas ist ätzend, gerät man hinein, ist man mit einem Schlag orientierungslos und hat das Gefühl ersticken zu müssen. Gegen den bohrenden Schmerz in den Augen hilft nur das Ausspülen mit Wasser. Die Granaten bestehen aus einer Aluminiumkapsel die in einer weißen Styropor Ummantelung steckt. Beim Auftreffen fliegt das Styropor weg oder verschmort an der Kapsel. Mit dicken Handschuhen kann man die ziemlich heiß werdenden Aluminiumkapseln zurückwerfen. Während die Polizei mit Gasmasken ausgerüstet ist, sehe ich bei Autonomen keine einzige. Man greift auf primitive Hilfsmittel zurück. Ich habe eine weiße Bundeswehr-Gasschutzbrille auf und ein mit Zitronensaft getränktes Tuch vor dem Gesicht. Ein wenig hilft das. Im Tohuwabohu auf dem Platz taucht vor uns ein Typ mit blutender Kopfwunde auf. Er ruft nach einem Sanitäter und schimpft auf die Idioten, die ihm von hinten mit einem Stein getroffen haben.
Auf der Suche nach einer Passierstelle gehen wir in die Motzstraße. In der Mitte der Fahrbahn geben die Stacheldrahtrollen den Weg frei, in der breiten Lücke stehen kampfbereite Hundertschaften hinter denen Wasserwerfer aufgefahren sind. Hier ist kein Durchkommen. Sogleich beginnen Schimpfereien von Leuten die den Platz verlassen wollen, der Einsatzleiter wird verlangt. Aber kein Verantwortlicher tritt in Erscheinung, dafür gibt die Polizei über Lautsprecher eine andere Kontrollstelle bekannt. Dem schenkt niemand mehr Glauben. Wir wollen zurück auf den Platz, als sich vor uns auf der gesamten Breite der Straße ein schwarzer Block formiert. Wir weichen in einen Hauseingang aus.
Dicht an dicht, untergehakt, Helme, schwarze Sturmhauben und Lederjacken, so rücken die Autonomen langsam heran. Viele haben Knüppel oder Eisenstangen in den Händen, einige reihen sich noch ein. Vereinzelt sind graue Haare unter der Maskierung zu erkennen. Noch nie habe ich so alte Leute bei den Autonomen gesehen. Ich werde an diesem Tag 22 Jahre alt, sehr viel älter sind Autonome für gewöhnlich nicht.
Beim Anblick der kampfentschlossenen Militanten werden die Polizisten unruhig. »Linie zusammenrücken!«, schallt es aus einem Lautsprecher. Plötzlich trommeln die Polizisten auf ihre Schilde, der bollernde Ton dröhnt durch die Straße. Seltsamerweise fliegt kein Stein, auch Tränengas wird nicht verschossen.
In Trippelschritten schiebt sich der Block bis auf wenige Meter an die Polizeikette heran. Da hört das Trommeln auf die Schilde mit einem Schlag auf. Für einen Moment sind nur die Schritte aus dem schwarzen Block zu hören. Gespannte Gesichter bei der Polizei, ihre Plexiglasschilde hochgezogen, die Schlagstöcke fest in den Fäusten. Dann ein Ruf und fast gleichzeitig lassen sich die Autonomen los und schießen wie ein Blitz heran. Knüppel schmetterten auf Helme und Schilde, dazwischen das eklige, dumpfe Geräusch wenn ein Schlag einen Körper trifft. Einige Autonome sacken von Schlägen getroffen weg, durch ihre Schilde und Helme sind die Polizisten im Vorteil. Die Autonomen kommen nicht durch. Die Reihen trennen sich, ohne dass die Polizei nachsetzt.
Doch es ist noch nicht zu Ende. In etwa fünf Meter Abstand formiert sich der Block neu. Der Durchbruch soll erzwungen werden, und in neuem Anlauf krachen die Reihen aufeinander. Die Autonomen versuchen die Polizisten hinter ihren Schilden in die Defensive zu drängen. Ab und zu gelingt ein Schlag über einen Schild, direkt auf den Helm. Um zuzuschlagen müssen die Polizisten einen Ausfallschritt machen. Links den Schild anheben und mit der Rechten den langen Schlagstock durchziehen. Es wirkt wie bei einer Schlacht aus ferner Zeit. Aber trotz aller Entschlossenheit bleiben die Autonomen unterlegen. Binnen weniger Minuten gibt es unter ihnen wieder etliche Verletzte, sie weichen geschlossen zurück. Keuchend stehen die Polizisten da, den Schrecken im Gesicht. Aber ihre Reihen haben gehalten.

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Durchbruch
Wir kehren auf den Platz zurück. An sämtlichen Sperren greifen Militante die Polizei an. Wahre Steinwolken gehen auf die sie nieder, aber die NATO-Drahtrollen verhindern wirkungsvolle Durchbruchsversuche. Im Getümmel wird die Mercedes-Limousine eines US-amerikanischen Fernsehteams entdeckt. Das Auto wird auf den Platz gezerrt, auf das Dach gedreht und angezündet. Insgesamt gehen an diesem Tag mindestens zehn Fahrzeuge in Flammen auf.
Kurz nach 11 Uhr werden endlich Kontrollstellen geöffnet, viele verlassen den Kessel. Wer bleibt, ist entschlossen zu kämpfen. Die Konfrontation eskaliert zur wohl härtesten Straßenschlacht in der Geschichte Westberlins. Mit Eisenstangen und Steinen, etwas anderes steht nicht zur Verfügung, rennen wir immer wieder gegen die Polizei an. Es geht über Stunden so, ohne an Intensität zu verlieren. Rund um den Nollendorfplatz erstreckt sich die Kampfzone. Flammen, Qualm, Martinshörner, Wasserwerfer, Pflastersteine, Tränengas, überall Scharmützel. Die Lage wird zunehmend unübersichtlich. Vor allem bekommt die Polizei Probleme weil Hundertschaften auch von Gruppen außerhalb des Kessels angegriffen werden. Auf dem Kudamm versuchen 1.500 Leute, die nicht mehr auf den Platz gekommen sind, eine Spontan-Demo durchzusetzen. Die wird von der Polizei schnell aufgelöst. Aber es sind sicher noch mindestens 2.000 Menschen auf dem Nollendorfplatz, und die gleiche Zahl greift die Polizeiabsperrungen von außen an.
Der Ausbruch muss jedoch von innen erfolgen. An der Ecke Maaßenstraße, wo Möbel Roland seine Schaufenster mit Spanplatten verbarrikadiert hat, kracht und splittert es, die Platten werden weggebrochen, die Schaufenster gehen zu Bruch. Möbel, Bücher Attrappen und anderer Krempel fliegen auf die Straße. In Richtung Bülowstraße entsteht eine brennende Barrikade. Teppiche aus dem Möbelgeschäft werden über die NATO-Drahtrollen geworfen und eine größere Gruppe versucht darüber zu stürmen. Das misslingt, doch einige Rollen sind plattgedrückt oder aus ihren Verankerungen gerissen.
Irgendwann befinde ich mich von meiner Bezugsgruppe getrennt an einer Stelle, an der es bereits mehrere Attacken gegeben hat. Die Drahtrollen in der Straßenmitte sind weggezogen. Dahinter stehen Polizisten mit Gasmasken, sie schießen Granaten, sobald sich eine Menschentraube bildet. Es gilt, sich spontan zusammenzuschließen und überraschend die Polizeiabsperrungen anzugreifen.
So kommen wir zusammen, ein Pulk, der schnell auf ein paar hundert Leute anwächst. Viel Zeit bleibt nicht, Brüder und Schwestern im Geiste formieren wir uns ohne Leitung. Vertrauen uns ganz einfach so. Niemand wird zurückstehen.
Mit einem Steinhagel setzen wir über den NATO-Draht. Die überraschten Polizisten geraten in Panik, springen in die anfahrenden Wannen, Steine fliegen in die offenen Türen. Sie rasen davon. Wir haben sie geschlagen, ein Wahnsinnsgefühl!
Die Auseinandersetzungen sind damit aber noch lange nicht beendet, sondern verlagern sich auf den benachbarten Winterfeldplatz, wo sie bis in die frühen Abendstunden andauern. Ich sehe jedoch keinen Sinn in einer weiteren Konfrontation und setzte mich ab.
Aus dem Areal zwischen Winterfeld- und Nollendorfplatz bis zur Bülowstraße hat sich die Polizei weitgehend zurückgezogen. Überall kokelnde Barrikaden und einige Autowracks. Der Boden ist mit unzähligen Pflastersteinen übersät, dazwischen hunderte von weißen Styroporkapseln abgeschossener Tränengasgranaten.
Und da steht doch an der Bülowstraße, Ecke Zietenstraße, eine verlassen Bullenwanne. Das Fahrzeug ist wegen eines Motorschadens zurückgelassen worden. Schnell finden sich ein paar Leute zusammen, und die Wanne wird auf die Seite gelegt. Kurz darauf brennt sie lichterloh. Das Bild geht später um die Welt.
Großartige Fotos und Gefühlserlebnisse sind aber nur zwei Aspekte dieses Tages. Zur Bilanz gehören hunderte von Verletzten und 415 Festnahmen. Es gibt zivile Greiftrupps, die Leute mit gezogener Pistole festnehmen, und in der Nacht durchsucht die Polizei besetzte Häuser. Gegen 22 Personen werden Haftbefehle wegen schwerem Landfriedensbruch ausgestellt. Auch im Nachhinein gibt es etliche Haussuchungen, und noch Monate später wertet die Polizei Fotos und Videoaufzeichnungen aus. Ein Aktivist bekommt für einen nachgewiesenen Steinwurf dreieinhalb Jahre Knast.
Die AL hat sich politisch ziemlich aus dem Fenster gelehnt und distanziert sich nicht von der verbotenen Demonstration. In der Nacht zum 12. Juni werden ihr Büro und die daneben befindliche Igel-Kneipe ein Raub der Flammen. Gleich in der Nacht des Brandanschlags gibt es eine Soli-Demo. Ich erinnere mich noch genau, wie ein pöbelnder Mob uns vom Straßenrand aus beschimpft. Wir sind eben nur eine kleine radikale Minderheit.
Nach dem 11. Juni 1982 werden militante antiimperialistische Demonstrationen nicht mehr zugelassen. Als US-Vizepräsident George Bush am 25. Juni 1983 Krefeld besucht, wird ein entsprechender Versuch von der Polizei im Ansatz zerschlagen und 118 Strafermittlungsverfahren eingeleitet. Zum letzten Aufbäumen von Friedens- und Antikriegsbewegung gerät dann der »Heiße Herbst« 1983. Mittels »Störmanövern« sollen die NATO-Herbstmanöver sabotiert werden. Schließlich beginnt im November 1983 die Stationierung der US-Atomraketen. Damit bricht die Mobilisierungsfähigkeit zusammen. Die Autonomen machen trotzdem weiter, allerdings bald auf anderem Terrain. So wird in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre autonomer Antifaschismus mehr und mehr zum bestimmenden Thema.

„The only serious Trouble“

Der 9. November 1989 und die Antifa – eine persönliche Erinnerung

Bernd Langer

Am Abend des 9. November 1989 hatte wir in Göttingen mit unserer Antifa-Demo gerade, von der Geismar Straße kommend, die Ecke Wendenstraße erreicht. Hier befand sich ein italienisches Restaurant, in dem sich Neonazis trafen. Grund für eine Zwischenkundgebung unserer Anti-Pogrom-Demo. Seit einiger Zeit stellten Neonazis ein erhebliches Problem dar. Im Dorf Mackenrode, 15 Kilometer von Göttingen entfernt, residierte der österreichische Frührentner Karl Polacek und hatte sein Haus zu einem Zentrum für die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) gemacht. In der Partei organisierte sich die Skinheadszene um Thorsten Heise und Jörg Latzkowiak aus Göttingen und Northeim. Eine Sonnenwendfeier im Dezember 1986 brachte die Neonazis zum Ersten mal in die Schlagzeilen. Seitdem kam es ständig zu Schlägereien in der Innenstadt. FAP-Skins machten Jagd auf Schwule, verprügelten Ausländer und versuchten Linke anzugreifen. Als Gegenreaktion organisierte die autonome Szene Telefonketten. Bekannte WGs konnten damit in kürzester Zeit eine ansehnliche Zahl von Militanten mobilisieren.

Niedergang der Autonomen

In Göttingen existierte eine große autonome Szene. Sie hatte seit den 1970er Jahren in der Anti-AKW-Bewegung eine Rolle gespielt und war 1980 durch Hausbesetzungen in Erscheinung getreten. Antifa spielte hingegen bei den Autonomen kaum eine Rolle. Sicher gab es auch in Göttingen Zusammenstöße, aber eine kontinuierliche Antifa-Arbeit entwickelte erst der 1977 entstandene Arbeitskreis Antifaschismus, der sich vor allem aus dem Kommunistischen Bund (KB) rekrutierte und 1981 wieder von der Bildfläche verschwand. Die erste autonome Antifa-Gruppe in Göttingen initiierte ich 1983. Ihr gehörten anfangs gar keine Autonomen an, sondern einige Anarchisten und ein paar jugendliche Aktivisten_innen, die nicht mit den Autonomen verwechselt werden wollten. Daher hieß die Gruppe Unabhängige Antifa, der Name änderte sich erst im Lauf des Jahres 1984 in „Autonome Antifa“. Ohnehin gingen die Aktionen in der Stadt nur zu einem Teil von den im autonomen Plenum organisierten Autonomen aus. Die Übergänge in der politischen Subkultur waren fließend, vor allem zu den sogenannten Gö-Punks.

Im November 1986 kam es erneut zu einer Welle von Hausbesetzungen. Eines dieser Häuser lag in der Burgstraße, unweit eines Büros, das vom NPD-Landesvorsitzenden Hans-Michael Fiedler betrieben wurde. Da die Polizei in der Defensive war, ergriffen wir die Gelegenheit, hackten ein Loch in das Rollo vor dem Schaufenster und stiegen in den Laden ein. Wenig später flog das Inventar nebst allen Büchern und Unterlagen auf die Straße. Einiges wurde zur Auswertung weggeschafft, mit dem Rest vor dem Laden ein großes Feuer entfacht. An dieser Aktion schieden sich wenig später die Geister, weil sie angeblich an die Bücherverbrennung erinnert habe. Aber der Nazi-Krempel musste schnell vernichtet werden.

Zur selben Zeit erfuhr die autonome Bewegung auch bundesweit einen letzten Auftrieb durch den Super-GAU in Tschernobyl. Insbesondere die Auseinandersetzungen um die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf spielten kurzfristig eine herausragende Rolle. Doch ein Grundproblem der Autonomen blieb: Abgesehen von der Phrase, dass man kollektiv und selbstbestimmt kämpfen wollte und militant agierte, existierten keine Konzepte. Ohne eine weitergehende politische Überlegung führte die Militanz zwangsläufig in die Sackgasse.

So kam das unvermeidliche Ende, bei dem die Startbahn-West am Flughafen Frankfurt am Main eine besondere Rolle spielte. Obwohl bereits seit 1984 in Betrieb, fanden weiterhin regelmäßig Aktionen statt. Bis bei einer nächtlichen Demonstration am 2. November 1987 zwei Polizisten erschossen wurden. Die folgende Repression und die selbstzerfleischenden Diskussionen beschleunigten den Niedergang der autonomen Szene.

Zugleich löste sich die 1985 entstandene bundesweite autonome Antifa-Koordination auf. Die letzte größere Aktion war eine Demonstration gegen das Herbstlager der Wiking-Jugend in Hetendorf bei Celle im Herbst 1987, die in einem Polizeikessel endete.

In Südniedersachsen traten die Neonazis immer offensiver in Erscheinung. Wie gefährlich die Entwicklung war, zeigte sich im Januar 1987, als Ingo Kretschmann, aus dem Dunstkreis der FAP um Polacek, beim Experimentieren mit Sprengsätzen tödlich verunfallte. Auch kam es nun in Göttingen und Northeim permanent zu Zusammenstößen mit Faschisten.

Ein Gegenschlag erfolgte durch das Antifa-Kommando Siegbert und Lotte Rotholz. Am 25. Juni 1987 brannten die Kellergarage samt Auto und Teile des Hauses von Karl Polacek nieder. Einen nachhaltigen Erfolg zeitigte das nicht. Nach kurzer Unterbrechung gingen die Auseinandersetzungen in Göttingen weiter. Am Abend des 23. Januar 1988 griffen die Neonazis das Jugendzentrum Innenstadt (JuZI) an. Die Telefonkette funktionierte und die Nazis erlebten ihr blaues Wunder. Sie wurden durch die Stadt zu ihren Autos zurückgeprügelt, die Fahrzeuge demoliert. Das Eingreifen der Polizei unterband die Totalverschrottung, und der geschlagene Haufen wurde zur Autobahn geleitet. Währenddessen nahmen wir in der Innenstadt die Wohnung eines Neonazis auseinander. Alles Private, vom Foto bis zum Bankauszug, wurde zur Auswertung eingesackt, was von Wert und Nutzen war, sozialisiert und der Rest zu Kleinholz verarbeitet, selbst die Rigipswände an einigen Stellen eingeschlagen.

Antifaschistische Aktion

In der Presse war von Zusammenstößen rivalisierender Jugendbanden zu lesen. Mit dieser Floskel wurde stets geleugnet, dass es sich um politische Auseinandersetzungen handelte. In der Bundesrepublik gab es ein Neonazi-Problem, aber es wurde nicht ernst genommen. Lediglich ein paar ewig Gestrige hätten da einige Jugendliche um sich geschart. Das Thema würde sich in einigen Jahren biologisch von alleine erledigen. So predigten es Medien und die etablierten Parteien.

Wir mussten überhaupt erst einmal darum kämpfen, dass Antifa als Feld der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen wurde. Die Gelegenheit ergab sich vor Ort, weil Gewerkschafter mit rechtsradikalen Einstellungen in den Betrieben konfrontiert waren. Es entstand ein Bündnis, das von Autonomen über die Grünen bis zum DGB reichte. Damit betraten wir politisches Neuland. Krönung unserer Bestrebungen war die Antifa-Bündnisdemo am 7. Mai 1988 in Mackenrode. In 20 Reisebussen und etlichen Privatfahrzeugen fuhren 2.000 Demonstrantinnen und Demonstranten aus Göttingen in das Dorf. Angeführt von einem großen schwarzen Block ging es am FAP-Haus vorbei zur Abschlusskundgebung auf dem Dorfplatz. Das Haus wurde mit einigen Farbbeuteln und einzelnen Steinen beworfen. Ein Angriff fand aufgrund der Bündnisabsprachen aber nicht statt. Politisch gelang uns mit der Demo ein großer Erfolg. Nun waren Autonome als politische Bündnispartner anerkannt, und die Wahrnehmung der Antifa in der Öffentlichkeit änderte sich. Um für diesen Weg zu werben, gaben wir eine Broschüre über die Demo heraus. Auf der Titelseite war die rote Fahne der Antifaschistischen Aktion abgebildet, die kurz vor der Mackerode-Demo fertig gestellt wurde und dort zum Ersten mal flatterte. Die Symbolik  war neu und stellte einen kalkulierten Tabubruch dar, weil Autonome eigentlich keine roten Fahnen verwendeten. Bald kopiert, sollte diese Fahne das Symbol der Antifa-Bewegung werden.

Für die Altautonomen war ein Bündnis mit etablierten Kräften Verrat an der revolutionären Sache. Man müsse im Kampf auf die eigenen Kräfte vertrauen und ein schwarzer Block das Haus auch tatsächlich angreifen, hieß es in polemischen Papieren. Wenige Wochen später wurde das Bündnis beendet und ich, als Repräsentant dieser Politik, aus der autonomen Antifa ausgeschlossen. Als Grund diente ein Kritikpapier an einer Aktion in Kassel, das mit Einige Autonome Antifas unterzeichnet war. Daraufhin behauptete die Autonome Antifa, ich würde in ihrem Namen Papiere veröffentlichen. Bei Autonomen bedeutete ein Gruppenausschluss auch soziale Ausgrenzung. Viele Treffpunkte waren damit tabu, Freundschaften gekündigt. Ganz zurückziehen wollte ich mich dennoch nicht und begann mit zunächst zwei Personen an einer Ausstellung kriminalisierter Plakate zu arbeiten. Wir trafen uns regelmäßig im Keller des Grünen Zentrums als Ausstellungsgruppe. Zudem machte sich ein gesellschaftlicher Rechtsruck bemerkbar und wir mischten uns langsam wieder in das politische Geschehen ein und vergrößerten unseren Kreis. Das verlangte jedem Neuzugang einen bewussten Schritt ab. Denn sich zu dieser Gruppe zu bekennen bedeutete, dass der Umgang mit einigen Fraktionen aus der Szene nicht mehr möglich war.

1989 wurde zu einem Jahr bislang nicht gekannter Antifa-Aktivität. Ein Grund war die DVU – Liste D (Deutsche Volksunion). Zunächst ein Verein, gründete sich die DVU 1987 als Partei. Von Anfang an arbeitete sie mit der NPD zusammen und errang bereits im Gründungsjahr ein Mandat in Bremerhaven. Der große Coup war aber mit dem Einzug ins Europa-Parlament im Juni 1989 geplant. NPD und DVU traten gemeinsam als Liste D an und der DVU-Vorsitzende Gerhard Frey pulverte 18 Millionen DM in den Wahlkampf. Es gab eine Postwurfsendung für jeden bundesdeutschen Haushalt und eine Flut an öffentlichen Wahlveranstaltungen. Ernsthafte Konkurrenz hatte die Liste D durch die 1983 gegründeten Republikaner, an deren Spitze seit 1985 Franz Schönhuber stand. Einstmals Freiwilliger der SS-Leibstandarte war Schönhuber nach dem Krieg ein anerkannter Journalist in Bayern, u. a. stellvertretender Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens und Hauptabteilungsleiter des Bayerischen Rundfunks. Doch dann veröffentlichte der Veteran sein Buch Ich war dabei. Es folgte die fristlose Kündigung beim Bayerischen Rundfunk, wogegen der Geschasste klagte und vom Gericht eine Abfindung von 290.000 DM und die sofortige monatliche Pension von 7.000 DM zugesprochen bekam. Derart von finanziellen Sorgen befreit konnte sich Schönhuber mit ganzer Energie in die Politik stürzen. In Westberlin gelangten die Republikaner im Juni 1989 mit  7,5 Prozent der Stimmen in den Senat. Erstmals war dies einer Partei rechts von der CDU gelungen. Ein allgemeiner Aufschrei ging durch die Republik, überall gingen die Menschen gegen den rechtsradikalen Wahlsieg auf die Straßen. Auch in Göttingen kam es zu einer Spontandemo, über die noch länger gesprochen wurde. Da die Polizei nicht so schnell reagieren konnte und nur einige Beamte zur Beobachtung abgestellt waren, verlegten wir die Demoroute kurzerhand durch das Warenhaus C&A.

Für den Europawahlkampf 1989 war dann bundesweit eine wahre Welle von Liste-D-Veranstaltungen angekündigt. Vor der Stadthalle in Göttingen ging es dabei am 13. Mai 1989 zwischen Antifas und der Polizei ziemlich zur Sache. Besonders die extra aus Westberlin angekarrte EbLT (Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training) sorgte für Verhaftete und Verletzte. Einem beherzten Antifaschisten gelang es schließlich, das Mikrofonkabel der NPD zu kappen. Weitere Veranstaltungen der Liste D in und um Göttingen fanden dann nicht mehr statt.

Letztendlich scheiterte die Liste D bei den Europawahlen im Juni  mit 1,6 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Das lag vor allem an den Republikanern, die ihre Konkurrenz überflügelten und mit sieben Prozent der Stimmen ins Europaparlament einzogen.

Anti-Pogrom-Demo

In diesen Auseinandersetzungen hatten wir uns, in einem ätzenden Ringen mit der autonomen Szene, profiliert, ohne einen Gruppennamen zu haben. Aufrufe unterzeichneten wir schlicht mit Autonome Antifas aus Göttingen und verfolgten das Konzept einer breit angelegten Antifa-Arbeit, das von Geschichtsarbeit bis zu Militanz reichte. Letztere ging natürlich nicht von der legal agierenden Gruppe aus.

Unsere Geschichte und Inhalte sollten im Vordergrund stehen. Der 9. November als Datum von Novemberrevolution, Hitlerputsch und Reichspogromnacht bot sich in diesem Zusammenhang an. Historisches ließ sich außerdem gut mit dem aktuellen Geschehen verbinden. So entstand die Idee zur Anti-Pogrom-Demo am 9. November 1989. Wir gewannen dafür auch die Unterstützung einiger anderer linken Gruppen. Zu einer von diesen gehörte  auch Conny Wessmann. Ein Transparent der Demo, das sie mitgestaltet hatte, sollte in den nächsten Monaten noch oft zu sehen sein.

Die Demo fand am Abend statt. Die Route führte mit etlichen Zwischenkundgebungen durch die Stadt. Als wir in Richtung Albani-Kirche weiterzogen, sprach sich auf einmal herum, das in Berlin die Mauer gefallen sei. Wir nahmen das als Neuigkeit hin, ohne weiter darauf zu reagieren. In den letzten Monaten waren viele DDR-Flüchtlinge über die Botschaft in Prag oder die ungarische Grenze abgehauen. Dass in der DDR und in Osteuropa ein Umbruch im Gang war, konnte man nicht übersehen. Der Fall der Mauer kam dann trotzdem überraschend. Aber mit uns hatte das nichts zu tun. Unser Kampf ging weiter und eskalierte wenige Tage später, als Conny Wessmann bei einer Antifa-Aktion starb. Sie gehörte zu einer Gruppe, die am 17. November über eine Telefonkette mobilisiert worden war und sich den Neonazi entgegenstellen wollte. Von der Polizei sollte die Gruppe verhaftet werden, Conny wurde dabei vor ein Auto getrieben. Im Bundesgebiet und vor allem in Göttingen kam es daraufhin zu Demos und militanten Aktionen. Seinen Abschluss fand die Empörung über den Mord  in einer bundesweiten Demonstration am 25. November 1989 in Göttingen mit mehr als 15.000 Menschen. Sämtliche Schaufensterscheiben der großen Kaufhäuser in der Innenstadt gingen zu Bruch, vor dem JuZI kam es zur Konfrontation mit der Polizei, die in die Flucht geschlagen wurde.

Im Trubel um den Mauerfall blieb Connys Tod ein Randthema. Auf den allgemeinen nationalen Wiedervereinigungstaumel reagierte die Linke mit der Kampagne „Nie wieder Deutschland“. Als politische Parole war das zwar eher populistischer Nonsens, doch auch in Göttingen stellten wir unsere Aktionen unter diese Überschrift. Wenn die Bevölkerung einen Staat völlig reformieren und umgestalten würde, wäre das sicher ein interessantes Experiment, aber einen Anschluss der DDR lehnten wir ab. Er würde nur den Kapitalismus und die Kräfte, die wir bekämpften, stärken. So ungefähr war unsere Sicht der Dinge. Was einmal mehr zeigte, dass wir überhaupt keine Ahnung hatten und vollständig überrascht waren. Vor der Grenzöffnung bestanden so gut wie keine Kontakte in die DDR, autonome Strukturen existierten dort ohnehin nicht. Das entwickelte sich jetzt alles sehr schnell und bereits am 10. März 1990 fand die erste autonome Antifa-Demo in Leipzig statt. »Gegen Faschismus und die Einverleibung der DDR durch die BRD« lautete die Parole. Eine Abschlusskundgebung im Hauptbahnhof und selbstgestrickte Sturmhauben blieben mir in Erinnerung, doch weitere Kontakte ergaben sich nicht.

Am 15. März 1990 riefen wir in Göttingen zur Demo auf. Erstmals unter dem Namen Autonome Antifa (M). Es gab ein großes Transparent einer antiimperialistischen Gruppe mit der Aufschrift „Völkerrechtliche Anerkennung der DDR“. Gar nicht anachronistisch war hingegen unsere Agitpropaktion am 2. Oktober 1990, dem Vorabend der sogenannten Wiedervereinigung. Vier Verkleidete (Kapitalist, Polizist, Militarist, SA-Mann), deren Gesichter als Totenschädel geschminkt waren, hielten ein Transparent mit dem Slogan „Wir begrüßen Deutschland!“ in Frakturschrift. Dazu wurden falsche Hunderter als Begrüßungsgeld unters Volk gebracht. Jeder DDR-Bürger und jede DDR-Bürgerin bekam nach der Grenzöffnung 100 DM. Wir meinten, dass 100 Mark allen zustanden und druckten eine Neandertaler auf den Geldschein. Der Hunderter kam dann in einigen Fällen tatsächlich in Umlauf, was ein Verfahren wegen Herstellung und Verbreitung von Falschgeld nach sich zog.

Antifa contra Wiedervereinigung

Nach dieser Agitprop-Aktion zog unsere Demo durch die Stadt. Das Göttinger Tageblatt berichtete am 3. Oktober 1989: „Steine fielen, Böller krachten: Göttingen am Abend vor Deutschland“. Und in der New York Times war zu lesen: „The only serious trouble was reportet in Göttingen, a West German city near the former border, where about 1.000 radical youth went on a rampage, smashing windows and denouncing unity.“

Unsere Agitprop-Aktion und Demo am 2. Oktober setzten wir in den folgenden drei Jahre in immer größerem Format fort. Dann wurden wir kriminalisiert.

Wir wollten die Organisierung der Antifa-Bewegung, waren maßgeblich an der Gründung der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) im Jahr 1992 beteiligt und verfolgten das Konzept eines revolutionären, antikapitalistischen Antifaschismus. Dabei entpuppte sich die untergehende autonome Bewegung als unser größter Widersacher. Allein fünf Aktenorder füllten die Kritikpapiere gegen den Organisierungsprozess.

Währenddessen steigerte sich der Straßenterror der Neonazis. Allein von Oktober 1990 bis Mitte Juni 1991 gab es neun Tote. Darunter war der 21jährige Wehrdienstleistende Alexander Selchow, der in der Silvesternacht 1990 in Rosdorf von Neonazis erstochen wurde. Die Täter stammten aus dem Kreis um Polacek in Mackenrode, der sich kurz darauf in einer Illustrierten mit einem großen Messer beim Interview ablichten ließ. Darauf musste es eine Antwort geben! Die sollte nach der Gedenkdemo für Alex am 5. Januar 1991 mit 5.000 Menschen erfolgen, doch der Aufruf, im Anschluss nach Mackerode zu fahren, wurde vom Veranstalter verhindert. Erst im Herbst sollte es dazu kommen. Wir hatten erfahren, dass in Mackenrode ein Schulungswochenende der FAP stattfand. Im JuZI versammelte sich ein Plenum und zerredete die Idee nach Mackenrode zu fahren. Schließlich stand ich auf und sagte, dass ich losfahren würde, wer Bock hätte, solle sich anschließen. Man schrieb den 26. Oktober 1991 als wir am helllichten Tag Mackenrode erreichten. Es war davon auszugehen, dass wir irgendwann vor dem Haus von der Polizei gestoppt werden würden. Doch es war nur eine Zivilstreife vor Ort, die das Gebäude aus der Entfernung beobachtete. Was nun passierte, hätte man sich nicht besser ausdenken können. Sonst griffen Nazis immer linke Projekte an, hier war es andersherum. Wie wir ausstiegen, formierten wir uns zum Frontalangriff auf das FAP-Haus. Nazis in Parteiuniformen mit Schulterriemen kamen aus dem Gebäude. Nur sie und wir auf der Straße. Steine, Mollis, Zwillen – auf die Fresse. Vier schwerverletzte Neonazis lagen auf der Straße, dazu weitere, die sich mit blutigen Köpfen noch auf den Beinen halten konnten, und verwüstete Vorgärten ließen wir nach ca. 15 Minuten zurück. Das war europaweit eine Zeitungsmeldung wert. Von uns hat es keine(n) erwischt.

Erfolgreiche Bündnisarbeit

Sicher war dies eine herausragende Aktion, doch vor allen Dingen wurden wir durch die Wiederaufnahme der Bündnisdemonstrationen zu einem regionalen Faktor. Es gab noch zwei dieser Bündnisdemos, eine 1993 zum Wohnhaus des NPD-Funktionärs Hans Michael Fiedler in Adelebsen mit mehr als 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die andere 1994 zum Wohnhaus des damaligen FAP-Funktionärs Thorsten Heise in Northeim mit mehr als 3.000 Menschen. Die Demos waren angekündigt, aber nicht angemeldet und stets von einem breiten Bündnis bis hin zu den Grünen und dem DGB unterstützt, angeführt von einem voll ausgerüsteten schwarzen Block von mehr als 1.000 Antifas. Wir bestimmten die Demonstrationen, inhaltlich und visuell. Der schwarze Block wurde als taktisches Mittel eingesetzt, Angriffe gingen von ihm nicht aus.

Unser Kampf war erfolgreich: Der Ausbreitung des Neofaschismus haben wir auf Jahre hinaus Einhalt geboten. Doch in die Zeit unserer größten politischen Erfolge fiel die Kriminalisierung. Der Staat ermittelte gegen uns wegen der „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ (§ 129a). Selbst daran sind wir nicht gescheitert. Aber das wäre bereits eine andere Geschichte.

Abbildung: Der Wi(e)dervereinigungs-Hunderter oder Neandertaler, am Abend des 2.10.1990 in Göttingen verteilt. Einige Scheine gerieten in Umlauf, was Ermittlungen wegen Herstellung und Verbreitung von Falschgeld nach sich zog.