„Frauen lasst uns das selbst in die Hand nehmen!“

Zum Anteil von Frauen am Klassenkampf und Novemberrevolution am Beispiel Bad Lauterberg

Autor: Bernd Langer|erschienen in undercurrents – Forum für linke Literaturwissenschaft im Juli 2019

Sie haben ihre Geschichte nicht aufgeschrieben. Den Arbeiterinnen und Arbeitern fehlte schlichtweg Sinn und Zeit dafür. Was überdauerte, sind Fragmente, Zeitungsmeldungen, hier und da ein Flugblatt, mit Glück eine persönliche Aufzeichnung oder ein Foto. Vieles ging zudem durch die Nazi-Zeit und den Krieg verloren. Danach schwieg man lieber über das, was war. Doch soziale Kämpfe finden nicht im luftleeren Raum statt, sie zeichnen Spuren, verändern und münden in der Gegenwart, in der das nicht Abgegoltene weiter Aufgabe bleibt.

So verstand ich vom Anbeginn meiner Politisierung in den 1970er Jahren die Aneignung und Aufarbeitung der Widerstandsgeschichte als Teil meiner Aufgabe. Dass in meiner ersten politischen Gruppe, dem ‚Antifaschistischen Arbeitskreis Bad Lauterberg‘, ein alter Kommunist mitarbeitete, kam mir dabei zugute. Über die Jahre konnte ich weitere letzte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus meiner Heimatstadt befragen und ein paar spärliche Dokumente sammeln. Mehr und mehr fügten sich die Bruchstücke zu einem Bild.

Ausgangspunkt war für mich die Novemberrevolution 1918. Als große Ausnahme war in Bad Lauterberg mit Lina Heidelberg eine Frau Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates (ASR). Im weiten Umland findet sich erst mit Minna Faßhauer in Braunschweig wieder eine Frau in einem Revolutionsgremium. Minna Faßhauer, die erste Ministerin Deutschlands, war knapp drei Monate im Amt, Lina Heidelberg konnte sich keine zwei Wochen als Mitglied im ASR halten. Honorige Bürger machten Druck, wollten den ASR delegitimieren, am Ende konnte Lina Heidelberg, weil sie eine Frau war, nur noch als Beigeordnete weitermachen.

Der Volksmund nannte sie bald die Rosa Luxemburg von Bad Lauterberg. Ab wann Lina Heidelberg diesen Beinahmen erhielt lässt sich nicht mehr klären. In jedem Fall wurde sie im Jahr 1923 zur lokalen Legende, weil sie den größten Straßenkrawall in der Geschichte Bad Lauterbergs auslöste.

Minna Faßhauer und Lina Heidelberg stammten aus dem Proletariat und handelten aus der politisch wie sozial doppelt entrechteten Rolle als Frau und Arbeiterin. Wie die Kämpferinnen aus der sozialistisch-proletarischen Bewegung vor ihnen. In der folgenden Geschichte will ich an den Anteil dieser Frauen erinnern. Wobei ich Bezeichnungen wie Arbeiterbewegung oder Holzarbeiterstreik als feststehende historische Begriffe betrachte.

Frauen ohne Wahlrecht

Als der ‚Rat der Volksbeauftragen‘ am 9. November 1918 in Berlin die Macht übernahm, hatte sich der Kaiser bereits nach Belgien abgesetzt. Damit war die Monarchie gestürzt, Deutschland eine Republik und der verlorene Weltkrieg konnte am 11. November beendet werden. In den folgenden Tagen wurde die gesellschaftliche Umwälzung auch in der Provinz nachvollzogen. So erreichte die Revolution Bad Lauterberg im Harz, zu diesem Zeitpunkt ein Flecken (Stadtrechte ab 1929), der zum Kreis Osterode im Königreich Preußen gehörte.

Die bisherigen politischen Gremien waren durch ein sozial segregiertes Wahlsystem bestimmt worden. Frauen hatten weder aktives noch passives Wahlrecht. Wählen durften nur Männer, die mindestens 25 Jahre alt waren. Wer öffentliche Armenunterstützung erhielt oder durch ein rechtskräftiges Urteil die bürgerlichen Rechte verloren hatte, blieb vom Wahlrecht ausgeschlossen. Bei den Wahlen zum Provinziallandtag kam hinzu, dass im Königreich Preußen seit der Revolution 1848/49 das Dreiklassenwahlrecht in Kraft war, welches die Wähler nach der Höhe ihrer Steuerleistung in drei ‚Klassen‘ einstufte. Damit nicht genug, konnten bei Gemeindewahlen nur Bürger den Magistrat bestimmen. Das Gesetz unterschied grundsätzlich zwischen Bürgern und Einwohnern. Bürger konnte nur sein, wer ein Haus besaß und Häusersteuer abführte oder wer sonst direkte Landsteuer von mindestens 6 Reichsmark zahlte. Außerdem musste der Betreffende seit mindestens sechs Monaten seinen Wohnsitz am Ort haben und durfte nicht in Lohn und Kost eines anderen stehen. Nur wer diese Voraussetzungen erfüllte, konnte das Bürgerrecht erwerben und bei Gemeindewahlen abstimmen.

Den Bürgern gleichberechtigte Bürgerinnen gab es nicht. Zwar konnte eine Frau durch Erbschaft die sozialen und ökonomischen Privilegien ihres Standes beanspruchen, von den politischen Mitwirkungsrechten blieb sie aber ausgeschlossen. Für Bankgeschäfte, gewerbliche Verträge u. ä. benötigten Frauen einen Mann als Vormund. Die Ehe war gesetzte Norm und man blieb in der Regel ein Leben lang zusammen. Alleinstehend lebte man nur in Ausnahmefällen, den Begriff Single gab es nicht.

Eine Scheidung war unter gewissen Vorrausetzungen in einigen deutschen Staaten ab 1794 möglich, wurde aber erst 1875 mit dem ‚Gesetz über die Eheschließung‘ reichsweit geregelt. Abseits juristischer Möglichkeiten galt eine Scheidung weiterhin als Stigma.

Für die Frau verbanden sich mit der Eheschließung einige Sicherheiten und soziales Prestige, doch blieb sie ein Mensch zweiter Klasse. Bis in die Zeit der Bundesrepublik änderte sich an diesen Verhältnissen wenig. Bis zum 1. Juli 1958 konnte der Ehemann den Arbeitsvertrag seiner Frau ohne deren Einwilligung fristlos kündigen. Auch hatte ein Ehemann das Recht, den Lohn seiner Frau zu verwalten. Ein eigenes Bankkonto können Frauen erst seit 1962 eröffnen, als geschäftsfähig gelten sie seit 1969. Noch bis 1977 durften verheiratete Frauen ohne Genehmigung ihres Ehemannes keine Erwerbstätigkeit aufnehmen.

In Verbindung mit linksliberalen Einflüssen war diese Entmündigung Antrieb für den Feminismus. Dabei strebten die linksliberalen Strömungen des 19. Jahrhunderts nach der Durchsetzung individueller Freiheitsrechte. Sozialistische Gedanken, wie Aufbau eines Sozialstaates, wurden abgelehnt. Der Feminismus bezog sich in seinen Anfängen daher vor allem auf die bürgerlichen Frauen, die sich erheblich in Bildungsniveau, Erziehung usw. von denen aus dem Proletariat unterschieden. Der soziale Stand markierte eine kulturelle Kluft. Tatsächlich grenzten sich Frauen, die sich dem Klassenkampf zurechneten, vom ‚bürgerlichen‘ Feminismus ab. Clara Zetkin, die Wortführerin der proletarischen Frauenbewegung, prägte diese Auseinandersetzung und stilisierte in der Debatte nach marxistischer Denkart die soziale Frage zum gesellschaftlichen Hauptwiderspruch.

Abbildung: ‚The Capitalist Vampire‘, Holzschnitt, 1885, England, von Walter Crane (1845–1915) für das Justice Journal (Parteizeitung der Social Democratic Federation). Späterer Druck mit deutschem Text.
Mit der Fanfare des Sozialismus erweckt der Freiheitsengel mit Jakobinermütze das Proletariat, das dem blutsaugenden Vampir Kapitalismus ausgeliefert ist. Die soziale Frage war die zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung des
19. Jahrhunderts. Patriarchale Unterdrückung wurde von der Arbeiterbewegung als Nebenwiderspruch gesehen.

Der große Holzarbeiterstreik

Der Klassenkampf hatte in Bad Lauterberg bereits vor dem I. Weltkrieg seine Spuren hinterlassen. Ende des 19. Jahrhunderts zählte der Ort zu den wichtigen Zentren der deutschen Möbel-, genauer Stuhlproduktion. Das erklärt, warum wohl bereits 1863 eine sozialdemokratische Ortsgruppe existierte. Auf dem ‚Allgemeinen deutschen sozial-demokratischen Arbeiterkongress‘ im Jahr 1869 in Eisenach befand sich jedenfalls mit Eduard Dannhauer ein Delegierter aus Lauterberg, der 105 Mitglieder vertrat (vgl. Tyke, SPD Bad Lauterberg). Das war der Gründungskongress der SDAP (Sozialistische deutsche Arbeiterpartei). Diese Partei entstand auf Initiative von August Bebel und Karl Liebknecht als marxistisch ausgerichtete Konkurrenz zum ADAV (Allgemeinen deutschen Arbeiterverein).

Als sich in Lauterberg im Jahre 1896 fünf örtliche Möbelfabrikanten zu einem Kartell zusammenschlossen, um die Löhne zu drücken, kam es zu einem erbittert geführten Arbeitskampf, der reichsweit für Aufsehen sorgte. Der große Lauterberger Holzarbeiterstreik (es gab noch einen zweiten mit erheblich weniger Härte geführten 1907/08) dauerte von Mai bis Dezember 1896.

Abbildung: Austragungsort des Streiks war nicht nur Lauterberg, sondern auch eine große Fabrik auf dem Oderfeld und damit die Gemeinde Barbis, zu dieser Zeit mit mehr als 1300 Einwohnern und Einwohnerinnen ein bedeutendes Dorf im Kreis Osterode.

Im Verlauf des achtmonatigen Streiks kam es zu Schlägereien mit angeheuerten Streikbrechern, es gab Verletzte durch Messerstechereien, sogar mit Pistolen wurde aufeinander geschossen und ein Streikbrecher-Lokal brannte nieder. Mehr als 500 Arbeiter und Arbeiterinnen waren im Ausstand oder ausgesperrt. Polizei und Behörden standen auf Seiten der Fabrikanten.

Es gab aber nicht nur Krawalle, vor allem hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter durch den Ausstand zum ersten Mal in ihrem Leben Freizeit. Ansonsten war eine tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden üblich. Gearbeitet wurde sechs Tage die Woche, Urlaub gab es überhaupt nicht. So ist in der Zeitung ‚Der Holzarbeiter‘ Nr. 25 vom 21. Juni 1896 auf Seite 4 zu lesen:

„Eine vorzügliche Wirkung hat diese Aussperrung noch; die Arbeiter haben Muße zum Nachdenken über sozialpolitische Dinge und eine allwöchentlich stattfindende große Versammlung unterstützt die Bildungsbestrebungen in vorzüglicher Weise. Diese Versammlungen verlaufen stets musterhaft und sind sehr stark besucht, so sprachen hier der Reihe nach Gen. Trautwein (600), Gen. Keßler (600), Gen. Weißmann-Halle (600), Genossin Greifenberg-Berlin 700 Personen, darunter viele Frauen.“

Die zeitgenössische Sprachregelung subsumierte unter der Mehrzahl ‚Arbeiter‘ Männer wie Frauen. Hinzu kam, dass in Deutschland Frauen erst ab dem Jahr 1908 Mitglied einer Partei oder Gewerkschaft werden konnten. Allein schon deshalb war es ausgeschlossen, dass eine Frau in einem Streik von 1896 eine offizielle Position einnahm. So wird der Anteil von Frauen in dieser Auseinandersetzung erst bei näherer Betrachtung deutlich.

Leider lässt sich nur über die Agitatorin Marie Greifenberg etwas mehr sagen. Im Gegensatz zu feministischen bürgerlichen Kreisen, die in den achtziger und neunziger Jahren auf das gezielte Verteilen von Petitionen setzten, versuchte die proletarische Frauenbewegung, ihre Basis über Agitationstouren durch das Land zu verbreitern. Als Rednerinnen fungierten begabte Arbeiterinnen. Eine davon war Marie Greifenberg, geb. Fein, Ehefrau eines Kartonarbeiters (vgl. Sachse 2011). Im Übrigen standen Frauen auf beiden Seiten, traten also auch als Streikbrecherinnen in Erscheinung.

Dem Streikführer Fritz Erfurth ging es nicht so sehr um eine Verbesserung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse, sondern um Grundsätzliches, d.h. den Kampf um den Sozialismus. Weshalb sich die Auseinandersetzung radikalisierte. Das öffentliche Leben in Lauterberg war stark beeinträchtigt und ein Streikende nicht abzusehen. Zwar funktionierte die Unterstützung der Streikenden durch den DHV (Deutscher Holzarbeiter Verband), doch kam dieser nach einigen Monaten an seine finanziellen Grenzen. Selbst in der sozialdemokratischen Presse mussten Gelder für den Ausstand in Lauterberg gesammelt werden, damit die Kasse des Holzarbeiterverbandes nicht vollständige ausblutete. Schließlich schritt die Führung des DHV ein, um den Streik schnellstmöglich beizulegen. Inkognito reiste eine Gewerkschaftsdelegation aus Hamburg nach Lauterberg, um zuerst mit den Fabrikanten Kontakt aufzunehmen und deren Bedingungen für die Beilegung der Auseinandersetzungen zu erkunden und zu akzeptieren. Anschließend  brachten die DHV-Delegierten ihrer Basis bei, was diese nun zu tun hatte. Der Streikführer Fritz Erfurth, der gleichzeitig die SPD in Lauterberg anführte, wurde fallen gelassen. Er musste mit seiner Familie den Harz binnen 14 Tagen auf Nimmerwiedersehen verlassen. Sämtliche Arbeiterinnen und Arbeiter wurden zunächst entlassen und mussten bei ihrer Wiedereinstellung eine Erklärung unterschreiben, dass sie kein Mitglied der Gewerkschaft waren (vgl. Das HolzArbeiterBuch 1993).

Solche Erfahrungen wirkten nach und trugen dazu bei, dass die sozialdemokratische Partei am Ort bedeutungslos blieb und sich zu Beginn des I. Weltkrieges auflöste. Doch existierte in Lauterberg weiterhin ein klassisches Proletariat. Insgesamt 17 größere Betriebe beschäftigten ca. 1700 Arbeiterinnen und Arbeiter. Hinzu kamen viele kleine Handwerksbetriebe. Landwirtschaft hatte hingegen kaum Bedeutung für den Ort.

Die Oberschicht repräsentierte ein Bürgertum, das sich Villen bauen ließ und mit den wohlhabenden Kurgästen harmonierte. Bereits ab Sommer 1839 begann auf Initiative des Arztes Dr. Ritscher ein Bäderbetrieb, weshalb die Stadt ab dem Jahr 1906 den Titel Bad tragen durfte. Bald besuchten mehr gut betuchte Kurgäste die Stadt, als sie Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Die sozialen Ungleichheiten zwischen Reich und Arm, Bürgertum und Proletariat, prallten somit unmittelbar und ständig aufeinander.

Die Novemberrevolution

Im Kaiserreich behielt das Bürgertum die Zügel fest in der Hand. Das zeigte sich vor allem bei der politischen Mitbestimmung. So waren in Bad Lauterberg bei den Bürgervorsteherwahlen des Jahres 1913 von den ca. 6000 Einwohnerinnen und Einwohnern nur 581 Bürger (unter 10 Prozent!) stimmberechtigt. Während des Weltkrieges fanden keine Gemeindewahlen statt. Der Krieg führte zu einer drastischen Veränderung der sozialen Verhältnisse. Bereits ab 1915 wurden Lebensmittelkarten eingeführt und im Jahr 1916 übernahm die Oberste Heeresleitung unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff quasi die Regierung. Deutschland unterstand damit faktisch einer Militärdiktatur. Das gesamte öffentliche Leben und die Industrie wurden dem Programm der totalen Kriegsführung unterworfen.

Für Bad Lauterberg hatte dies u.a. die Auswirkung, dass der Rüstungsbetrieb ‚Kuhlmann‘, mit Stammsitz in Rüstringen (Wilhelmshaven), eine Fabrik aufbaute. Mit dem Betrieb kamen im Jahr 1916 auch eine Anzahl von sozialistisch eingestellten Arbeitern aus der Nordseestadt in den Ort. Dass sich 1917 ein ‚Sozialdemokratischer Wahlverein‘ neu gründete, hat vermutlich mit den Arbeitern aus Wilhelmshaven zu tun. In jedem Falle hatte die Gruppe entscheidenden Anteil an der Bildung des Arbeiter – und Soldatenrates (ASR) 1918.

Für den 13. November 1918 kursierte in der Stadt ein Aufruf. Eine Volksversammlung sollte im Stadtzentrum bei der ‚Quelle‘, einem öffentlichen Brunnenpavillon, in dem eine Heilquelle sprudelte, stattfinden. Gegen 14 Uhr wurde eine rote Fahne auf dem Gebäude angebracht und es sammelten sich Tausende von Menschen. Adolf Trauzettel, der Wortführer der Arbeiter aus Wilhelmshaven, eröffnete die Versammlung, deren Tagesordnungspunkte waren: 1.) Bildung des Arbeiter- und Soldatenrates, 2.) Absetzung des Bürgermeisters und des Baumeisters, 3.) Verschiedenes.

Es folgte die Wahl des vorläufigen Arbeiter- und Soldatenrates. Dessen Mitglieder legitimierte die Menge einfach durch Handzeichen. Zum Vorsitzenden wurde Adolf Trauzettel bestimmt. Ein wahrlich revolutionärer Schritt verband sich jedoch mit der Wahl von Lina Heidelberg in den ASR. Gewählt wurde sie sicher deshalb, weil sich viele Frauen unter den Versammelten befanden. Spontan wählten sie eine aus ihren Reihen ins revolutionäre Gremium. Zwar erhielten Frauen durch die Revolution ihr aktives wie passives Wahlrecht, das war aber offiziell erst im Januar 1919 der Fall.

Bislang waren Frauen vor allem in bürgerlichen Organisationen wie dem ‚Evangelischen Frauenbund‘ oder dem ‚Vaterländischen Frauenverein‘ aktiv. Dass sich Frauen, zumal Arbeiterinnen, führend in der sozialistischen Bewegung engagierten, blieb die Ausnahme. Obwohl sie klar in der sozialistischen Bewegung verortet werden kann, ist über ein parteipolitisches Engagement von Lina Heidelberg nichts bekannt. Im November 1918 war sie 46 Jahre alt, hatte ihren Mann verloren und musste sechs Kinder allein großziehen.

Eine Urenkelin berichtete, das Lina Heidelberg als resolute, anpackende Persönlichkeit bekannt war, die sich nicht so leicht von Schwierigkeiten unterkriegen ließ.

Abbildung: ‚Die Quelle‘ in Bad Lauterberg. Ein 1846 errichteter Brunnenpavillon, oft Treffpunkt von Versammlungen und Demonstrationen. Im Jahre 1955 abgerissen. Foto: Felix Petz, 1890.

Nach der Wahl zog die Demonstration zu dem nur wenige hundert Meter entfernt liegenden Rathaus. Es folgte die Absetzung von Bürgermeister und Baumeister. Abschließend wurde, unter allgemeinem Jubel, eine rote Fahne auf dem Rathaus gehisst (BLT – Bad Lauterberger Tageblatt , Nr. 133, 14.11.1918).

Obwohl der ASR offiziell die politische Führung übernommen hatte, blieben Verwaltung und Polizei unangetastet. Die meisten Mitglieder des ASR sahen ihre Tätigkeit lediglich als Provisorium. Möglichst bald sollten reguläre Neuwahlen stattfinden, um einen neuen Stadtrat und einen Bürgermeister zu bestimmen. Mehr als Symbolpolitik war dem ASR ohnehin nicht möglich. Seine Mitglieder hatten keine Erfahrungen hinsichtlich der kommunalen Stadtverwaltung und mussten ihre Maßnahmen stets mit dem Magistrat und dem Bürgervorsteherkollegium abstimmen. Politisch stand der ASR auf Seiten der SPD, distanzierte sich sogar öffentlich von den Bolschewiki und dem Spartakusbund.

Wann sich eine örtliche Sektion der USPD gründete, ist nicht bekannt. Inserate und Berichte im BLT dokumentieren ab April 1919 eine rege Parteiarbeit.

Bürger

Für den 27. November 1918 riefen angesehene Bürger aus Bad Lauterberg „die über 20 Jahre alten Mitglieder der bürgerlichen Parteien (Hervorh. i. Orig., B.L.), Männer und Frauen, auf“, sich im Kursaal zusammen zu finden (BLT, 26.11.1918). Die bevorstehenden Wahlen für die konstituierende Nationalversammlung sollten besprochen werden. Dabei war die Bezeichnung ‚bürgerliche Parteien‘ eine Provokation gegenüber dem ASR und der sozialdemokratisch gesinnten Arbeiterschaft. Denn in der Novemberrevolution spielten die ‚bürgerlichen Parteien‘  keine Rolle, lösten sich auf bzw. bildeten sich gerade wieder neu.

Der vormalige Anhänger der rechtsradikalen ‚Deutschen Vaterlandspartei‘, Direktor Dr. Bartels, führte das Wort. Jetzt, nach der Revolution, konnte von seiner rechtsnationalen Einstellung natürlich keine Rede mehr sein. Im Gegenteil, der Herr Direktor verkündete, auf dem Boden der neuen Regierung Haase/Ebert zu stehen. Dennoch müsse er die Legitimation des ASR in Frage stellen. Eine Wahl einfach so mit Handzeichen, das ginge nicht. Damit kam Direktor Bartels aber beim vollzählig erschienenen ASR nicht durch. Bartels schwenkte daraufhin schnell um und kam auf’s Wesentliche zu sprechen, schließlich ginge es um die Rettung des Vaterlandes, wofür die Wahl der Nationalversammlung eine dringende Voraussetzung sei. Geschickt versuchte Bartels, die Versammelten zu umgarnen. U.a. referierte Rektor Hoff über die nun kommende Einheitsschule und die Lehrmittelfreiheit. „Es solle alles geschehen zum Besten unserer Kinder, für die das Beste gerade gut genug sei.“ (Die Einführung der Einheitsschule und die Lehrmittelfreiheit scheiterten wenig später am Widerstand der bürgerlichen Parteien.)

Noch lebte man von der Hoffnung, alles würde gut werden, USPD und SPD stellten ja mit Haase und Ebert gemeinsam eine rein sozialistische Revolutionsregierung. Lina Heidelberg schenkte der Entwicklung ihr Vertrauen: „Frau Heidelberg erinnerte daran, was die Frauen im Kriege alles erlitten und geduldet haben. Alles sei so knapp, daß es schwer sei, den Hunger zu stillen. Sogar von Seiten unserer Feinde seien die Leistungen der deutschen Hausfrau anerkannt und bewundert. Während das Volk habe hungern und darben müssen, sei in der kaiserlichen Hofhaltung alles vorrätig gewesen: Zucker, Fett, Fleisch usw. Sie rief allen Frauen zu, getreulich auszuharren und der neuen Regierung ihr Vertrauen entgegen zu bringen.“ (BLT, 28.11.1918)

Alsdann wurde von Direktor Bartels die Katze aus dem Sack gelassen. Er schlug die Bildung eines Bürgerrates vor, der die Arbeit des ASR unterstützen sollte. Hier unterschätzten Bartels und seine Bürger die Intelligenz ihrer Kontrahenten. Der Schlosser Pfotenhauer wandte ein, dass der frühere Klassenunterschied jetzt nicht mehr bestünde, es gäbe nur noch Staatsbürger, deshalb sei ein Bürgerrat überflüssig. Eine Gründung dieser Institution wurde mehrheitlich abgelehnt. Einer anderen Forderung musste nachgegeben werden, weil Frauen eben weder Arbeiter noch Soldaten waren. „Vorsitzender gab bekannt, daß Frauen keine Mitglieder im A- und S-Rat sein könnten, wohl aber könnten sie bei der Beratung über Lebensmittelversorgung usw. hinzugezogen werden. Dazu wurden von der Versammlung Frau Heidelberg, Frau Barsch und Frau Leinhos gewählt“ (BLT, 28.11.1918).

Radikalisierung

Für den 19. Januar 1919 wurden die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung angesetzt, im Zuge dessen fanden kurz darauf auch Landtags- und Gemeindewahlen statt. Damit verlor der ASR seine Funktion. Was Dr. Bartels, der bei den Wahlen für die ‚Deutsch-Hannoversche Partei‘ – nach dem hannoverschen Herrschergeschlecht kurz ‚Welfenpartei‘ genannt – antrat, im Verein mit angesehenen Bürgern zum finalen Schlag gegen den ASR nutzen wollte. Es sei angemerkt das sich die ‚Welfenpartei‘ im Zuge ihres Niedergangs ab 1924 in die DNVP und die NSDAP auflöste.

Für den 5. Februar 1919 beriefen angesehene Bürger im Kursaal eine öffentliche Versammlung ein. Vorher verbreitete die ‚Welfenpartei‘ Flugblätter gegen die örtliche SPD, was mit dazu beitrug, dass über 1000 Personen den Saal bis auf den letzten Platz füllten. Mit dem ersten Tagesordnungspunkt wurde die Frage gestellt, ob die Besoldung des ASR im Interesse der Gemeinde wäre. Was die Bürger mit Verweis auf die Geldnot der Kommune verneinten, auch versuchten sie mit allerlei Argumenten den ASR zu diskreditieren und verlangten seine Absetzung. Damit überspannten Dr. Bartels und die Seinen den Bogen. Es gab viel Widerspruch von den anwesenden sozialistisch gesinnten Arbeiterinnen und Arbeitern. Unter denen, die sich zu Wort meldeten, waren Lina Heidelberg und ihre Kollegin Ackermann (Vorname nicht bekannt). Es gab immer mehr Zwischenrufe, so dass Bartels schließlich kapitulieren musste und den Vorsitz der Versammlung einem Angehörigen des ASR übergab (BLT, 6.2.1919). Der ASR bestand weiter und löste sich erst im April 1919 auf. Zu diesem Zeitpunkt sorgte die Lebensmittelversorgung für Zündstoff, die sich nach der Revolution in Bad Lauterberg zunehmend verschlechterte. Schuld daran gab man der Kreisverwaltung in Osterode, wo noch immer der kaiserliche Landrat Freiherr von Stockmar sein Amt ausübte. Mit einer großen Demonstration machten die sozialistischen Parteien in Bad Lauterberg am 9. April 1919 auf diese Misere aufmerksam. Für den Abend rief die USPD zum ersten Mal zu einer Versammlung in den Kursaal auf. Vorsitzender der USPD war der Angestellte Herrmann Stopperich. Sehr viel später, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde Stopperich von den Alliierten als SPD-Vorsitzender eingesetzt und zog im Jahr 1949 als Direktkandidat des Wahlkreises Harz in den ersten Bundestag ein, dem er bis zu seinem Tode 1952 angehörte.

Am 24. April 1919 wurde eine Kommission, bestehend aus 29 Lauterberger SPD- und USPD-Mitgliedern, beim Landrat in Osterode vorstellig. Dieser Vorstoß wurde auch von 3000 Arbeiterinnen und Arbeitern in der Kreisstadt unterstützt, die sich auf dem Marktplatz versammelten. Stopperich verlangte im Namen der Lauterberger Bevölkerung den Rücktritt des Landrats, doch dieser lehnte ab. Daraufhin verkündete die Kommission, dass die Lauterberger Bevölkerung den Landrat forthin als nicht mehr existent betrachten würde.

Weiterhin agierten SPD und USPD gemeinsam und feiern den 1. Mai 1919 in Bad Lauterberg mit einem Umzug zum Schützenplatz. Mehrere tausend Menschen folgten dem Aufruf. Doch bald erfolgte ein tiefer politischer Bruch, der mit dem Einmarsch der Marinebrigade Ehrhardt am 13. März 1920 in Berlin zusammenhing. Gegen den Kapp-Putsch riefen alle sozialistischen und demokratischen Parteien und Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Dass sich ein Aktionsausschuss aus USPD und SPD in Bad Lauterberg bildete, der den Streik proklamierte, war keine Frage. Darüber hinaus stellten linke Aktivisten eine Sicherheitswehr auf, der Bürger nicht angehören durften. Allein das sorgte für viel Unmut beim Bürgertum. Wie konnte es sein, das die sozialistischen Parteien einfach ihre eigene bewaffnete Macht ins Leben riefen, um damit das öffentliche Leben zu kontrollieren? Die Situation eskalierte, als in der Nacht des 17. März Schüsse auf ein bekanntes USPD-Mitglied abgegeben wurden. Seine Genossen handelten sofort, den Bürgern mussten ihre Waffen weggenommen werden. Das nun die Proleten der Sicherheitswehr ohne viel Federlesens ihre Wohnungen durchsuchten, war für viele Bürgerinnen und Bürger eine unfassbare Anmaßung.

Der Putsch brach bereits am 17. März zusammen. Während die gemäßigten Kräfte den Streik daraufhin am 18. März für beendet erklärten, wollten Linkssozialisten erst Bedingungen durchgesetzt wissen bzw. sahen Kommunisten und andere Linksradikale die Zeit für die proletarische Revolution gekommen. In einigen Regionen eskalierte das in bewaffneten Kämpfen. Auch die Sicherheitswehr in Bad Lauterberg wollte ihre Waffen nicht freiwillig abgeben. Schließlich umstellte am 27. März die Reichswehr die Stadt und erzwang die Waffenabgabe. Im Ergebnis führten die Auseinandersetzungen um den Kapp-Putsch zu einer Radikalisierung. Viele USPD-Mitglieder traten zur KPD über und gründeten 1921 eine KPD-Ortsgruppe (BLT 16.3., 18.3. und 30.3.1920, sowie Skript Männel 1951/1992).

Hungerrevolte

Durch den verlorenen Krieg und den Versailler Vertrag war das Deutsche Reich wirtschaftlich ruiniert. Mangelhafte Lebensmittelversorgung und steigende Preise blieben ein ständiges Problem. Im Jahr 1923 eskalierte die Situation in einer Hyperinflation. Geld verlor stündlich an Wert. Auf dem Höhepunkt der Geldentwertung im November 1923 entsprach der Kurs für einen US-Dollar 4,2 Billionen Reichsmark.

Abbildung: Eine Inflationsmedaille dokumentiert die Geldentwertung. Hunger, Elend und Aufruhr waren die Folge, die staatliche Ordnung stand vor dem Kollaps.

Geschäftsleute horteten ihre Waren, hofften auf eine Aufwertung des Geldes, gute Lebensmittel bekam man nur noch auf dem Schwarzmarkt. Mit aller Härte trafen diese Zustände die proletarische Bevölkerung. Es ging den Menschen schlechter als im Krieg, es gab wieder Hunger. Das führte zu Unruhen, die fast den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung zur Folge hatten. Auch in Bad Lauterberg fanden Demonstrationen statt, die schließlich eskalierten:

„Begonnen hat es am Rathaus, im kleinen Kurpark war eine Versammlung. Am kleinen Pavillon […]. Die Leute waren wütend, weil sie hungerten und dabei wussten, dass die Speiskammern der Reichen voll waren. So einfach war das, und schöne Reden füllen auch nicht den Magen. Da nahm dann Lina Heidelberg das Heft in die Hand. ‚Frauen, lasst uns das selbst in die Hand nehmen. Die Männer sind alles Flaschen!‘  und so begann dann der Protest- und Hungermarsch durch Bad Lauterberg“ (Lebenserinnerungen Theo Schlösser o.J.).

Umgehend wurden Lebensmittelläden und Geschäfte von der Menge gestürmt und geplündert. Der anwesende Stadtpolizist war machtlos. Erst zwei Tage nach der Hungerrevolte kam eine Hundertschaft nach Bad Lauterberg. Die Einheit wurde in einer Schule einquartiert und durchkämmte in den folgenden Tagen Wohnungen der proletarischen Bevölkerung. Einiges ‚Diebesgut‘ wurde von den Polizisten noch gefunden, es folgten etliche Gerichtsverhandlungen. Zu den Verurteilten gehörte auch Lina Heidelberg, sie wurde vom Landgericht Göttingen wegen Landfriedensbruch zu drei Monaten und drei Wochen Haft verurteilt.

Die Polizeihundertschaft blieb vorerst in Bad Lauterberg stationiert und ging mehrfach gegen kommunistische Versammlungen und einzelne Linke vor. Höhepunkt dieser Konfrontation war der mysteriöse Mord an dem Polizeiwachtmeister Alwin Hegener in der Nacht des 8. Oktober 1924:

„Es hing mit der Hungerrevolte zusammen. Am Bahnhof […] war ein Schild wegen eines toten Sipo-Mannes [Sicherheitspolizei, B.L.] aufgestellt. Von dem war ein blutbesudeltes Notizbuch gefunden worden […]. Es wurde aber nichts weiter gefunden […]. Man vermutete Rache, weil der Sipo den Ernst Struwe einmal furchtbar verprügelt hatte. Bei ihm wurde das ganze Haus ausgeräumt […]. Es wurde nichts gefunden. Dann stellte die Sipo in der MIAG [Mühlenbau und Industrie Aktiengesellschaft, B.L.] Nachforschungen an, ob die Leiche im Kessel verbrannt worden war. Auch in der Königshütte wurde gesucht, weil man sich erzählte, der Tote sei im Kupolofen verbrannt worden. Man hat dann die Suche eingestellt“ (Lebenserinnerungen von Theo Schlösser).

Es gab auch den Verdacht, die Leiche sei im Wiesenbeker Teich versenkt worden. Das Gewässer wurde abgesucht und sogar Taucher eingesetzt. Alle Bemühungen waren vergebens, die Leiche des Wachtmeisters wurde nie gefunden.          

Mitte der 1920er Jahre beruhigte sich die Situation. Im Jahr 1927 wurde Lina Heidelberg noch einmal wegen Beleidigung zu 40 Reichsmark Geldstrafe verurteilt. Welchen Hintergrund dieses Verfahren hatte, ist nicht bekannt. Über ein weiteres politisches Engagement von Lina Heidelberg finden sich keine Informationen. Sie starb (laut Melderegisterauskunft) am 17. August 1938, wenige Tage vor ihrem 66. Geburtstag.

Quellenverzeichnis

Helga Grebing, Hans-Otto Hemmer, Gottfried Christmann (Hg.) 1993: Das HolzArbeiterBuch. Köln: Bund-Verlag GmbH, Kapitel II, S. 106 – 110, Gottfried Christmann: ‚Revolution im Harz, der Lauterberger Stuhlarbeiterstreik‘.

Jacobshagen 1969: Eberhard Jacobshagen: Die Entwicklung der SPD und KPD in der Weimarer Republik, dargestellt am Beispiel einer niedersächsischen Kleinstadt: Bad Lauterberg. Schriftliche Hausarbeit für das Lehramt Geschichte an Volksschulen.

Sachse 2011: Mirjam Sachse: Von ‚weiblichen Vollmenschen‘ und Klassenkämpferinnen. Dissertation, Kassel.

Teyke, Gudrun: Geschichte der SPD Bad Lauterberg, unter: https://spd-badlauterberg.de/historie-des-ortsverein/ (abgerufen am 1.7.2019)

Schlösser o.J.: Theo Schlösser: Lebenserinnerungen. Nicht gedrucktes Skript, im Besitz des Verfassers.

Männel 1951/1992: Eberhard Männel: Karl Peix ein Kämpfer gegen Krieg und Faschismus. Überarbeitetes handschriftliches Skript, im Besitz des Verfassers.

Zeitungen

Holzarbeiter-Zeitung. Zeitschrift für die Interessen aller Holzarbeiter. Publikationsorgan des Deutschen Holzarbeiter-Verbandes, Nr. 25, Hamburg, 1896.

Bad Lautberger Tageblatt (BLT), erschien 1854 – 1997

Nr. 133, 65. Jahrgang, 14.11.1918, Ausgabe 6.2.1919, Ausgaben 16.3.1920, 18.3.1920. 30.3.1920

Blutmai 1929

Bernd Langer

Polizeigewalt und Faschismus

Im Jahr 1929 besteht die Weimarer Republik zehn Jahre. An ihrem Beginn stand eine Zeit, die geprägt war von Not, revolutionären Aufständen, rechtsradikalen Putschversuchen und einer Hyperinflation. Zwischen 1924 und 1928 schien sich die Lage zu stabilisieren. Doch 1929 bricht mit Macht die Weltwirtschaftskrise über das Deutsche Reich herein. Während es 1927 etwa eine Million Erwerbslose gab, klettert ihre Zahl bis 1929 auf drei Millionen und wird im Februar 1932 mit 6.120.000 Arbeitslosen – das entspricht 16,3 % – ihren Höhepunkt erreichen.

Die Regierung kann diese Situation kaum bewältigen und ist gezwungen, die öffentlichen Gehälter um 25 % zu kürzen. Arbeitslosenunterstützung wird lediglich sechs Wochen bezahlt, danach stehen für die Betroffenen nur noch öffentliche Suppenküchen zur Verfügung.

In dieser schwierigen Situation wird Herrmann Müller (SPD) im Juni 1928 zum Reichskanzler einer Großen Koalition, zu der auch die nationalliberale DVP gehört (Kabinett Müller II). Erstmals seit dem Jahr 1921 steht die SPD damit wieder in der Regierungsverantwortung.

Nur in Preußen, dem größten und bedeutendsten Reichsland, ist das anders. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen, heißt hier der Dauerministerpräsident von 1920 bis 1932 Otto Braun (SPD). Der ›rote Zar von Preußen‹ stützt sich auf eine Koalition mit Zentrum und DDP und will aus dem Freistaat ein ›demokratisches Bollwerk‹ machen. Dabei zählen die beiden sozialdemokratischen Innenminister Carl Severing (ab 1928 Reichsinnminister) und Albert Grzesinski zu Brauns wichtigsten Mitarbeitern. NSDAP und SA sind in Preußen bereits 1922 verboten worden.

Hauptfeinde

Als gefährlicher Gegner der Republik gilt Mitte der 1920er Jahre die KPD. Diese, ebenfalls zeitweise verbotene, Partei steht für mehrere bewaffnete Aufstände und in engem Kontakt mit den Bolschewiki. Ein Dorn im Auge der Behörden ist außerdem der formal unabhängige Rote Frontkämpferbund (RFB), dessen Führungskader über Kontakte zur Roten Armee verfügen. Nicht zuletzt ist die KPD eine Sektion der Kommunistischen Internationale (KI), einer Art revolutionärer Weltpartei, die ihren Sitz in Moskau hat.

Von jeher sind KPD und SPD politische Gegner und bereits 1924 ersinnt der bolschewistische Vordenker Grigori Sinowjew die These vom ›Sozialfaschismus‹, nach der die Sozialdemokratie lediglich eine Variante des Faschismus darstellt. Dass die Sozialfaschismusthese dann zur ideologischen Richtschnur der KI wird, hat jedoch mit Josef Stalin zu tun, der 1927 bei den Bolschewiki endgültig die Macht übernimmt.

In Bezug auf Deutschland hat der Diktator aufgrund eines geheimen Militärabkommens ein besonderes Interesse. Die Reichswehr hilft (bis 1933!), die Rote Armee aufzubauen, im Gegenzug können sich deutsche Soldaten auf russischem Gebiet an Waffen ausbilden, die ihnen der Versailler Vertrag in Deutschland verbietet. Dieses Geheimabkommen wird durch die SPD gefährdet, denn diese vertritt einen kritischen Kurs gegenüber der Sowjetunion und strebt eine Annäherung an Frankreich an.

Nach ihrem 6. Weltkongress vom 17. Juli bis 1. September 1928 in Moskau verschärft die KI ihren Kurs gegen den ›Sozialfaschismus‹. Die Sozialdemokratie wird zum Hauptfeind der kommunistischen Weltbewegung erklärt und eine aktive Politik zu deren Destabilisierung verkündet. Fortan ist es kommunistischen Parteien untersagt, Bündnisse mit sozialdemokratischen Parteien und Organisationen einzugehen.

Im Gegensatz dazu kommt es auf den Straßen verstärkt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen Kommunisten und Sozialdemokraten von den Nazis in eine Front geprügelt werden.

Die Nazis

Nach ihrem gescheiterten Putschversuch 1923 in München wird die Nazi-Partei reichsweit verboten. Aber bereits 1924 kommt Hitler vorzeitig auf freien Fuß und kann die NSDAP 1925 neu gründen. Zunächst bleibt der ›Führer‹ durch ein Redeverbot gehemmt und seine Partei parlamentarisch bedeutungslos. Bei den Wahlen zum 4. Reichstag am 20. Mai 1928 erhalten die Nazis ganze 2,6 % der Stimmen. Doch vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise vollzieht sich ab Frühjahr 1929 der Aufstieg der NSDAP zu einer Massenbewegung.

In diesem Zusammenhang spielt Josef Goebbels eine wichtige Rolle. Ab November 1926 Gauleiter von Berlin-Brandenburg, treibt er mit einer Mischung aus Propaganda und Straßenkampf die ›Eroberung‹ der Reichshauptstadt voran. Nachdem das Redeverbot für Hitler in Preußen 1928 fällt, organisiert Goebbels am 16. November eine Großkundgebung mit dem ›Führer‹ im Sportpalast. Es kommt zu Zusammenstößen mit Antifaschisten und am folgenden Tag wird die Leiche eines SA-Scharführers aus dem Landwehrkanal gezogen. Es bleibt nicht der einzige Tote, insgesamt verlieren bis zum 9. Dezember bei ähnlichen Auseinandersetzungen mindestens vier Menschen in Berlin ihr Leben.

Daraufhin beraten am 12. Dezember die Minister Grzesinski, Braun und Severing ein Verbot von KPD, NSDAP, RFB und SA. Zunächst erlässt Polizeipräsident Zörgiebel nach Zusammenstößen am 13. Dezember ein allgemeines Demonstrationsverbot für Berlin. Bald wird dieses Verbot ausgeweitet, denn in der Nacht zum 7. März 1929 findet in der kleinen Ortschaft Wöhrden (Schleswig-Holstein) eine heftige Straßenschlacht zwischen Nazis und Kommunisten statt. Es gibt drei Tote (zwei Nazis, ein Kommunist) und viele Schwerverletzte. Auch für diese preußische Provinz gilt von da ab ein Demonstrationsverbot.

Aufschaukeln

Seit 1925 ist Ernst Thälmann in Personalunion Vorsitzender von KPD und RFB. Thälmann steht für den stalinistischen Kurs und ist beim 6. Kongress der KI 1928 in der Sowjetunion anwesend. Nach seiner Rückkehr kommt fast das politische Ende für den Spitzenfunktionär. Obwohl dem Vorsitzenden die Unterschlagung von Parteigeldern bekannt ist, hat er dies für sich behalten (Wittorf-Affäre). Thälmann wird seiner Ämter enthoben, dann aber am 6. Oktober 1928 auf Intervention Stalins wieder in seine Parteifunktionen eingesetzt. Im selben Atemzug werden eine ganze Reihe von ›Abweichlern‹, die gegen den stalinistischen Kurs opponieren, aus der Partei bzw. ihren Nebenorganisationen ausgeschlossen. Thälmann ist Stalins Mann und soll mit dafür sorgen, dass sich die ›Sozialfaschismusthese‹ in der Partei und der kommunistischen Weltbewegung durchsetzt. Dafür bietet das Demonstrationsverbot am 1. Mai in Berlin durch die SPD eine Steilvorlage. Umgehend proklamiert die KPD das ›Recht auf die Straße‹ nicht aufzugeben und fordert Aktionen ›Gegen das Demonstrationsverbot, gegen das geplante Verbot des RFB‹.[1] Im März ruft die KPD ›Maikomitees‹ ins Leben, um trotz Verbot eine Großdemonstration zu organisieren.

Am 13. April veröffentlicht die ›Roten Fahne‹ den Aufruf des ZK der KPD, in dem es heißt: ›Heraus zur Mai-Demonstration … Arbeitsruhe in den Betrieben!‹

Da der 1. Mai in der Weimarer Republik kein gesetzlicher Feiertag ist, soll gestreikt werden.

Um der KPD-Agitation den Wind aus den Segeln zu nehmen, werden Zug um Zug in allen Städten und Gebieten Deutschlands, wo Demonstrationsverbote für den 1. Mai bestehen, diese aufgehoben. Eine ganze Reihe politischer Mandatsträger, unter ihnen Carl Severing, sind dafür, auch in Berlin die Mai-Demonstration zu erlauben. Doch in der Reichshauptstadt bleiben nur Saalveranstaltungen erlaubt.[2] Das liegt in erster Linie am preußischen Innenminister Albert Grzesinski. Er gilt als Kommunistenhasser der sich bereits Anfang 1919 für die militärische Niederschlagung des Berliner Januaraufstandes aussprach. Lieber heute als morgen will der preußische Innenminister RFB und KPD verbieten. Darin ist er sich mit seinem Parteigenossen Polizeipräsident Zörgiebel einig.

Mittlerweile putschen kommunistische und sozialdemokratische Presse die Stimmung wechselseitig in die Höhe. Im ›Vorwärts‹ vom 19. April heißt es: ›Die KPD will Tote … sie fordert auf, Zusammenstöße zu provozieren‹. Die ›Rote Fahne‹ kontert am 21.4. mit: ›Zörgiebel will am 1. Mai schießen‹. Schließlich titelt der ›Vorwärts. Der Abend‹ am 29. April: ›200 Tote am 1. Mai: Verbrecherische Pläne der Kommunisten …‹.

Tatsächlich hofft man bei der KPD, dass es ihr gelingt, die Aufhebung des Verbotes in Berlin zu erzwingen. Das wäre ein großer politischer Erfolg. Schließlich gehört die Maidemonstration zu den alten Traditionen der Arbeiterbewegung. Auf keinen Fall will die KPD-Führung 1929 auf die Maidemonstration verzichten und wird es darauf ankommen lassen. Noch gut erinnert man sich an das Jahr 1924, als ein ähnliches Demonstrationsverbot bestand und die Berliner Kommunisten trotzdem auf die Straße gingen. Noch dazu fühlt sich die KPD 1929 im Aufwind, u.a. ist es gelungen, bei der BVG (Berliner Verkehrs AG) einen kommunistischen Betriebsrat durchzusetzen. Diesen Erfolg beabsichtigt man auszubauen, indem am 1. Mai ein von der KPD angeführter BVG-Streik initiiert werden soll. Im Gegenzug ist der Streik von der Betriebsleitung der BVG und der sozialdemokratischen Gewerkschaft untersagt und gilt damit als ›wilder Streik‹. D.h., wer sich daran beteiligt, riskiert die fristlose Kündigung. Selbst der kommunistische Betriebsrat zweifelt daher an der Streikbereitschaft.

Solche Bedenken scheren die Parteileitung nicht, die ferner meint, bis zu 300.000 Menschen in die Innenstadt mobilisieren zu können. Selbst die ›Arbeiterkinder‹ sind aufgerufen  die Schule zu schwänzen und sich zu beteiligen. Sollte die Maidemonstration unterdrückt werden, will die KPD am 2. Mai zu einem ›Massenstreik‹ aufrufen.

Mit der Realität haben die bombastischen Verlautbarungen der KPD jedoch reichlich wenig zu tun. Viele Menschen sind durch die Stimmungsmache und das Verbot der Mai-Demonstration abgeschreckt. Um die Mobilisierung der KPD weiterhin zu beeinträchtigen, organisieren SPD und den ADGB-Gewerkschaften diverse große Mai-Saalkundgebungen und rufen dazu auf, sich nicht an den KPD-Veranstaltungen zu beteiligen. Genauso fordert die KPD, ›die Versammlungen der sozialfaschistischen Gewerkschaftsbürokratie zu meiden‹.[3]

Die Polizei

Zu den Gegnern der KPD gehört zweifellos die Polizei. Insbesondere bei der politischen Abteilung der Kripo, der ›Abteilung I A‹, sind viele Kommissare ehemalige Freikorpskämpfer. In der Regel entstammen die Polizisten jedoch jüngeren Jahrgängen. Das Eintrittsalter liegt bei 20 Jahren. Bevor man in den Revierdienst übernommen wird, durchläuft man eine militärische Ausbildung, gefolgt von mehreren Jahren kaserniertem Bereitschaftsdienst. In Berlin betrifft dies zirka 5.000 Mann der insgesamt 14.000 Köpfe zählenden uniformierten Schupo (Schutzpolizei).

Insgesamt hat die Polizei in Berlin eine Stärke von 16.500 Mann, die allesamt am 1. Mai zur Verfügung stehen, um Demonstrationen im Keim zu ersticken.

Kalkül und Realität

Die KPD will verschiedene Demonstrationszüge am Alexander- und Potsdamer Platz zusammenströmen lassen, da diese wichtigen Verkehrskreuzungen nicht gänzlich von der Polizei abgesperrt werden können.

Waffen, Hieb- oder Stichwerkzeuge, selbst Knüppel sind von der Partei streng untersagt. Der RFB soll in Zivil antreten, sich friedlich verhalten und lediglich die Demonstrationszüge abschirmen. Nicht von einer militanten Straßenschlacht sollen Bilder um die Welt gehen, sondern von der Polizei, die auf wehrlose Demonstranten losgeht.

Nur haben weit weniger Menschen Ambitionen, sich an dem angekündigten Schlagabtausch mit der SPD zu beteiligen, als von der KPD gedacht. Nur einige zehntausende lassen sich mobilisieren.[4] Vom angekündigten BVG-Streik ist nichts zu bemerken. Der öffentliche Nahverkehr läuft am 1. Mai wie an jedem anderen Tag. Baumaterial, das in Neukölln auf Gleise geworfen wird, und Sabotage an elektrischen Leitungen der Straßenbahn haben nur einen sehr begrenzten Effekt.

Erfolgreicher ist der ›Schulstreik‹. Zum einen hat das politische Gründe, zum anderen lassen viele Eltern ihre Kinder wegen der sich abzeichnenden Konfrontationen lieber zu Hause bleiben. In etlichen Klassen fällt der Unterricht aus.

18 Tote am ersten Tag

In den Vormittagsstunden des 1. Mai kann die Polizei einige Menschenansammlungen, vor allem in den ›besseren‹ westlichen Stadtteilen, ohne Gewaltanwendung zerstreuen. In den kommunistischen Hochburgen wie Neukölln allerdings kommt es gleich zu Beginn am Reuterplatz zu Gerangel, Flaschen und Steine fliegen, es setzt Prügel. In der Folge gibt es Verletzte auf beiden Seiten, einige Beamte feuern Warnschüsse ab.

Wenig später werden an den zentralen Sammelpunkten Potsdamer- und Alexanderplatz Demonstranten unter massivem Schlagstockeinsatz und mit an Hydranten angeschlossenen Wasserschläuchen auseinandergetrieben. Immer wieder versuchen sich Demonstranten zusammenzufinden. Es entstehen verschiedene Brennpunkte, die Lage wird unübersichtlich.

Um die umherfahrenden Polizeifahrzeuge zu stoppen, werden hier und da Hindernisse aus schnell erreichbarem Baumaterial, umgestürzten Fahrzeugen oder Litfaßsäulen errichtet. Immer wieder machen Polizisten bei den Auseinandersetzungen von ihren Dienstwaffen gebraucht, bis 14 Uhr sterben dadurch im Bezirk Mitte vier Menschen. Dann wird in der Kösliner Straße im Wedding der dort bekannte Sozialdemokrat Max Gemeinhardt am Fenster seiner Wohnung erschossen. Das lässt die Lage rund um die Straße sofort eskalieren. Angeblich werden Schüsse auf die Polizei abgegeben. Von nun an nehmen die Polizisten jedes verdächtige Fenster sofort massiv unter Feuer. Nach kurzer Zeit zieht sich die Schupo aus der Kösliner Straße zurück. Wenig später beginnt man dort, aus einem umgestürzten Wagen eine ›Barrikade‹ zu improvisieren.

Erneut rücken die Beamten gegen die Straße vor, nun mit Karabinern ausgerüstet. Obwohl sie auf keinen Widerstand stoßen, feuern die Polizisten auf alles, was sich hinter Fenstern oder Hausecken bewegt. Acht Menschen werden tödlich getroffen. Bis zum Abend des 1. Mai erschießt die Polizei allein im Wedding 10 Menschen. Insgesamt werden es an diesem Tag 18 Tote sein. Nachdem ein Panzerwagen, der von seinem MG keinen Gebrauch macht, gegen 20 Uhr durch die Kösliner Straße gefahren ist, schweigen hier endlich die Waffen. Die Polizei sieht von einer Besetzung der Straße ab und zieht sich zurück. Im Wedding finden nach Anbruch der Dunkelheit keine Kämpfe statt. Auch im übrigen Stadtgebiet gelingt es der Polizei durch ihr rigoroses und gewalttätiges Vorgehen bis zum Abend, alle Ansammlungen und Demonstrationszüge zu zersprengen. Bis auf eine Ausnahme: Neukölln.

Barrikaden in Neukölln

Den ganzen Tag über ist es im Gebiet um die Herrmannstraße und den angrenzenden Rollbergkiez unruhig, mit Einbruch der Nacht eskaliert die Lage. Neben KPD-Aktivist_innen stellen sich vor allem Jugendliche aus ›Wilden Cliquen‹ der Polizeigewalt entgegen.

Um der Schupo das Vorgehen zu erschweren, werden die meisten Straßenlaternen demoliert. Im Schutz der Dunkelheit entstehen die einzigen tatsächlichen Barrikaden in diesen Auseinandersetzungen. Aufgebrochene Pflastersteine werden aufgetürmt, die Straße auf ganzer Breite freigelegt und mit Schaufeln und Händen ein Graben ausgehoben.

Einzig auf ihr Scheinwerferlicht angewiesen, trauen sich die Polizisten nur sehr vorsichtig vor und machen ausgiebig von ihren Schusswaffen Gebrauch. Wieder heißt es, dass Dachschützen die Schupo unter Feuer nehmen. Einen Beweis dafür gibt es allerdings nicht. Tatsächlich wird während der gesamten Tage kein einziger Polizist von einer Kugel getroffen. Die Polizei bringt einen Panzerwagen zum Einsatz, der mit seinem MG auf alles feuert was sich in der Dunkelheit bewegt. Vier Menschen, die zufällig in die Feuerlinie geraten, werden erschossen.

Unbeteiligte sind keine Seltenheit, denn außerhalb des unmittelbaren Kampfgebietes geht das Leben seinen ganz normalen Gang, sind Kneipen und Kinos geöffnet.

Gegen Mitternacht hat die Polizei die Barrikaden beseitigt und zieht sich zum Hermannplatz zurück.

In dieser Nacht (zum 2. Mai) beschließt das ZK der KPD, das den Einfluss auf das Geschehen weitgehend verloren hat, weitere Demonstrationen zu untersagen. Stattdessen soll ein politischer Proteststreik am 2. Mai den ›Rückzug der kämpfenden Arbeiter decken‹. Die Beteiligung fällt bescheiden aus. Selbst die parteioffizielle Chronik bilanziert lediglich 75.000 Streikende (25.000 in Berlin, 50.000 im übrigen Reich), laut Polizeiangaben sind es in Berlin 14.000 Streikende, nach anderer Quellen legen reichsweit insgesamt 50.000 Menschen die Arbeit nieder.[5]

Insbesondere in der Parteijugend trifft der ZK-Beschluss auf Ablehnung. Zwar verläuft der 2. Mai zunächst ruhig und ohne Demonstrationsversuche. Als aber die Nacht hereinbricht, beginnen in Neukölln und dem Wedding erneut Auseinandersetzungen. Versuche, im Wedding Barrikaden zu errichten, werden von der Polizei unterbunden. Dabei fallen wieder Schüsse und etliche Menschen werden verletzt oder verhaftet, Tote gibt es in dieser Nacht im Wedding aber nicht. In Neukölln geht es härter zur Sache. Auch hier versuchen jugendliche Aktivist_innen Barrikaden zu errichten. Wieder setzt die Polizei einen Panzerwagen ein. Eine unbeteiligte Frau wird am Fenster erschossen sowie ein zufälliger Passant auf der Straße.

Sonderaktion

Am 3. Mai könnte alles vorbei sein, doch jetzt holt die Polizei zum großen Schlag aus. Eine Sonderaktion, also umfangreiche Durchsuchungen, finden in den Unruhegebieten von Wedding und Neukölln statt. Gleich zu Beginn heißt es, die Beamten würden von Dachschützen beschossen. Was folgt, kann man als Polizeimassaker bezeichnen. Ohne Zögern nehmen mit Karabinern ausgerüstete Polizisten jedes Fenster aufs Korn, hinter dem sich ein Schatten zeigt. In Neukölln rast der Panzerwagen die Hermannstraße rauf und runter und feuert mit seinem MG auf alles Verdächtige. An diesem Tag erschießt die Polizei in Neukölln weitere elf Menschen.

Gleichzeitig verbietet der preußische Innenminister Grzesinski den RFB. Das Verbot wird bis zum 17. Mai von allen Reichsländern übernommen. Grzesinski will auch die KPD verbieten, was aber von Severing als undurchführbar angesehen wird. Über mehrere Wochen untersagen die Innenminister jedoch das Erscheinen der ›Roten Fahne‹ und andere KPD-Zeitungen. Bei der BVG werden die kommunistischen Betriebsräte Deter und Krüger am 2. Mai entlassen. Ebenso wird in anderen Betrieben verfahren. Etwa 500 Personen, zumeist Frauen, verlieren auf Dauer ihre Arbeitsstellen[6].

Am Misserfolg der KPD lässt sich nicht deuteln. Andererseits erringen weder die SPD noch die verantwortlichen Minister oder gar die Polizei einen Sieg. Letztere behauptet zwar die Straße, doch ihr beispiellos brutales Vorgehen das über 30 Tote und mehr als 150 Schwerverletzte zu Folge hat, ist eine Bankrotterklärung für die Republik. Nachhaltig vertieft der ›Blutmai‹ den Bruch zwischen SPD und KPD und gilt als fürderhin als Beleg für die Sozialfaschismusthese, die nun von der KPD-Basis nachvollzogen wird und den stalinistischen Kurs unter Ernst Thälmann bestätigt. Den Nutzen aus der Frontstellung von KPD und SPD werden die Nazis ziehen.


[1] ›Rote Fahne‹, 19.12.1928

[2] Am Nachmittag und Abend des 1. Mai finden laut Polizeibericht 20 von der KPD angemeldete  Saalveranstaltungen mit insgesamt 12.000 Teilnehmer_innen statt, die allesamt ruhig verlaufen. Léon Schirmann, Berlin 1991 ›Blutmai‹, S. 134

[3] Flugblatt der KPD, im Besitz des Verfassers

[4] ›Berliner Blutmai 1929‹, Mitte Museum 2009, S. 13, gibt insgesamt 25.000 Demonstranten an. Angaben bei Léon Schirmann, Berlin 1991 ›Blutmai‹, S. 98, liegen etwas höher.

[5] W. Ulbricht, ›Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung‹, Berlin 1966, Bd.4, S. 199. Siehe auch Kurt P. G. Schuster, ›Der Rote Frontkämpferbund 1924 – 29‹, Düsseldorf 1975, S. 220 und Léon Schirmann, ›Blutmai‹, Berlin 1991, S 290.

[6] Léon Schirmann, ›Blutmai‹, Berlin 1991, S. 290.

Comic ›Der Matrosenaufstand 1918 in Kiel‹

Man schreibt das Jahr 1918: Seit vier Jahren tobt der I. Weltkrieg. In Deutschland regiert faktisch die Oberste Heeresleitung (OHL) unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff und zwingt das Land unter die Knute der totalen Kriegsführung. Die wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen sind erschöpft.
Allein zwei Millionen deutsche Soldaten sind gefallen und bis zu 900.000 Zivilisten elend an der ›Heimatfront‹ gestorben, weil die gegnerischen Staaten die Rohstoff- und Lebensmittelzufuhr blockieren. Hinzu kommt 1918 eine Grippepandemie.
Düster sind die Aussichten für die deutsche Generalität vor allem seit die USA 1917 in den Krieg eingetreten sind. Aber noch gibt es in der OHL Hoffnung. Denn nach dem Machtantritt der Bolschewiki im Oktober 1917 unterzeichnet Russland einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland. Gleichzeitig wird Italien nachhaltig militärisch geschlagen. So kann die OHL eine Entscheidungsoffensive an der Westfront planen, die nur gelingen kann, solange die US-Verstärkungen noch nicht voll zur Geltung kommen. Unter Aufbietung aller Reserven endet diese ›Große Schlacht in Frankreich‹ im August 1918 mit der deutschen Niederlage.

Frieden – wenn der Kaiser abdankt

Umgehend sollen jetzt Friedensverhandlungen eingeleitet werden. Aber mit dem deutschen Kaiser wollen die Siegermächte nicht verhandeln. Es kommt zu einer Verfassungsänderung und Kaiser Wilhelm II. tritt einen Teil seiner Macht ab. Er ernennt den liberalen Aristokraten Max von Baden am 3. Oktober 1918 zum Reichskanzler. Eine parlamentarische Regierung, erstmals unter Einbeziehung der SPD, wird gebildet. Sie untersagt umgehend jegliche Offensivhandlungen, auch den U-Boot-Krieg, und setzt am 26. Oktober General Ludendorff ab. Doch der Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen zieht sich hin, weil US-Präsident Woodrow Wilson sie von der vollständigen Abdankung des Kaisers abhängig macht. Wilhelm II. aber klammert sich an seine Krone. Ebenso kann sich ein großer Teil des Offizierskorps nicht mit einer Niederlage abfinden.

Die Marineführung will weiterkämpfen

Vor allem trifft dies auf die Marineführung, die Elite des Kaiserreiches zu, die kaum zum Einsatz gekommen ist. Die Offiziere wollen sich nicht einfach ergeben und die Flotte ausliefern. Da bietet sich Ende Oktober 1918 eine letzte Gelegenheit zum Kampf. Mit dem Ziel, der schwer bedrängten Westfront Entlastung zu verschaffen, wird ein Kampfverband aus dem I. und III. Geschwader vor Wilhelmshaven zusammengestellt.

Woraufhin unter den nicht weiter informierten Mannschaften Gerüchte entstehen, als die Matrosen Wind von dem Unternehmen bekommen.

Die Matrosen machen nicht mehr mit

Es heißt, der Flottenvorstoß sei ein selbstmörderisches Vorhaben und durchkreuze die Anordnungen der Regierung. Mit wehender Fahne wollten die Offiziere untergehen und die Friedensverhandlungen durch einen letzten Verzweiflungsakt stören. Deshalb verweigern auf der Schilling-Reede, dem Bereitschaftsposten der Hochseeflotte vor Wilhelmshaven, die Mannschaften auf den Linienschiffen ›Thüringen‹ und ›Helgoland‹ beim Auslaufen den Dienst.

 

Erst als Torpedoboote und U-Boote drohen die Schiffe zu versenken, geben die streikenden Mannschaften auf. Damit ist der Flottenvorstoß gescheitert und die Schiffe sind gezwungen in ihre Heimathäfen zurückzukehren. Rund 600 Matrosen werden gefangen genommen, 400 von ihnen in Wilhelmshaven und in den umliegenden Kasematten eingesperrt.

Die drei Großkampfschiffe des III. Geschwaders ›Bayern‹, ›Markgraf‹ und ›König‹ ziehen sich nach Kiel zurück. Dort sollen die restlichen 200 Gefangenen in Militärgefängnisse kommen. Kurz vor dem Einlaufen werden auf der ›Markgraf‹ weitere 47 Matrosen als Rädelsführer verhaftet. Allen Gefangenen droht das Kriegsgericht – was ihre Kameraden nicht hinnehmen wollen. Um die Gemüter zu beruhigen, wird den Mannschaften großzügig Landurlaub gewährt. Nach Zerstreuung und Zeitvertreib ist aber nicht allen Matrosen zumute. Etwa 250 versammeln sich am Abend des 1. November im Gewerkschaftshaus. Nach kurzer Debatte wird beschlossen, der Forderung nach Freilassung der Gefangenen am nächsten Tag um 19.30 Uhr mit einer Demonstration Nachdruck zu verleihen. Da die Polizei von dem Vorhaben erfährt, befiehlt Gouverneur Souchon, das Gewerkschaftshaus am 2. November für Marineangehörige zu sperren. Polizisten riegeln das Gebäude ab.

Von der Solidarität mit den Gefangenen zum Aufstand

Einige hundert Matrosen irren daraufhin durch die Stadt, bis sich schließlich circa 500 Menschen, meist Matrosen und Angehörige von Landmarineeinheiten, aber auch Vertrauensmänner der USPD, im Vieburger Gehölz im Süden Kiels versammeln. Die 1917 aus der SPD hervorgegangene USPD ist das Sammelbecken aller Kriegsgegner und Oppositionellen. Verschiedene Redner, darunter Karl Artelt, ergreifen das Wort.
Der 1890 geborene Karl Artelt aus Magdeburg, seit 1908 Mitglied der SPD, wird als Maschinenbauer mit Beginn des Krieges in die Germania-Werft in Kiel abkommandiert. Es folgt der Übertritt zur USPD. Im Jahr 1917 wird Artelt wegen »revolutionärer Tätigkeit unter den Matrosen und Werftarbeitern« zu sechs Monaten Festungshaft verurteilt. Anschließend kommt er in Flandern an die Front, wird aber nach einem halben Jahr als gefragter Spezialist in die Torpedobootsreparaturwerft nach Kiel zurückbeordert.
Neben Karl Artelt ist Lothar Popp die zweite Persönlichkeit der USPD in Kiel. Popp, Jahrgang 1887, lebt als Kleinhändler in Hamburg und ist ein pazifistisch eingestellter Sozialdemokrat. Seit 1912 SPD-Mitglied, wechselt auch er im Krieg zur USPD. 1915 wird er zum Militär eingezogen und Anfang 1917 als kriegsuntauglich entlassen. Als Schlosser wird er wenig später zur Germania-Werft in Kiel dienstverpflichtet und während des Januar-Streiks 1918 zum Vorsitzenden des Kieler Arbeiterrates gewählt. Nach dem Streik muss Popp eine Freiheitsstrafe von zwei Monaten verbüßen. Fortan bleibt er ohne feste Anstellung in Kiel und ist dort Vorsitzender der USPD. Bei seiner Rede am Abend des 2. November fordert Artelt neben der Freilassung der Inhaftierten die Niederringung des Militarismus sowie die Entmachtung der herrschenden Klasse.

Lothar Popp und andere USPD-Mitglieder treten ebenfalls in Erscheinung. Gemeinsam ruft man zu einer großen Volksversammlung am nächsten Tag am gleichen Ort auf. Zwar beobachten Polizisten, getarnt in Zivil, diese Versammlung, aber weder Polizei noch Militär greifen ein. Erst auf dem Rückweg tritt eine Kompanie Marinesoldaten aus der naheliegenden Waldwiesen-Kaserne den abziehenden Matrosen entgegen. Aber diese Kompanie ist ihren Kameraden wohlgesonnen.

Versuche die Bewegung zu unterdrücken schlagen fehl

Am selben Abend erstattet die Polizei dem Stadtkommandanten und Kapitän zur See Wilhelm Heine in dessen Privatwohnung Bericht von den Entwicklungen in der Stadt. Anwesend ist außerdem Konteradmiral Hans Küsel, Chef des Stabes der Ostseestation. Gouverneur Wilhelm Souchon, der erst seit drei Tagen im Amt ist, wird nicht hinzugezogen. Ergebnis der Unterredung ist eine allgemeine Urlaubssperre für Sonntag. Zusätzlich werden in der Nacht weitere 57 Matrosen der ›Markgraf‹ verhaftet.
Am Sonntagvormittag gibt es ein erneutes Treffen, diesmal ist der Gouverneur anwesend. Es wird beschlossen, um 16 Uhr Stadtalarm auszulösen, der die Matrosen auf die Schiffe und in die Kasernen befiehlt. Trommeln und Pfeifen geben den Alarm um 15.30 Uhr bekannt. Aber viele Matrosen ignorieren die Anordnung und machen sich auf den Weg zum Exerzierplatz im Vieburger Gehölz. Etliche Marinesoldaten und Zivilisten schließen sich an. Bis 18 Uhr haben sich circa 5.000 Menschen versammelt.
Einige Redner versuchen sich Gehör zu verschaffen und wenig später, der Abend zieht heran, setzt sich die Menge in Bewegung. Ihr Ziel ist die Marine-Arrest-Anstalt in der Feldstraße. Die Matrosen wollen ihre inhaftierten Kameraden befreien und anschließend das Offiziercasino stürmen. Immer mehr Menschen reihen sich in den Demonstrationszug ein.

Auf ihrem Weg liegt das Lokal Waldwiese, das als Hilfskaserne dient. Die kleine Waldwiesenkaserne wird von der Masse einfach überrollt. Einige dort Arrestierte werden befreit und Waffen erbeutet. Nachdem der Gouverneur von den Vorgängen unterrichtet ist, befiehlt er, der Demonstration »mit allen Mitteln entgegenzutreten« und »rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen.« Aber welche Einheiten sind noch loyal?

Das letzte Aufgebot von Befehlsempfängern versagt

Als verlässliche Truppe gilt die Ausbildungskompanie der Torpedo-Division, zumeist Rekruten und Offiziersanwärter. Kurzerhand wird die Einheit bewaffnet. Während Hals über Kopf zusammengesuchte Befehlsempfänger zur Sicherung von Gouverneurssitz und Arrestanstalt unterwegs sind, erreichen die Demonstranten gegen 18.30 Uhr den Bahnhof. Bei einem Gedränge gerät eine Frau unter eine Straßenbahn. Von diesem Unglück bekommen die meisten Demonstranten nichts mit. Sie ziehen mit Gesang und Parolen weiter in Richtung Marine-Gefängnis.
Es ist bereits dunkel, als die Menge, angeführt von untergehakt gehenden Matrosen, kurz vor 19 Uhr von der Brunswiker Straße in die Karlstraße abbiegen will. Vier Gaslaternen stehen an der Kreuzung. Doch ihr Licht kann die Szene, die sich etwas weiter in der Karlstraße abspielt, nur spärlich erhellen. Dort stehen 20 Schutzpolizisten auf der Straße und wollen den Weg versperren.
Als die Demonstration um die Ecke kommt und Sprechchöre tausender Kehlen in den Häuserzeilen widerhallen, verlieren die Polizisten die Nerven und türmen.

Doch 20 Schritte weiter steht der kriegsversehrte Leutnant der Reserve Oskar Steinhäuser mit 30 Soldaten auf der Karlstraße. Etwa zehn Schritte tritt der Leutnant vor seine Patrouille und hebt die rechte Hand.

Die vorderen Reihen der Matrosen stoppen ab, es wird ruhiger, und Steinhäuser erklärt, dass er Befehl habe, schießen zu lassen und es im Interesse aller wäre, wenn es ihm erspart bliebe, ein solches Kommando zu geben. Die Lage scheint sich zu entspannen, Steinhäuser geht zurück, tritt hinter seine Soldaten. Aber die Masse schiebt die vorderen Reihen immer weiter auf die Soldaten zu.

Gedränge, Dunkelheit und aufgereizte Stimmung machen es unmöglich, einen klaren Überblick zu behalten. Einige wollen sich ohnehin nicht von der Handvoll Soldaten aufhalten lassen. So in die Enge getrieben, gibt Steinhäuser schließlich den Feuerbefehl.

Die Salve soll in die Luft gehen, doch ein Matrose wird in die Schulter getroffen. Sofort stieben die Demonstranten auseinander, einzelne erwidern das Feuer.

 

 

In diesem Moment bekommt Steinhäuser von hinten einen Schlag auf den Schädel und bricht zusammen. Sofort preschen einige mutige Demonstranten vor, reißen andere mit sich. Ohne Offizier wissen die Rekruten nicht, was sie tun sollen, werden unsicher und geben eine gezielte Salve ab. Schreie, Verletzte wälzen sich am Boden. Die Rekruten geraten in Panik und laufen davon. Einige schießen wohl noch einmal, auch Matrosen feuern.
Steinhäuser kommt in diesem Tumult wieder zu sich, rappelt sich auf und bekommt erneut einen Schlag auf den Kopf, stürzt und wird von heranstürmenden Matrosen mit Gewehrkolben und Fußtritten malträtiert.

Als er sich aufzurichten versucht, feuert ein Matrose mit einer Pistole auf ihn. Der erste Schuss geht fehl, der zweite trifft Steinhäuser in die Brust. Wenige Augenblicke später gelingt es einem Wachtmeister und einem Leutnant, dem besinnungslosen Steinhäuser zu Hilfe zu eilen.
Sofort gehen Matrosen auf die Männer los und schlagen sie zusammen. Der Leutnant wird von einem Kopfschuss getroffen. Erst das energische Eingreifen einer Krankenschwester sorgt dafür, dass von den dreien abgelassen wird. Einige Demonstranten tragen die Schwerverletzten in ein nahegelegenes Lokal. Sie überleben.
Plötzlich rast ein Löschfahrzeug der Feuerwehr, vom Gouverneur alarmiert, in den Tumult. Gleichzeitig taucht ein Zug eines Marine-Bataillons hinter der Demonstration auf und feuert auf die Beine der Menge. Wieder werden Demonstranten verwundet, die Matrosen zerstreuen sich in die Nebenstraßen – ein Pyrrhussieg für den Gouverneur. Zwar kann er den Sturm auf das Gefängnis verhindern, doch aus der Befehlsverweigerung der Matrosen ist nun eine aktive Rebellion geworden. Souchon glaubt zunächst noch, wieder Herr der Lage zu sein. Er gibt für den kommenden Tag den Befehl zum Auslaufen des III. Geschwaders.

Vom Aufruhr zur Revolution

Doch sieben Matrosen sind gefallen und 29 verwundet, von denen zwei wenig später sterben. Die Toten und Verwundeten erbittern ihre Kameraden umso mehr. Matrosen ziehen los, dringen in Waffenkammern ein. Sie besorgen sich Waffen und Munition.
Am Morgen des 4. November entgleitet der Führung die Macht. Gegen 10 Uhr liegen die Arbeiten auf der Germania-Werft und in der Torpedowerkstatt still. Das Auslaufen des III. Geschwaders verzögert sich. Auf den Schiffen meutern die Mannschaften.
Als gegen 13 Uhr der Kommandeur der großen Kaserne in der Wik, Kapitän zur See Rudolf Bartels, seine Division mit einer Ansprache von der Teilnahme an dem angekündigten Demonstrationszug in die Stadt abhalten will, ist er mit einem Mal mit einer Gruppe Matrosen konfrontiert. Sie teilen dem Kapitän mit, welche Forderungen dieser der politischen Führung zu übermitteln hat.
Der Sprecher der Matrosen ist Karl Artelt. Nach einer ersten Verhandlung um 15 Uhr zwischen Gouverneur Souchon und einer Matrosenabordnung unter Artelt, will der Befehlshaber die Wogen glätten, indem er auf die Forderungen der Matrosen- und Arbeiterdelegation eingeht: die Freilassung der Inhaftierten; jeglicher Flottenvorstoß unterbleibt; die Schießerei am Vorabend soll gerichtlich untersucht werden. Mehrere tausend Matrosen ziehen anschließend im Triumphzug zur Arrestanstalt und holen ihre Kameraden dort ab. Damit sind die Würfel gefallen.
Am Nachmittag des 4. Novembers wäre ein Eindämmen der Bewegung in Kiel nur noch durch einen massiven Militäreinsatz möglich. Den ganzen Tag über treffen militärische Einheiten in Kiel ein, die den Aufstand niederschlagen sollen. Doch die Soldaten laufen zum großen Teil über oder lassen sich von den Aufständischen entwaffnen. Schießereien bleiben die Ausnahme. Trotzdem werden bis zum 5. November noch einmal zehn Tote gezählt.

Die rote Fahne verkündet den Sieg

Symbole des Aufstands sind die mit dem Lauf nach Unten getragenen Gewehre, um zu zeigen, dass Waffen nur noch zur Verteidigung gebraucht werden, und die rote Fahne, die auf allen öffentlichen Gebäuden aufgezogen wird, so auch auf dem Kieler Schloss. Dort residiert Prinz Heinrich, der älteste Bruder des Kaisers und seit Jahrzehnten Repräsentant der Hohenzollern in Schleswig-Holstein. Am Morgen des 5. Novembers sieht der Prinz Pistolen auf sich gerichtet. Eine Abordnung der aufständischen Matrosen ist in seine Residenz eingedrungen und zwingt ihn, die Treppe auf den Turm hinaufzusteigen – und oben, für jedermann sichtbar, eigenhändig die rote Fahne der Revolution zu hissen.
Eine Episode, die Rechtsradikalen als Vorbild gilt, spielt sich ebenfalls an diesem Morgen ab. Zur Flaggenparade werden an diesem Tag auf allen Kriegs- und Hilfskriegsschiffen in Kiel rote Flaggen gesetzt. Nur die ›Schlesien‹ und die ›König‹ zeigen noch die Reichskriegsflagge. Während die ›Schlesien‹ schnell ausläuft und das Weite sucht, bleibt die ›König‹, das Flaggschiff des III. Geschwaders, im Dock. Es liegt hier zur Reparatur. Kapitän Carl Wilhelm Weniger verweigert dem Soldatenrat, die rote Fahne auf seinem Schiff zu hissen. Mit einigen Offizieren stellt er sich vor den Flaggenmast.
Es kommt zum Feuergefecht. Der erste Offizier, Korvettenkapitän Bruno Heinemann, und der Adjutant, Leutnant zur See Wolfgang Zenker, sterben unter den Kugeln der revoltierenden Matrosen. Dann weht die rote Fahne auch am Mast der ›König‹. Kapitän Weniger überlebt schwer verwundet. In der NS-Zeit werden zwei Zerstörer nach den Toten benannt werden.

Ein weiterer Offizier, der den Umsturz nicht überlebt, ist der Stadtkommandant von Kiel, Kapitän zur See Heine, der verantwortlich für das Blutvergießen vom 3. November ist. Er wird in der Nacht zum 6. November in seiner Wohnung von einer Matrosenpatrouille erschossen.
Für die Matrosen steht jetzt alles auf dem Spiel: Entweder gelingt es den Aufstand zu verbreiten, oder sie werden als Meuterer abgeurteilt enden. Spontan finden sich Gruppen zusammen, die sich ›Sturmvögel‹ nennen. Sie wollen die Flamme der Revolution in andere Städte tragen. Schließlich bestehen die ›Sturmvögel‹ aus mehreren tausend Mann, die binnen weniger Tage dafür sorgen, dass in Norddeutschland die Revolte auf mindestens 50 Städte übergreift und schnell auch das ganze Land erfasst. Am 8. November ruft Kurt Eisner in München den ›Freistaat‹ (Frei von Monarchie) Bayern aus.
Um überhaupt noch handlungsfähig zu sein, verkündet Max von Baden am 9. November eigenmächtig die Abdankung des Kaisers. Doch die Realität schafft ihre eigenen Fakten: An diesem Tag erreicht die Revolution Berlin, und der Kaiser macht sich nach Holland aus dem Staub.
Am 11. November unterzeichnet Matthias Erzberger als deutscher Regierungsvertreter die Waffenstillstandsbedingungen in Campiègne. Am 28. November, als es längst keine Relevanz mehr hat, schickt Wilhelm II. aus dem Exil seine offizielle Abdankungsurkunde nach Berlin. Mit dem Schriftstück kann niemand mehr etwas anfangen.
Die Novemberrevolution hat die Monarchie hinweggefegt, das Deutsche Reich ist eine Republik.

Die Todesschüsse – Startbahn West 1987

Bernd Langer und Horst Schöppner

Der 6. Jahrestag der Hüttendorfräumung war gut vorbereitet. Die militanten Gruppen aus dem Rhein-Main-Gebiet hatten sich abgesprochen. Alles lief wie geplant. Dann fielen im Wald 14 Schüsse. Zwei Polizisten waren tot. Danach war alles anders.

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ZDF-Feindpropaganda

Bilder der nächtlichen Straßenschlacht im Schanzenviertel während des G20-Gipfels, unterlegt mit theatralischen Weltuntergangsklängen, dazu eine dramaturgische Stimme aus dem Off: „Steinwürfe von Vermummten, Angriffe auf Polizisten, brennende Barrikaden, Geschäfte werden geplündert. Die radikale Linke sorgt für Ängste.“ So beginnt die ZDF-Dokumentation ›Radikale von Links – die unterschätzte Gefahr‹. Plötzlich und unvermittelt blitzt das Symbol der RAF auf. Von der größten Herausforderung nach dem Krieg für den deutschen Staat wird gesprochen; 33 ermordete Menschen sollen auf das Konto der RAF gehen. Nach deren Selbstauflösung im Jahre 1998 sei es dann ruhig geworden um die extreme Linke in Deutschland. Doch der Verfassungsschutz (VS) warnt – die Hemmschwelle sinke wieder und untermauert die Zahl steigender Gewalt von Links mit seinen eigenen Statistiken. Dieser Blickwinkel wird in der Dokumentation kontinuierlich beibehalten und auf einen eigenen journalistischen Standpunkt vollständig verzichtet. Es gibt nicht einmal den Versuch, einen Anschein von Neutralität zu wahren.

Während die Aussagen von Linken stets in Frage gestellt werden, nehmen Kommentare von Staatsschutz, Polizei und befragten ›Experten‹ breiten Raum ein. Diese verkünden die ›Wahrheit‹ und sind eins mit den Aussagen der Stimme aus dem Off.

„Was habt ihr denn erwartet?“, lautet der eine oder andere Kommentar nach der Ausstrahlung am 6. September. Zunächst mal einen anderen Film. Rainer Fromm, bislang bekannt für Recherchefilme im rechten Spektrum, suchte Anfang des Jahres Interviewpartner zum Thema linke Szene und Antifa. Herauskommen sollte eine Dokumentation über die radikale Linke und was sie heute bewegt. Entstanden ist jedoch ein demagogisches Machwerk. Die Interviews mit linken Aktivisten und Aktivistinnen dienen ausschließlich der Bebilderung tendenziöser Thesen.

Im ersten Beispiel heißt es: „Antifaschismus ist derzeit eines der Hauptthemen linker Extremisten.“ Als Beleg, dass diese nicht vor Gewalt im geistigen Gefolge der RAF zurückschrecken, dient eine Demonstrationen gegen die AfD im April 2017 in Köln. Während die Stadt sich angeblich im Ausnahmezustand befindet, wird ein Sprecher der Gruppe ›Nationalismus ist keine Alternative‹ gefragt, ob ihm verletzte AfD-Mitglieder nicht leid täten. Nach kurzem Zögern entgegnet er: „Nein!“ Diese Aussage ist geschickt vor das eigentliche Interview gesetzt in dem derselbe Sprecher anmerkt, dass die AfD gerade dabei sei völkischen Rassismus und Antisemitismus wieder salonfähig zu machen. Schnitt, neue Perspektive: Polizei marschiert auf, dazu erschallt die Stimme aus dem Off: „Das Ergebnis linker Gewalt beim Anti-AfD-Protest: zwei verletzte Polizeibeamte eine Festnahme“.

Ein solcher Ausgang reicht allerdings nicht aus, um das Bild von blutrünstigen Linksradikalen drastisch genug zeigen zu können. Nun folgen ein paar Filmschnipsel vom Remmidemmi bei der Einweihung der EZB im Juni 2015 in Frankfurt. Derart eingestimmt, holt der Kommentator aus: „Anders als bei Neonazis wird die Entwicklung des politischen Linksaußen wissenschaftlich kaum aufgearbeitet. Zum Schwerpunkt Linksextremismus hat Karsten Dustin Hoffmann promoviert. Er war Mitglied eines Forscherteams, dass die Wahrnehmung des politischen Extremismus in der Publizistik analysierte.“

Dieser wissenschaftliche Experte, der gleich zweimal im Film vorkommt, polemisiert dann vor allem gegen die Rote Flora in Hamburg. Dass Hoffmann Mitglied der Kreistagsfraktion der AfD in Rotenburg (Wümme) ist, bleibt dabei unerwähnt.

Dass aber die Linksradikalen überall mitmischen und Proteste für ihre Zwecke missbrauchen, gilt uneingeschränkt, auch ohne Belege, z.B. im Kampf gegen die Atomkraft, gegen die Startbahn-West und in Bezug aufs Wettrüsten – Kämpfe, die längst vorbei sind und heute keine Rolle mehr spielen. Verwunderlich ist es dann auch nicht mehr, dass Joschka Fischer eingeblendet wird. Ein ehemaliger Straßenkämpfer, der Außenminister wurde. Trotzdem waren die radikalen Linken mit einer rot-grünen Regierung unzufrieden. Um das zu erklären, kommt kein geringerer als der Extremismusforscher Udo Backes zu Wort – auch so ein ›neutraler‹ Experte vom rechten Rand.

Aber wo sind die militanten Linken heute zu finden? Erste Adresse ist Kiel, der Sitz von ›Fire and Flames‹. Zwei eingeblendete Aktivisten treten für eine andere, bessere Gesellschaft ein. Die Stimme aus dem Off erkennt jedoch: „Das Bessere – für sie – die Revolution gegen den Staat, in dem sie leben!“ Eine zutreffende Konkretisierung, nur wird die Revolution im Film durchweg als sinnlose Gewalt dargestellt und nicht als Motor der Geschichte.

Zum Glück hat der Verfassungsschutz die ständig steigenden Zahlen der Autonomen (und der noch gefährlicheren Postautonomen) im Blick. Besonders bedrohlich scheint die Interventionistische Linke zu sein, die sich, laut Kommentator, als Avantgarde versteht. Ihr wird von einem ›VS-Experten‹ attestiert, dass sie durch das Einüben von Sitzblockaden eine höhere Gewaltbereitschaft erreicht hätte.

Wieder schwenkt die Kamera zu eindeutigen Bilder der Gewalt. Jetzt steht Leipzig-Connewitz im Blickpunkt. Erneut das inzwischen bekannte Muster, die Linken-Landtagsabgeordnete Jule Nagel sagt keine falschen Sachen, jedoch gehen ihre Aussagen in einem Gerangel zwischen Antifas und Polizei unter. Dazu die Stimme aus dem Off: „Die Abgeordnete Nagel sieht die Gewalt bei den Polizisten. Die Polizei als Buhmann, eine verbreitete Weltsicht.“

Nun mutiert der Dokumentarfilm endgültig zu einem Propagandastreifen. Im Schweinsgalopp geht es durch die Geschichte; von der Französischen Revolution über die Russische zur Kulturrevolution Mao-Tse-Tungs. Wir werden belehrt: Die Linken, besonders die radikalen Linken haben der Welt nur millionenfachen Tod und Verderben gebracht. Dass Autonome in Abgrenzung zu autoritär-kommunistischen Strömungen/Regimen bzw. den K-Gruppen überhaupt erst in den Siebziger Jahren entstanden sind, spielt für die Experten in dieser Dokumentation keine Rolle. Die heutige Antifa ist einfach in der historischen Abfolge von Stalin, Mao und Pol Pot, zu sehen. So ist es denn auch nicht mehr weit zu „Konzepten des Guerilla-Kampfes“, die angeblich bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg zum Tragen gekommen sind.

Das Geld für eine faktisch nicht existente Guerilla, die hier am Werk war, wird in linken Zentren, den „bundesweiten Sammelfeldern für Radikale“ beschafft. Auf einer Landkarte der BRD werden die linken Szene-Treffs öffentlich an den Pranger gestellt: Die Rote Flora in Hamburg, die Rigaer Straße 94 in Berlin, das JuzI in Göttingen, Conne Island in Leipzig, Autonomes Zentrum KTS in Freiburg, das Kafe Marat in München.

Schließlich führt die Dokumentation nach Berlin, wo sich das größte Zentrum der linken Szene befinden soll. Einige Aufnahmen vom 1. Mai 2017 werden gezeigt und die Deeskalationspolitik kritisiert. „Jahr für Jahr Randale. Und Jahr für Jahr zu wenig Aufmerksamkeit für linke Gewalt durch die Politik, klagt die Polizei vor Ort.“ Ein GdP-Sprecher erzählt, „dass wir verschiedene Straßen in der Stadt haben, wo Funkwagenbesatzungen, wo auch unsere Einsatzhundertschaften nicht mehr aussteigen.“ Diese Realitätsverzerrung impliziert den Ruf nach mehr Polizei und härterem Durchgreifen, weshalb nun auch noch der Koalitionsvertrag von rot/rot/grün in den Propagandabrei eingerührt wird. Der Vertrag geht auf zwei Seiten auf den Rechtsextremismus und den islamistischen Terror ein, aber kein Wort über ist über den bösen und gefährlichen Linksextremismus darin zu finden sind. Das ist beklagenswert für NPD, AfD und die rechten Vertreter anderer Parteien, die dann reichlich zu Wort kommen.

Gewissermaßen als Höhepunkt werden als Kronzeugen gegen linksradikale, autonome Gewalt Dieter Dehm und Sarah Wagenknecht ins Feld geführt, die offensichtlich zu allem etwas zu sagen haben. Obendrein präsentiert uns die Doku ein Modelabel, das Baby-Strampler mit RAF-Logo feilbietet. Spätestens hier müsste klar sein, dass dieses Emblem zur Pop-Ikone geworden ist und nur noch als Marketing-Gag funktioniert. Aber nein, selbst aus Modeschnickschnack wird versucht, eine Bedrohung zu konstruieren.

Als Satiresendung könnte die Doku sicher Preise abräumen, aber es handelt sich leider um einen rechtslastigen Staatsschutzstreifen – ZDF-Feindpropaganda.

Der Text erschien in gekürzter Fassung mit der Überschrift „Polizei marschiert auf – Alle Gewalt geht vom Fernsehen aus: Wie das ZDF linken Protest bekämpft .“ in der Wochenendausgabe, 16./17. September 2017, in der Jungen Welt.

Des Geyers Schwarzer Haufen

Bauernkrieg in Franken

„ … Wir hoffen fest auf die Gnade Gottes, und so haben wir das Kloster Bildhausen eingenommen und unser Lager hier aufgeschlagen. … Wir wollen ungerechte und ungebührliche Beschwernisse abschaffen. … Wir wollen, dass die Obrigkeit und die Herrschaften mit uns gebührlich und gemäß der evangelischen Lehre handeln. …“

Sätze aus einem Flugblatt im April 1525, als der Aufstand das Land ergriff.

Die Kunde zog immer mehr Unzufriedene an, bald war ihre Zahl auf einige Tausend angewachsen. Sie wussten, dass ihre politische Wirksamkeit von ihrer militärischen Stärke abhing. Proviant, Zelte und Waffen wurden herbeigeschafft, Leutnante, Feldwebel usw. ernannt. Zu ihren Hauptleuten wählten sie den Schreiner Hans Schnabel und den Bauern Hans Schaar.

Doch wichtige Fragen entschieden sie weiterhin gemeinsam im Ring, in dem die „Gemeine Versammlung zu Bildhausen“ am den 6. Mai 1525 ihr Programm beschloss. Da heißt es u.a.: Wenn Juden in die Versammlung des Haufens begehren, so ist es des ganzen Lagers ernste Meinung, sind diese ohne Vorbehalte und aus freien Stücken aufzunehmen.“

Der Bildhäuser Haufen war eine Macht in Mittel- und Unterfranken bis nach Meinigen. Die Stadt stand im Bündnis mit den Aufständischen. Bauernheere hatten sich aber allerorts gebildet. Eine große Rolle spielte der aus 12.000 Mann bestehende Helle Lichte Haufen, dessen Führung am 27. April der zwielichtige Götz von Berlichingen übernommen hatte. Innerlich verband diesen Raubritter und Söldner nichts mit dem Aufstand, er hatte sich einfach gegen Bezahlung zur Verfügung gestellt. Aus ganz anderem Holz war der fränkische Adlige Florian Geyer geschnitzt. Ein Idealist, der aus freien Stücken den Schwarzen Haufen aufstellte. Rund 800 Kämpfer in schwarzer Kleidung, eine art Elitetruppe des Aufstandes. Mit ihnen war Geyer zunächst dem Hellen Lichten Haufen beigetreten. Wenig später wechselte der Schwarze Haufen zum Fränkischen Heer, einer anderen Koalition der Rebellion.

Der Sieg in Franken war nahe! Vertreter von Klerus und hochrangigem Adel hatten sich auf die Festung Marienberg bei Würzburg geflüchtet, während die Stadt auf die Seite des Aufstands getreten war.

Eine aus den fränkischen Bauernhaufen bunt zusammengewürfelte Streitmacht begann am 14. Mai 1525 eine erfolglose Beschießung der Festung. Ungeachtet dessen erfolgte am folgenden Tag ein Sturmangriff, der unter hohen Verlusten scheiterte.

In diesen Tagen ging die Kunde von der Vernichtung großer Bauernheere im württembergischen Böblingen (12. Mai), im thüringischen Frankenhausen (15. Mai) und im elsässischen Zabern (17. Mai) durchs Land.

Waren die Bauernheere zunächst auf überraschte und lediglich regional orientierte Fürsten getroffen, änderte sich nun die Situation. Starke fürstliche Armeen erschienen auf den Kriegsschauplätzen und errangen einen Sieg nach dem anderen. Auch hatte sich Luther in seiner Schrift Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren gegen den Aufstand gestellt. Daraufhin begannen sich Bauern Haufen aufzulösen. Zu denen, die beieinander blieben und sich im Gegenteil noch radikalisierten, zählte der Bildhäuser Haufen. Erbittert über die Nachrichten von den Massakern fürstlicher Truppen und die Hinrichtung des revolutionären Predigers Thomas Müntzer, blieben sie unter Waffen.

Da erreichte den Haufen am 2. Juni 1525 ein Hilferuf aus Meiningen. Fürstliche Truppen näherten sich der Stadt. Mit 7.000 Kämpfern machte sich das Bauernheer auf. Bereits am nächsten Tag wurde eine Vorhut bei Dreißigacker, westlich der Stadt, von Einheiten des Grafen von Henneberg angegriffen. 40 Aufständische wurden getötet, und die Söldner erbeuteten etliche Transport- und Weinwagen. Berauscht vom erbeuteten Wein, glaubten die fürstlichen Schergen an einen leichten Sieg.

Als anderen Tags die Hauptmacht des Bildhäuser Haufens eintraf und auf einer Berghöhe bei Meiningen begann, eine Wagenburg zu formieren, wollten sich die fürstlichen Heerführer die Gunst des Augenblicks nicht entgehen lassen.

Schweren Geschütze eröffneten das Feuer. Krachend zerbarsten Wagen. Dreck, Holzsplitter und zerfetzte Leiber wirbelten durch die Luft. Die Schreie Verwundeter, das Wimmern von Sterbenden – aber auch Kommandorufe, es entstand keine Panik, die Aufständischen suchten Deckung und erwarteten den Angriff.

Bislang hatten meist Geschütze gereicht, um die Bauernhaufen in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber das würde nun die Angriffswelle erledigen. Die Hauptleute gaben mit der erhobenen Rechten das Angriffszeichen. Wiehernd trabten die Streitrösser an, ihre Reiter fühlten sich überlegen und gaben ihren Tieren die Sporen. Donnernde Hufe, im Sonnenlicht blinkende Rüstungen, gefällte Lanzen. Im vollen Galopp, mit wildem Kriegsgeschrei tobte das Reitergeschwader heran. Gnade kannten sie keine, niemand sollte ihnen entkommen.

Eine Woge aus Hass, Verachtung und Brutalität raste den Haßfurtgrund hinauf auf die Höhe zu, dort wo die Aufständischen ihre Wagenburg noch nicht im Kreis formieren konnten – aber ihre 17 leichten Geschütze standen in Position.

Im Bewusstsein ihres Sieges hielten die Reisige auf die Wagen zu. Da krachten mit einem Schlag die Geschütze des Bauernheeres und ein mächtiger Blitzschlag aus heißen, gezackten Metallstücken zerfetzte Mensch und Tier. Verletzte Pferde bäumten sich wiehernd auf oder wälzten sich am Boden neben ihren zerschlagenen Reitern. Wie mit einem mächtigen Hammerschlag war der Angriff des Reitergeschwaders zerschmettert. Im Jubel der Aufständischen wurden die Geschütze bereits wieder geladen, während die schweren fürstlichen Kanonen ihre Gegner unter Feuer nahmen. Ein neuer Reiterangriff brandete an. Es begann ein blutiges Gemetzel mit Spießen, Schwertern, Streitäxten und –hämmern. Doch immer wieder konnten sich die Aufständischen mit ihrer Geschlossenheit und ihren Geschützen Luft verschaffen – und sogar den obersten Büchsenmeister der fürstlichen Armee töten. Es gelang den Reisigen nicht, die Wagenburg zu überrennen, stattdessen hatten sie hohe Verluste. Aber auch 200 Bauern waren gefallen, mehr als dreimal so viele verwundet. Am Abend zogen sie sich in die Stadt Meinigen zurück. Hans Schnabel wollte in der nächsten Nacht versuchen, mit seinen Kämpfern die Stadt zu verlassen. Im Ring aber entschied man anders. Eine ausweglose Situation. Von einer großen Übermacht umzingelt, kapitulierte Meinigen zwei Tage später. Es folgte das Blutgericht der Fürsten. Zu den vielen, die hingerichtet wurden, zählten auch die Bauernführer Hans Schnabel und Hans Schar. Sie wurden geköpft und ihre Schädel auf Spieße gesteckt.

Um den Aufstand niederzuschlagen, konzentrierten die Fürsten ihre Kräfte auf Franken. Deshalb mussten die Bauern Einheiten von der Belagerung Würzburgs abziehen. Götz von Berlichingen machte sich bei dieser Gelegenheit aus dem Staube.

Auf dem Turmberg bei Königshofen kam es am 2. Juni zur Schlacht. Die Bauern waren in jeder Hinsicht unterlegen, der Kampf endete in einem Massaker, 7.000 Erschlagene bedeckten die Felder. Nun marschierte das Fürstenheer auf Würzburg und die Aufständischen waren Gezwungen die Belagerung aufzugeben um sich gegen die heranrückenden Truppen zu wenden. Doch Unsicherheit griff um sich, viele warfen ihre Waffen weg und verschwanden. Knapp 4.000 Entschlossene blieben übrig und stellten sich am 4. Juni auf den kahlen Feldern bei den Dörfern Giebelstadt und Ingolstadt dem Heer der Fürsten. Das begab sich zwischen den Schlössern von Florian Geyer, der wegen Verhandlungen in Rothenburg weilte und nicht miterlebte, wie der letzte fränkische Bauernhaufen bis auf den letzten Mann aufgerieben wurde. Seine beiden Schlösser wurden dabei in Trümmer geschossen. Aber selbst in den brennenden Ruinen setzten sich die Aufständischen noch zur Wehr und warfen Mauerreste auf die Angreifer. Von den 600 des Schwarzen Haufens überlebten nur 200 Verwundete. Florian Geyer selbst wurde am 10. Juni im Gramschatzer Wald bei Würzburg in einem Hinterhalt ermordet.

„Dran, dran, solange ihr Tag habt!“ Thomas Müntzer, ein Knecht Gottes

Gebannt, ihre Waffen umklammernd, blickten sie gen Himmel, eine kreisrunde Lichterscheinung umstrahlte in den Farben des Regenbogens die Sonne! Diese mystische Offenbarung konnte nur ein Zeichen Gottes sein, der ihnen den Sieg verhieß. Sie würden siegen obwohl ihre Wagenburg mitsamt der Stadt Frankenhausen seit dem Vormittag des 15. Mai 1525 von einer großen, übermächtigen Streitmacht eingeschlossen war. Eine Allianz aus sieben Fürsten hielt mit mehreren tausend kriegserprobten Landknechten und Berittenen sowie einer großen Anzahl von Geschützen die Höhen ringsum besetzt. Weiterlesen

Die Nazis und der 1. Mai

Junge Welt, Thema, Seiten 12 und 13, Freitag, 28. April 2017

1. Mai von rechts

Die Besetzung des internationalen Kampftages der Arbeiterklasse durch die Faschisten und andere Rechte hat eine lange Tradition – ein Überblick

Bernd Langer

»Arbeiterkampftag«, »Kapitalismus zerschlagen« ist auf Transparenten zu lesen und dröhnt es aus den Lautsprechern. Hochgezogene Transparente, Vermummte dahinter schwenken Pyros, die Polizei ist dicht am schwarzen Block. Rangeleien, die Staatsmacht schlägt zu, erste Verhaftungen. Eine Situation, wie sie bei 1.-Mai-Demos nicht selten zu finden ist. Der erste Blick kann jedoch trügen.
Vom äußeren Erscheinungsbild sind die Demonstrationen der Neonazis kaum noch von »revolutionären« linken Manifestationen zu unterscheiden. Die Rechten würden einfach alles von den Linken klauen, meinen letztere. Als historisches Beispiel gilt die rote Fahne, die Adolf Hitler ganz bewusst übernahm, um sein Hakenkreuz darauf zu plazieren. Ähnlich war es mit dem Parteinamen. Die SDAP, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, war die erste linke, marxistische Partei in Deutschland, gegründet von Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Hitler setzte einfach ein »N« davor, mit der Absicht, den Namen und Teile der Tradition zu kassieren. Denn Form und Inhalt können nur bedingt voneinander getrennt werden. Das Thema ist komplexer. Symboliken setzen Bezüge.
Bereits zu Zeiten der aufkommenden Arbeiterbewegung musste man genau hinschauen. Klasse an sich ist eben nicht Klasse für sich und nicht jeder Arbeiter automatisch ein Revolutionär. Immer schon standen diverse politische Strategien in Konkurrenz zueinander. Doch gab die Orientierung am Klassenkampf eine Richtung und einigende Symbole und Traditionen – vor allem den 1. Mai als internationaler Kampftag der Arbeiterinnen und Arbeiter. Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg. Spätestens seit 1918 waren SPD und Linksradikale zwei deutlich getrennte Lager. Hier liegt einer der Gründe dafür, dass es die in den Anfangszeiten der Weimarer Republik starke linke Bewegung nicht schaffte, den 1. Mai als Feiertag durchzusetzen.
Unterlassung mit Folgen
Auch später, als die Sozialdemokraten Regierungsverantwortung trugen und zudem in ihrem Rücken den mächtigen Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) hatten, wurde der Maifeiertag nicht eingeführt. Eine Unterlassung, deren Folgen freilich nicht abzusehen waren – genauso wie man das, was der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler folgen sollte, unterschätzte. Ein gemeinsamer antifaschistischer Kampf der linken und demokratischen Kräfte kam jedenfalls nicht zustande.
Lieber bekämpfte man sich weiter gegenseitig oder versuchte gar, sich den Gegebenheiten anzupassen. So erklärte der Gewerkschaftsbund im Februar 1933 seine Neutralität gegenüber den neuen faschistischen Machthabern. Besonders drastisch zeigte sich der gewerkschaftliche Unterwerfungskurs dann am 1. Mai 1933. Hitler deklarierte den symbolträchtigen Kampftag zum »Tag der nationalen Arbeit« um und machte ihn zum Feiertag. Eine alte Forderung der Arbeiterbewegung wurde ausgerechnet von den Nazis umgesetzt, und Hitler konnte sein Image als »nationaler Sozialist« aufpolieren. Statt Klassenkampf sollte nun die sogenannte Volksgemeinschaft gefeiert werden und »deutsch« an erster Stelle stehen. Das widersprach zwar komplett dem ursprünglichen Sinn dieses Tages, begründete aber die faschistische Tradition, mit der der 1. Mai seit dieser Zeit belastet ist.
Zu diesem Anlass gab es Kundgebungen und eine zentrale Massenveranstaltung auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. In der Reichshauptstadt strömten bis zu 1,5 Millionen Menschen zur Maifeier, deren Höhepunkt eine Rede Hitlers war. Ihren Legalitätskurs befolgend, riefen auch Gewerkschafter zu den Nazi-Maiveranstaltungen auf und marschierten hinter Hakenkreuzfahnen.
Doch alle Anbiederungsversuche nutzten nichts, am 2. Mai 1933 besetzten SA-Trupps die Gewerkschaftshäuser, -banken usw. Das Gewerkschaftsvermögen wurde beschlagnahmt, einige missliebige Funktionäre verhaftet. An die übrigen Angestellten erging die Aufforderung, unter den Kommissaren der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) loyal weiterzuarbeiten. Wer dies tat, und das waren die weitaus meisten, behielt Posten und Auskommen.
In dieser Zeit gab es noch relevante sogenannte nationalrevolutionäre Strömungen in der NS-Bewegung. Vor allem in proletarischen Teilen der SA fanden Parolen, die sich gegen »die Bonzen« richteten, Anhänger. Als nationalrevolutionäre Symbolfigur galten die beiden Brüder Gregor und Otto Strasser. Gregor Strasser war bis 1932 ein Konkurrent Hitlers innerhalb der NSDAP gewesen. Hinter dem Streit zwischen Hitler und Strasser, was unter Nationalsozialismus zu verstehen sei, standen auch persönliche Rivalitäten.
Ohne Zweifel hatte der nationalrevolutionäre Flügel in der NSDAP klare Bezüge zur Arbeiterklasse. Dies erklärt die Ähnlichkeit bzw. Übernahme von Parolen, Emblemen und Rhetorik. Zum 1. Mai 1934 gaben die Nazis sogar eine Mai-Plakette mit Hakenkreuzadler, Hammer und Sichel heraus.
Aber mit solcher Art von Symbolik und Fraktionen wie dem sogenannten Strasser-Flügel in den eigenen Reihen sollte es ein schnelles Ende haben. Hitler ließ die gesamte SA-Führung und andere Parteirenegaten Ende Juli 1934 verhaften und von der SS massakrieren. Insgesamt kostete der sogenannte Röhm-Putsch 83 Personen das Leben. Unter ihnen auch Gregor Strasser und der SA-Chef Ernst Röhm.
Aus diesen Morden resultierte der Mythos, dass die Träger des echten, wahren Nationalsozialismus vom Hitlerismus vernichtet worden wären. Das ist offensichtlich unzutreffend. Es gibt keinen guten oder schlechten Nationalsozialismus. Einzelne Strömungen erklären sich aus taktischen Nuancen oder gehen auf bestimmte Führungspersönlichkeiten zurück. Rechtsradikalismus basiert immer auf völkischer Ideologie und verfolgt die Idee der Volksgemeinschaft. Der Kern ist Rassismus. Dies zeigt sich vor allem, wenn man sich ansieht, welche Rolle die historischen Geschehnisse für das Hier und Heute haben.

Die Neonazis

In 1970er Jahren trat eine neue Generation von Neonazis auf die politische Bühne. Sie versuchten, die NPD rechts zu überholen und die NSDAP wiedererstehen zu lassen. Wesentliche Impulse dazu kamen aus Hamburg, von einer Gruppe um Michael Kühnen. Ziel war es, eine bundesweite, »nationalsozialistische« Partei zu gründen. Kühnen beschwor den »revolutionären Geist der SA unter Ernst Röhm«, marschierte in SA-ähnlichen Uniformen auf und verwendete Embleme nach historischem Vorbild. 1983 gelang es, verschiedene Gruppen zur Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten (ANS/NA) zu vereinen, die noch im selben Jahr verboten wurde. Daraufhin unterwanderten die ANS/NA-Mitglieder die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und machten sie zur führenden Neonazipartei in der Bundesrepublik. Ihr Verbot erfolgte 1995.
Als Reaktion entstanden die Kameradschaften bzw. die sogenannten Freien Kräfte, die sich lediglich regional vernetzen. Durch weitere Verbote von lokalen Gruppen ständig geschwächt, konnten die Neonazis keinen bundesweiten Zusammenschluss mehr erreichen. Ihr politischer Ort wurde die rechtsradikale Subkultur. Man definiert sich heute als Bewegung. Dennoch bleibt der Traum von der »nationalsozialistischen« Partei bestehen.
Eine Zeitlang wurde die NPD ein Orientierungspunkt in dieser Hinsicht. Interne Machtkämpfe und der Legalitätskurs der vom Verbot bedrohten Partei führten jedoch dazu, dass die Kameradschaftsszene ihr wieder den Rücken kehrte. Heute, wo der rechtskonservative Rand der Bevölkerung eher die »Alternative für Deutschland« wählt, ringt die Partei um ihre Bedeutung. In Mecklenburg-Vorpommern verlor sie 2017 ihre letzten Landtagssitze und rechnet für ihre 1.-Mai-Demo dieses Jahr in Stralsund mit lediglich 250 Teilnehmern. Die »Freien Kräfte« aus Mecklenburg-Vorpommern mobilisieren jedenfalls zur 1. Mai-Demo von »Die Rechte« nach Halle/Saale.
Die 2012 gegründete Partei »Die Rechte«, spielt mit ihrem Namen auf Die Linke an und schreibt sich wie diese offiziell in Großbuchstaben. Außerdem hat sie demonstrativ das rote Wimpeldreieck über dem »I« übernommen. Es weist bei »Die Rechte« natürlich nach rechts. Vorsitzender ist Christian Worch, ein ehemaliger Gefolgsmann von Michael Kühnen und seit langem aktiver Neonazi. »Die Rechte« bemühte sich, als Reinkarnation der 2011 in der NPD aufgegangenen Deutschen Volksunion (DVU) aufzutreten, inhaltlich also zwischen NPD und AfD zu rangieren. Dem Führungsmann Worch und anderen Parteimitgliedern aus der sogenannten Borussenfront in Dortmund nahm das aber niemand so richtig ab. Zumindest verprellte die »Die Rechte« mit ihrem legalen Kurs Gruppen aus der Kameradschaftsszene, namentlich das »Antikapitalistische Kollektiv« (AKK). Während des letzten Jahres näherte man sich jedoch wieder an. Ein Grund dürfte darin liegen, dass »Die Rechte« allein nur ein geringes Mobilisierungspotential hat. Sie bringt maximal 150 Leute auf die Straße. Zuletzt im März 2017 in Leipzig. Zum 1. Mai in Halle/Saale soll das anders werden.
Zu der geplanten Demonstration ruft nämlich nicht nur die örtliche Kameradschaftsszene in Form der »Brigade Halle« auf, sondern auch das AKK. Es versteht sich als Vernetzung verschiedener rechtsradikaler Gruppen und trat erstmals mit Agitationen gegen die Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt a. M. im Frühjahr 2015 in Erscheinung. Es ist quasi die rechtsradikale Interpretation des schwarzen Blocks – und ist den Autonomen nicht nur äußerlich, sondern auch inhaltlich in einigen Forderungen ähnlich. Das AKK ist beispielsweise gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP oder fordert Freiheit für alle Tierrechtsaktivisten.

Hammer und Schwert

Als Symbol verwendet das AKK einen roten Hammer gekreuzt mit einem roten Schwert vor einem auf der Spitze stehenden Quadrat. Es handelt sich um das Emblem des 1927 von den Strasser-Brüdern gegründeten Kampfverlags. Im Original sind die beiden Werkzeuge auf einem Zahnrad drapiert mit der Aufschrift »Volksherrschaft statt Diktatur des Kapitals – Widerstand jetzt!«. Hammer und Schwert sollen das Bündnis von Arbeitern und Soldaten darstellen und wurden zu Insignien des nationalrevolutionären Flügels innerhalb der NSDAP. Wiederbelebt wurde das Emblem in den 1990er Jahren als »Symbol der nationalen Revolution«. Leicht variiert gehört es momentan zu einem der am meisten verwendeten Zeichen des neonazistischen Spektrums.
Das AKK zeigt sich in seiner Agitation ästhetisch auf der Höhe der Zeit. Das Mobilisierungsvideo für Halle zeigt beispielsweise Anleihen bei Streetart-Elementen. Im Gegensatz dazu greift die Formsprache von »Die Rechte« auf nostalgisch-nationalsozialistische Elemente zurück. In der Propaganda zum »Tag der deutschen Arbeit« in Halle/Saale blicken zwei Männer unerbittlich den Betrachtenden an. Der vordere trägt eine »Thälmann-Mütze« auf dem Kopf und einen Vorschlaghammer auf der Schulter. Der hintere ist mit einem Schmiss auf der Wange als burschenschaftlicher Akademiker markiert. Dasselbe Motiv, manchmal auch nur mit dem Hammerträger, fand sich auch schon bei der NPD.
Es handelt es sich um eine Eins-zu-eins-Übernahme des Plakates »Arbeiter der Stirn (und) der Faust – Wählt den Frontsoldaten Hitler!« von 1932 und stammt von dem NSDAP-Plakatgestalter Felix Albrecht, seit 1927 Parteimitglied, ab 1930 in der SS und ausstaffiert mit dem »Goldenen Parteiabzeichen«. Nicht ohne Grund steht auf dem Plakat von 2017 »Tradition verpflichtet!«.

»Der III. Weg«

Bei weitem nicht alle Neonazis werden am 1. Mai in Halle sein, denn im rund 100 Kilometer entfernten Gera will gleichzeitig »Der III. Weg« aufmarschieren. Die Gruppe wurde im September 2013 von einigen ehemaligen NDP-Funktionären und Mitgliedern des in Bayern 2014 verbotenen »Freien Netzes Süd« gegründet. Nachdem mehrere Parteimitglieder samt Familien nach Plauen gezogen waren, hat die Partei dorthin ihren Schwerpunkt verlegt. Gute Kontakte ins Vogtland bestanden seit längerem. Weshalb auch viele ehemalige Angehörige der 2012 aufgelösten »Revolutionäre Nationale Jugend«, einer regionalen Neonazigruppe, heute dem »III. Weg« angehören.
»Der III. Weg« will keine Massenorganisation sein, sondern versteht sich als elitäre Kaderschmiede. Inhaltlich wird ein nationalrevolutionärer dritter Weg abseits von Kapitalismus und Kommunismus gefordert. Ein »deutscher Sozialismus« soll entstehen. Im wesentlichen knüpfen diese Aussagen an die Programmatik des Strasser-Flügels in der NSDAP an. Als Emblem verwendet »Der III. Weg« denn auch oft Hammer und Schwert in einem Zahnradkranz.
In den letzten Jahren war zu verfolgen, dass »Der III. Weg« nach Demonstrationen in den betreffenden Kommunen sogenannte Stützpunkte, also Ortsgruppen, etablierte. So war das nach der 1.-Mai-Demo 2014 in Plauen bzw. 2015 in Saalfeld. Bei seinem öffentlichen Auftreten achtet »Der III. Weg« auf eine propagandistische Choreographie. Oft gehen in der ersten Reihe Trommler, dann kommt das Frontransparent, dahinter Parteifahnen, dann der Rest der Demo in Reih und Glied, zum 1. Mai in einheitlichen roten T-Shirts, zu anderen Anlässen im dunkelgrünen Parteilook. Auch bei Redebeiträgen legt man Wert darauf, sich mit möglichst einheitlicher Kleidung, Parteifahnen und Symbolen als radikale Kaderpartei darzustellen. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit sich dieses Konzept durchsetzt oder ob »Der III. Weg« am Ende ein Fall für den Sektenbeauftragten wird.
Besonders groß sollte die 1.-Mai-Demonstration des »III. Wegs« 2016 in Plauen ausfallen. Es gab eine gute Voraussetzung dafür: Das AKK lag mit »Die Rechte« im Clinch, mobilisierte also nicht wie »Die Rechte« nach Erfurt, sondern nach Plauen. Tatsächlich kamen dann 800 Neonazis zusammen. Es gab Konfrontationen mit Antifas und der Polizei, die bundesweit in den Medien waren. Das wiederum passte dem »III. Weg« nicht, dem sehr an seinem legalen Status gelegen ist. Seitdem haben »III. Weg« und das AKK nichts mehr miteinander zu tun.
Auf keinen Fall will »Der III. Weg« in den Medien als Krawalltruppe dastehen. Seine Politik ist zwar elitär, zielt aber dennoch auf Breitenwirkung ab. Im Januar 2017 eröffnete die Organisation ihr bundesweit erstes Parteibüro im Plauener Stadtteil Haselbrunn. Vermietet wird das Gebäude von einem Schweizer Immobilienfonds. Das »Bürgerbüro« soll als Informationszentrum dienen. Auf den Schaufensterscheiben ist groß zu lesen »National, sozialistisch, revolutionär«. Hier will »Der III. Weg«« um Akzeptanz in der Bevölkerung werben. So sollen mittels einer wöchentlich stattfindenden Volksküche bedürftige Deutsche mit einem kostenlosen Essen geködert werden. Ebenso werden unter der Überschrift »Deutsche Winterhilfe« Altkleider verteilt.
Dabei lassen es die Rechtsradikalen aber nicht bewenden. Sie organisieren sogenannte »Nationale Streifen«: Vier bis fünf Parteimitglieder schleichen im T-Shirt oder Hemd mit Parteiaufdruck durch die Stadt, um sich dabei von hinten fotografieren zu lassen. Diese Fotos veröffentlichen sie dann in ihren eigenen Postillen, um sich als Hüter von »Recht und Ordnung« aufzuspielen. Solche Provokationen wurden auch schon gekontert. Im Februar 2017 traf es das Auto von Tony Gentsch, einem einschlägig vorbestraften Rechtsradikalen, der bis 2013 eine 26monatige Haftstrafe wegen Körperverletzung und Beleidigung verbüßte. Der aus Bayern stammende Gentsch ist einer der führenden Kader des »III. Wegs« in Plauen. Sein Fahrzeug wurde mittels Buttersäure nicht unerheblich lädiert, ebenso erwischte es Auto und Wohnung seines Parteifreundes Thomas Heyer. In der darauf folgenden Nacht zersplitterte die Terrassentür der Wohnung des »III. Weg«-Aktivisten Manuel Maier in Göppingen. Auch hier kam Buttersäure zum Einsatz.
Die Strategie des »III. Wegs« ist auf kontinuierliche Arbeit vor Ort angelegt. Dabei agieren die Rechtsradikalen politisch durchaus nicht ungeschickt. Sie werden wohl für den Stadtrat kandidieren und beabsichtigen, sich langsam auszubreiten. Zu dieser Strategie gehören auch ihre 1.-Mai-Demonstrationen, die auf die Herausbildung neuer »Stützpunkte« zielen. Auf Dauer könnte daraus ein Problem erwachsen.

Subkulturelle Berührungspunkte

Der braune Schatten, der dem 1. Mai anhaftet, spielt in der allgemeinen Wahrnehmung keine große Rolle. Aus dieser Perspektive ist der 1. Mai der »Tag der Arbeit« und somit ein Gewerkschaftsfest. Die »revolutionäre« Mai-Randale von Linksradikalen erscheint in diesem Zusammenhang ebenso unerwünscht wie rechtsradikale Aufzüge, von denen man sich ebenfalls abgrenzt. Beides wird als unliebsame Subkultur behandelt. Damit wären wir bei einem unpräzisen Sammelbegriff, der an die eingangs erwähnte Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung erinnert. Denn es existieren verschiedene Phänomene, die als Subkultur bezeichnet werden. Was die Subkulturen in der Bundesrepublik verbindet, ist, dass sie unter vergleichbaren Bedingungen existieren, mit denselben Gesetzen und derselben Gesellschaft konfrontiert sind und ihre Protagonisten im wesentlichen auch derselben Generation angehören. Von daher ergeben sich Berührungspunkte und Übergänge, ähnliche äußere Formen und bisweilen auch Parolen.
Zuweilen kommt es zur Vermischung oder Übernahme von Symbolen, Liedern, Aktionsformen usw. Dies ging in der Zeit vor 1933 viel weiter als heute, was aber weitgehend unbekannt ist. Nehmen wir noch einmal den 1. Mai. Die Nazis sahen sich als »sozialistische Arbeiterpartei«, konträr zum Marxismus. Sie interpretierten den 1. Mai für sich und besetzen ihn. Vom Anspruch her wird damit allerdings alles auf den Kopf gestellt. Denn für die Nazis gilt die »Betriebsgemeinschaft«, als Volksgemeinschaft im kleinen, als Ausgangspunkt. NS-Ideologen gehen von einen »Volkskörper« aus in dem jede und jeder seine bzw. ihre Aufgabe zu erfüllen hat. So werden mit biologischen und rassistischen Ansichten gesellschaftliche Machtverhältnisse erklärt und ein System definiert, in dem die Menschen nicht um ihre Rechte kämpfen und sich emanzipieren können, sondern sich dem Gegebenen unterordnen müssen. Das ist mit »deutscher Sozialismus« gemeint.
Darauf berufen sich die Neonazis. Daran wollen sie mit ihren 1.-Mai-Demonstrationen anknüpfen. Letztlich schwebt ihnen als Fernziel immer noch das »Vierte Reich« vor. Das einigende ideologische Element der Rechten bleibt das Völkische. Was sonst treibt Pegida an, steckt hinter den »Identitären« und verbindet die AfD mit diesem Spektrum?
Deshalb sind die Neonazi-Aufmärsche am 1. Mai nicht einfach nur Zusammenrottungen von nostalgischen Spinnern, sondern müssen ernst genommen werden. In ihren subkulturellen Codes sind die Rechtsradikalen teilweise sogar sehr modern und verkörpern mittlerweile ein ganz eigenes Rebellentum, das auf Jugendliche anziehend wirkt. Es gilt, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen. Am 1. Mai ganz konkret – auf der Straße!

Vierzig Jahre Schlacht von Grohnde

Junge Welt, Thema, Seiten 12 und 13, Mittwoch, 15. März 2017

Sturm auf die Atomfestung

Vor 40 Jahren tobte die Schlacht um den Bauplatz des AKW Grohnde – eine der militantesten Auseinandersetzungen der Nachkriegsgeschichte

Von Bernd Langer

Samstag, der 19. März 1977: Bis zum Erbrechen ist die Luft mit Tränengasschwaden durchsetzt, es ätzt und beißt in Augen und Lunge. Kampfeslärm dringt in die Ohren. Geschrei, kleinere und größere Explosionen. Gasgranaten schlagen ein. Laut knatternd manövrieren Hubschrauber um aufgelassene Drachen aus Staniolpapier, Wasserwerfer sind im Einsatz.

In diesem Chaos stehen fünf Vermummte wenige Meter vom Bauzaun entfernt. Sie tragen Gasmasken und haben die Kapuzen ihrer grünen und orangen Öljacken über die Helme gezogen. Der NATO-Draht ist überwunden. Nun gilt es, die Stahlverbindungen zu zertrennen. Die Gruppe bereitet ihre Schweißausrüstung vor. Einer der Aktivisten hat einen gelben Mopedhelm auf und trägt statt Ölzeug eine schwarze Lederjacke, er braucht Bewegungsfreiheit. Konzentriert entzündet er den Schneidbrenner. Mit ein paar Schritten ist die Gruppe am Zaun. Drei Genossen stemmen große Blechschilde gegen den Strahl des Wasserwerfers, einer kümmert sich um die mitgebrachten Gasflaschen. Die Atemmaske macht dem Aktivisten schwer zu schaffen, zusätzlich muss er mit der linken Hand den Schweißschild hochhalten. Schwierige Sichtverhältnisse, aber es geht, sie haben das vorher ausprobiert. Er legte das Sauerstoffventil des Schneidbrenners um. Sofort geht das Fauchen des austretenden Acetylens in ein trockenes Zischen über, und in einem Funkenregen fliegt glühendes Metall Richtung Bauplatz.

Etwa 20.000 Demonstrantinnen und Demonstranten haben gegen 14 Uhr den Bauzaun des geplanten AKW Grohnde nahe der niedersächsischen Gemeinde Emmerthal erreicht, und ungezählte Kleingruppen berennen nun die mit rotbrauner Rostschutzfarbe gestrichene »Atomfestung«. Es gilt, eine Bresche in den Stahlzaun zu schlagen.

Um das Gelände hat die Kraftwerksbetreiberin, die Preußen-Elektra, für 1,8 Millionen DM ein angeblich unüberwindbares Bollwerk errichten lassen. Die Stahlkonstruktion besteht aus einem drei Meter hohen, doppelten Bauzaun, basierend auf schweren, in Betonfundamenten verankerten Doppel-T-Trägern. Hinzu kam eine Sicherung aus Weidezaun, Maschen- und reichlich NATO-Draht.

Auf dem Bauplatz befinden sich 2.000 Polizisten und Bundesgrenzschutz-Einheiten (heute Bundespolizei). 20 Wasserwerfer, die mit Tränengas angereichertes Wasser verspritzen, und mindestens vier Panzerspähwagen sowie Hubschrauber sind aufgeboten. Zusätzlich steht eine Reserve von weiteren 2.000 Polizisten mit einer Reiter- und Hundestaffel außerhalb des umzäunten Geländes bereit.

Die frühe Anti-AKW-Bewegung

Ziel der AKW-Gegnerinnen und -gegner war die Bauplatzbesetzung. Sie waren auf eine Konfrontation mit der Staatsmacht eingestellt. Außerdem hatten der maoistische KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland), der KB (Kommunistischer Bund) sowie militante, undogmatische Gruppen, auf diesen Tag hin mobilisiert. Das war eine neue Entwicklung in der noch jungen Anti-AKW-Bewegung. Denn die Proteste gegen die Atomindustrie waren Anfang der 1970er Jahre zunächst von lokalen Bürgerinitiativen (BI’s) ausgegangen. Die BI’s waren so etwas wie eine bodenständige Entsprechung zur Außerparlamentarischen Opposition und schafften es mittels juristischer Einsprüche bis hin zu zivilem Ungehorsam, den Bau einiger Atomkraftwerke zu verhindern bzw. an andere Standorte zu verdrängen.

Mit zivilem Ungehorsam hatte 1975 auch der Widerstand gegen das geplante Atomkraftwerk Wyhl in der Nähe von Freiburg begonnen. Wie andernorts stammte ein Großteil der südbadischen AKW-Aktiven aus dem konservativen Lager einschließlich der CDU. Die ortsansässige Bevölkerung beunruhigte vor allem, dass der Wasserdampf der Kühltürme negative Auswirkungen auf den Weinbau haben könnte. Ähnlich bangten etwas später, als es um den Bau des AKWs Brokdorf ging, viele norddeutsche Bauern um den Ruf ihrer landwirtschaftlichen Produkte.

Die konservative Grundstimmung der Protestbewegung machte sie auch für Rechtsradikale anschlussfähig. So mischte sich von Anfang an der „Weltbund zum Schutz des Lebens“ (WSL), eine von alten Nazis 1960 gegründete überregionale Organisation, in die Proteste ein. Der WSL basierte auf völkischer Ideologie, was aber erst allmählich verstanden und ruchbar wurde. Einflüsse gingen auch von der Kirche aus, was dazu führte, dass Pfarrer in Talaren bei den Demonstrationen auftauchten. Demgegenüber hatten Linke mit der aufkommenden Umweltbewegung ihre Probleme. Ideologisch waren sie immer noch mehr auf die Arbeiterklasse fixiert. Eine Annäherung fand durch die undogmatische Szene statt, die keine Berührungsängste mit dem neuen „Teilbereichskampf“ kannte.

Die sogenannten K-Gruppen taten sich damit schwerer. Im KB kam es zunächst zu einer Kontroverse, ob es richtig sei, sich in der Antiatomkraftbewegung zu engagieren, weil in dieser eben auch fortschrittsfeindliche Einstellungen zu Hause waren. Solch quälenden Diskussionen brauchte man sich im KBW nicht zu stellen. Die Organisation verstand ihr Engagement rein taktisch. Die Maoisten waren gegen AKWs im Kapitalismus, nicht jedoch im „Roten China“, wo sie sich in der Hand des Volkes befanden. So argumentierten auch KPD/ML und KPD/AO.

Die Vorläufer

Nach längerem juristischen Tauziehen war der Baubeginn für Wyhl auf den 17. Februar 1975 festgelegt worden. Sechs Tage später machten sich 25.000 Menschen auf, um den Bauplatz in Augenschein zu nehmen und drangen an mehreren Stellen auf das Gelände vor. Die dort befindlichen rund 1.000 Polizisten zeigten sich überfordert, bereitstehende Wasserwerfer kamen nicht zum Einsatz, schließlich rückten die Beamten ab. Im Anschluss blieb das Gelände mehrere Monate besetzt, und das AKW Wyhl wurde nicht gebaut. Ein großer Erfolg!

Ein anderes Bild zeigte sich wenig später am Baugelände des AKW Brokdorf. In der Wilstermarsch wollten die Landesregierung Schleswig-Holstein und die AKW-Betreiber Preußen-Elektra und Hamburgische Electricitäts-Werke AG auf keinen Fall ein zweites Wyhl zulassen. Der Bauplatz wurde mit einem Doppelzaun, Graben und Stacheldrahtrollen versehen. Wenige Tage nach Baubeginn kam es am 30. Oktober 1976 zur ersten Brokdorf-Demo mit mehr als 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Wie in Wyhl versuchte man, auf das Gelände zu kommen. Dem stellten sich 500 Polizisten, verstärkt durch Werkschutz, entgegen. Trotzdem gelang es den AKW-Gegnerinnen und -Gegnern, einen Teil des Platzes für einige Stunden zu besetzen. Nach der Räumung wurde die Baustelle in eine »Atomfestung« verwandelt. Diese bestand aus einem stabilen Stahlzaun von 2,50 Metern Höhe samt NATO-Drahtrollen. Zudem wurde der umliegende Graben auf mehr als zwei Meter verbreitert und geflutet.

Nach der Brokdorf-Demo entwickelte sich die Anti-AKW-Bewegung mit ungeheurer Dynamik. Binnen weniger Tage entstanden überall im norddeutschen Raum Bürgerinitiativen. Einen Schwerpunkt bildete Hamburg mit allein 30 „Bürger-Inis“. Hinzu kam, dass nun die K-Gruppen, die in Hamburg und Bremen stark vertreten waren, das Thema Antiatomkraft für sich entdeckten.

Vor diesem Hintergrund kam es am 13. November 1976 zur zweiten Brokdorf-Demo, die mit einem Feldgottesdienst begann. Nach der Abschlusskundgebung zogen rund 20.000 Menschen zur „Atomfestung“, um das Motto „Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden“ in die Tat umzusetzen. Mit Holzplanken und Knüppeln, Sand und abmontierten Leitplanken überwanden einige hundert Entschlossene den Graben und gingen mit Brechstangen, Bolzenschneidern und Rammböcken gegen die Absperrungen vor. Es folgten mehrstündige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Zwar erwies sich die „AtomfestungW als uneinnehmbar, aber Brokdorf wurde endgültig zum Medienereignis.

Im Dezember 1976 verfügte das Verwaltungsgericht Schleswig einen vorläufigen Baustopp. Als dieser auslaufen sollte, wurde für eine neue Demonstration mobilisiert. Die beteiligten Gruppen konnten sich jedoch nicht auf ein einheitliches Vorgehen einigen. Schließlich gab es zwei verschiedene Orte, an denen am 19. Februar 1977 gegen das AKW protestiert wurde: einmal in der Kreisstadt Itzehoe und direkt am Gelände, wo die Demo verboten war. Insgesamt beteiligten sich 50.000 Menschen. An diesem Tag blieb es friedlich. Zum Abschied hieß es „Auf Wiedersehen in Grohnde“.

„Schafft zwei, drei, viele Brokdorf!“

Nachdem das Gericht den Baustopp für Brokdorf im Februar 1977 verlängert hatte, lautete die Parole »Schafft zwei, drei, viele Brokdorf!«. Dieser Aufruf verband sich nun mit der geplanten Großdemonstration am Bauplatz von Grohnde, nahe der Rattenfängerstadt Hameln. Delegierte von über 50 Bürgerinitiativen hatten sich auf den 19. März als Termin geeinigt. Der Ort lag zentral und nicht allzuweit von Hannover, Göttingen und Bielefeld entfernt. Alles Städte mit großen linken Szenen. Daher wurde nicht von ungefähr als Demo-Ziel die Bauplatzbesetzung proklamierte. Das führte zu unüberbrückbaren Differenzen mit Vertretern des „Weltbundes zum Schutz des Lebens“ und den örtlichen Gruppen der BI Weserbergland. Schließlich distanzierten sich der WSL und die BI von der geplanten Demonstration und riefen zu einer Kundgebung im zwei Kilometer entfernten Dorf Kirchohsen auf.

Die Organisation der Grohnde-Demo lag damit weitgehend in den Händen von auswärtigen Gruppen, in denen radikale Linke Einfluss hatten. Untereinander waren sich die meisten linksradikalen Organisationen und Gruppen zwar spinnefeind, zum Zweck der Demo aber kooperierten sie. in Grohnde spielten vor allem undogmatische Gruppen eine Rolle, welche von KB und KBW abwertend als Spontis bezeichnet wurden. Während die K-Gruppen in den folgenden Jahren ihren Niedergang erleben sollten, fiel der Begriff Spontis bald unter den Tisch, weil eine neue politische Generation die Bezeichnung Autonome für treffender hielt. Entsprechend erklärte die Demonstrationsleitung: „Das Hauptziel der Kundgebung ist, die Forderung ›Kein AKW in Grohnde und anderswo‹ praktisch zu erfüllen. Deshalb ist die Aufgabe der Demoleitung, die Besetzung des Baugeländes in Grohnde zu koordinieren. (…) Die Demoleitung setzt ihre Beschlüsse nicht durch Ordner oder Demonstranten in ähnlicher Funktion durch. Sind die Beschlüsse den Demonstranten einsichtig, so werden die Demonstranten diese Beschlüsse zur Grundlage ihres Handelns machen – sind die Beschlüsse nicht einsichtig, so dürfen sie nicht durchgesetzt werden.“

Delegierte aus elf Städten bildeten eine rätedemokratische Leitung. Dazu gehörte auch ein Verkehrsausschuss, der die Anreise in zwei großen Konvois aus dem Norden und dem Süden koordinieren sollte. Ein „Sani-Ausschuss“ und ein Ermittlungsausschuss, der sich um die Folgen der zu erwartenden staatlichen Repression kümmern sollte, entstanden ebenfalls. Vor allem aber wurde das Gelände um den Bauzaun genau studiert und überlegt, wie dieser zu knacken wäre. Einige Aktivistinnen und Aktivisten simulierten das sogar praktisch. Bei den überregionalen Vorbereitungstreffen wurde abgesprochen, wie sich die Gruppen am Bauzaun verteilen und welche Funktionen sie übernehmen sollten. Als Sammel- und Orientierungspunkte wurden Fahnen und Schilder mit Buchstaben mitgeführt bzw. auf die Kleidung geklebt. Vom tatsächlichen Umfang dieser Vorbereitungen bekam der Polizeiapparat nichts mit oder nahm sie nicht ernst.

Chaos im Ernstfall

Vor der Zuckerfabrik an der Bundesstraße 83 in Kirchohsen beginnt der Morgen des 19. März harmlos. Einige Redner, wenige neugierige Einwohner, viele Demonstrantinnen und Demonstranten mit Blumen und Liedern finden sich ein. Alles scheint so zu verlaufen, wie von der Polizei gedacht. Die Einsatzleitung will den Südkonvoi bis Grohnde und den Nordkonvoi bis Kirchohsen fahren lassen. In den beiden Orten, die keine vier Kilometer auseinanderliegen, sollen sich die beiden Demozüge formieren können. An den Ortsausgängen in Richtung AKW-Baustelle hat die Polizei jedoch Sperren errichtet. Erst nach vorheriger Durchsuchung und ohne Fahrzeuge will man die AKW-Gegner passieren lassen.

Allerdings gerät die Planung bereits am Vormittag durcheinander. Ursache ist die Verspätung der rund 90 Busse und zahllosen Pkws des Nordkonvois. Außer Reichweite für die CB-Funkgeräte des Verkehrsausschusses, kann kein direkter Kontakt hergestellt werden. So entsteht das Gerücht, der Nordkonvoi werde an der Autobahnabfahrt durch die Polizei festgehalten und jedes Fahrzeug, jede Demonstrantin und jeder Demonstrant werde durchsucht. Es hilft nichts, dass die Polizei mehrfach erklärt, das stimme nicht. Schließlich übermittelt ein Pfarrer ein Ultimatum: Entweder die Busse erscheinen, oder die Haupteisenbahnstrecke Hannover–Altenbeken, die neben dem Kundgebungsplatz die B 83 überquert, werde besetzt. Tatsächlich blockiert gegen 11.45 Uhr eine große Menschenmenge die Schienen des Bahnübergangs, und der gesamte Zugverkehr auf dieser wichtigen Verkehrsverbindung fällt für Stunden aus.

Das geht der örtlichen Bürgerinitiative zu weit. In Panik ruft der Versammlungsleiter Punkt zwölf ins Mikrofon: „Ich schließe die Kundgebung und lehne alle Verantwortung für die weiteren Vorfälle ab.“ Schrille Pfiffe und Buhrufe sind zu hören: „Geh doch nach Hause!“ oder „Du hast ja die Hosen voll!“

Zu diesem Zeitpunkt greift die Polizei ein, um die Anfahrt des Nordkonvois, in dem sich über 10.000 Menschen gesammelt haben, zu beschleunigen. Mit Polizeieskorte vorweg wird die Kolonne durch Hameln geschleust. Tosender Beifall kommt auf, als der Konvoi endlich in Kirchohsen eintrifft. Schnell formiert sich der Demonstrationszug auf der gesamten Breite der Bundesstraße. Helme in den verschiedensten Farben und Formen, wetterfestes Ölzeug in Gelb, Grün und Orange sowie dunkle Lederjacken bestimmen das Bild. In den vorderen Reihen geht der KBW. Seine Mitglieder scheinen dem Spottnamen der Organisation, „KB-Wuppdich“, alle Ehre machen zu wollen. Viele halten Knüppel in den Händen und sind mit selbstgemachten Schilden ausgerüstet.

In dichten Reihen geht es Richtung Bauplatz. Die örtliche Bürgerinitiative schaut hinterher. Bis zum Ortsausgang Richtung Grohnde ist es nicht weit. Dort wird die Demo von einer aus Lkw der Polizei zusammengeschobenen Sperre gestoppt. Es bedarf keiner langen Diskussion. Mit drei Hundertschaften ist die Polizei hoffnungslos unterlegen. Rasselnd scheppern die Absperrgitter vor den Lkw zu Boden und mit Stahlseilen ziehen Militante einen der Lastwagen aus der Sperre. Zwar dreschen beide Seiten kurz mit Knüppeln aufeinander ein, aber für die Polizei ist da nichts zu halten. Die Uniformierten geben den Weg frei, was in der gesamten Demonstration Euphorie auslöst. Zügig geht es weiter, viele können es kaum abwarten, den Bauzaun anzugehen. Dazu befinden sich im Demonstrationszug außer dem Lautsprecherwagen mehrere Pkw, deren Kennzeichen sorgfältig durch Klebestreifen unleserlich gemacht wurden. Die Wagen sind mit technischem Gerät vollgestopft, darunter Schneidbrenner, große Zangen, Scheren, Drahtseile, Taue, Enterhaken.

Aus Grohnde nähert sich gleichzeitig der Demozug des Südkonvois mit 4.000 Menschen. Sie haben über eine Stunde vor der Polizeisperre debattiert. Es ging erst weiter, nachdem sich die Demoleitung mit der Durchsuchung des Lautsprecher- und Saniwagens einverstanden erklärt hatte. Dadurch ging viel Zeit verloren, und Teile des Göttinger Blocks sind kurz davor, die Demoleitung abzusetzen und quer über die Felder zu laufen. Letztlich gelangt der Südkonvoi geschlossen an den Bauzaun.

Überraschenderweise steht kein einziger Polizist vor der „Atomfestung“. Die Staatsmacht vertraut auf die unüberwindlichen Absperrungen. Selbst auf einen Graben, wie um den Bauplatz in Brokdorf, hat man verzichtet.

Erbitterte Konfrontation

Unmittelbar nach ihrem Eintreffen gehen Aktivistinnen und Aktivisten den Zaun auf der gesamten Breite von 200 Metern an. Die hinter dem Zaun postierte Polizei feuert massiv Tränengas und Rauchgranaten. Das hätte den Ansturm normalerweise gestoppt, es ist fast windstill und niederschlagsfrei. Die chemischen Kampfstoffe aber zeigen keine Wirkung, denn die Leute am Zaun tragen Gasmasken. So können die ersten Rollen des NATO-Drahts zügig mit Wurfankern und Drahtscheren beiseite geräumt werden. Gleichzeitig überschütten andere Gruppen die Polizei mit einem Stein-, Matsch- und Farbbeutelhagel, auch Zwillen kommen zum Einsatz.

Nun geht die Initiative vollständig auf die am Zaun aktiven Gruppen über, von einer Demonstrationsleitung ist nichts mehr zu bemerken. Kleingruppen attackieren die „Atomfestung“ mit großen Eisensägen und Trennschleifern, während andere versuchen, die Fundamente mit Spitzhacken und bloßen Händen auszugraben. Taktisch vorgehende Aktivisten zerstören die Wasserrohre zum Baugelände. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wasserwerfer nicht mehr einsatzbereit sind. Auch wird das Wellblechklo eines nahen Kieswerks abgebrochen, um damit die Sabotage am Zaun zu decken.

Der Durchbruch aufs Gelände erfolgt von der B 83 aus. Wasserwerfer richten ihre Strahlen direkt auf die am Zaun Arbeitenden, und Polizisten stechen mit drei bis vier Meter langen, rostigen Eisenstangen zu. Dadurch gibt es u. a. fünf Bauch- und eine Genitalverletzung. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern und schrillem Martinshorn bahnen sich Krankenwagen den Weg durch das Getümmel, um die Verletzten herauszubringen.

Endlich können Segmente, aus denen sich der Stahlzaun zusammensetzt, abgetrennt und Haken mit Seilen daran befestigt werden. Hunderte bilden, unerreichbar für die Wasserwerfer, lange Schlangen an den Seilen und reißen die ausgeschnittenen Teile der Stahlkonstruktion nieder. Nachdem zwei äußere Elemente gefallen sind, gelingt schließlich, was angeblich unmöglich ist: Auch ein inneres Zaunstück fällt durch die Kraft und unter dem Jubel einiger hundert. Es klafft eine Lücke von 15 Metern.

Die AKW-Gegnerinnen und -gegner strömen zum Durchbruch. Unter Einsatz von Feuerlöscher kontert die Polizei mit einem Angriff, der abgeschlagen werden kann. Jetzt steht der Kampf aus Messers Schneide. Den abgekämpften Polizeihundertschaften droht das Wasser für die Werfer auszugehen. Der Rückzug vom Bauplatz, eine blamable Niederlage, steht unmittelbar bevor. In der 20 Kilometer entfernt liegenden Polizeizentrale Hameln beschließt die Einsatzleitung, die außerhalb des Geländes in Reserve liegenden Einheiten vorrücken zu lassen. „Wir fordern die friedlichen Demonstranten auf, sich von den Verbrechern zu trennen!“ dröhnt es mehrfach aus den Lautsprechern. Doch nur die wenigsten folgen dieser Aufforderung, statt dessen stellen sich viele gegen die Polizei. „Lasst euch von den Bullen nicht zersprengen!“ lautet die Parole, und es beginnt eine erbittert geführte Auseinandersetzung. Durch Gerüchte, ein Kollege sei erschlagen und einem anderen sei eine Mistforke in den Hals gestochen worden, aufgebracht, schlagen die Beamten zu. Von besonderer Brutalität ist der Einsatz der Hunde und der Reiterstaffel Hannover, ca. 30 berittene Polizisten. Im vollen Galopp preschen sie in die Menge und hieben mit langen Knüppeln auf die Demonstranten ein. Aber auf den weiten Feldern zerfleddert der Angriff, an einigen Stellen wird die Polizei zurückgeworfen.

Nach drei Stunden ist alles vorbei. Der Demosanitätsdienst zählt 800 Verletzte, sieben davon müssen stationär behandelt werden. Es gibt 80 Festnahmen.

Nachdem die Demonstrantinnen und Demonstranten abgezogen sind, lässt sich der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) in Begleitung seines Innenministers mit dem Hubschrauber zu dem umkämpften Bauplatz fliegen. Vor dieser Kulisse setzt sich Albrecht in Szene und verkündet, prüfen zu lassen, ob die K-Gruppen als kriminelle Organisationen verboten und aufgelöst werden könnten.

Das Fazit des Staatsapparats nach der Schlacht um Grohnde war: mehr Repression. Die Demonstration gegen den sogenannten Schnellen Brüter im niederrheinischen Kalkar im September 1977 bekam dies spüren. Dort kam es zum größten Polizeiaufgebot in der Geschichte der Bundesrepublik. Die staatliche Drangsalierung der Anti-AKW-Bewegung ist indes nur ein Teil der Geschichte. Grohnde vertiefte die Gräben zwischen Gewaltfreien und Militanten. Einige Jahre später manifestierte sich das in der Gründung der Grünen – während die Autonomen weiterhin auf Militanz setzten.

Zeitungsartikel Freie Presse Vogtland/Plauen

Bilder vereinen Kunst und Kampf

Es lohnt sich fast immer, mit dem Schöpfer eines Bildes oder einer Grafik zu sprechen und ihn nach seinen Beweggründen zu fragen. Auch Bernd Langer, der gerade an der Bahnhofstraße ausstellt, kann Interessantes berichten.

Von Peter Albrecht
erschienen am 15.02.2017

Plauen. Derzeit hängen Arbeiten des 56-jährigen Bernd Langer in der Galerie Forum K an der Bahnhofstraße, die man kostenlos besuchen kann. Für Außenstehende, die den künstlerischen Hintergrund von Malerei oder Zeichnungen nicht kennen, lohnt es sich meistens, mit dem bei der Ausstellungseröffnung anwesenden Meister sich selbst zu unterhalten. Langers Arbeiten sprechen eine deutliche Sprache.

 

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