„The only serious Trouble“

Der 9. November 1989 und die Antifa – eine persönliche Erinnerung

Bernd Langer

Am Abend des 9. November 1989 hatte wir in Göttingen mit unserer Antifa-Demo gerade, von der Geismar Straße kommend, die Ecke Wendenstraße erreicht. Hier befand sich ein italienisches Restaurant, in dem sich Neonazis trafen. Grund für eine Zwischenkundgebung unserer Anti-Pogrom-Demo. Seit einiger Zeit stellten Neonazis ein erhebliches Problem dar. Im Dorf Mackenrode, 15 Kilometer von Göttingen entfernt, residierte der österreichische Frührentner Karl Polacek und hatte sein Haus zu einem Zentrum für die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) gemacht. In der Partei organisierte sich die Skinheadszene um Thorsten Heise und Jörg Latzkowiak aus Göttingen und Northeim. Eine Sonnenwendfeier im Dezember 1986 brachte die Neonazis zum Ersten mal in die Schlagzeilen. Seitdem kam es ständig zu Schlägereien in der Innenstadt. FAP-Skins machten Jagd auf Schwule, verprügelten Ausländer und versuchten Linke anzugreifen. Als Gegenreaktion organisierte die autonome Szene Telefonketten. Bekannte WGs konnten damit in kürzester Zeit eine ansehnliche Zahl von Militanten mobilisieren.

Niedergang der Autonomen

In Göttingen existierte eine große autonome Szene. Sie hatte seit den 1970er Jahren in der Anti-AKW-Bewegung eine Rolle gespielt und war 1980 durch Hausbesetzungen in Erscheinung getreten. Antifa spielte hingegen bei den Autonomen kaum eine Rolle. Sicher gab es auch in Göttingen Zusammenstöße, aber eine kontinuierliche Antifa-Arbeit entwickelte erst der 1977 entstandene Arbeitskreis Antifaschismus, der sich vor allem aus dem Kommunistischen Bund (KB) rekrutierte und 1981 wieder von der Bildfläche verschwand. Die erste autonome Antifa-Gruppe in Göttingen initiierte ich 1983. Ihr gehörten anfangs gar keine Autonomen an, sondern einige Anarchisten und ein paar jugendliche Aktivisten_innen, die nicht mit den Autonomen verwechselt werden wollten. Daher hieß die Gruppe Unabhängige Antifa, der Name änderte sich erst im Lauf des Jahres 1984 in „Autonome Antifa“. Ohnehin gingen die Aktionen in der Stadt nur zu einem Teil von den im autonomen Plenum organisierten Autonomen aus. Die Übergänge in der politischen Subkultur waren fließend, vor allem zu den sogenannten Gö-Punks.

Im November 1986 kam es erneut zu einer Welle von Hausbesetzungen. Eines dieser Häuser lag in der Burgstraße, unweit eines Büros, das vom NPD-Landesvorsitzenden Hans-Michael Fiedler betrieben wurde. Da die Polizei in der Defensive war, ergriffen wir die Gelegenheit, hackten ein Loch in das Rollo vor dem Schaufenster und stiegen in den Laden ein. Wenig später flog das Inventar nebst allen Büchern und Unterlagen auf die Straße. Einiges wurde zur Auswertung weggeschafft, mit dem Rest vor dem Laden ein großes Feuer entfacht. An dieser Aktion schieden sich wenig später die Geister, weil sie angeblich an die Bücherverbrennung erinnert habe. Aber der Nazi-Krempel musste schnell vernichtet werden.

Zur selben Zeit erfuhr die autonome Bewegung auch bundesweit einen letzten Auftrieb durch den Super-GAU in Tschernobyl. Insbesondere die Auseinandersetzungen um die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf spielten kurzfristig eine herausragende Rolle. Doch ein Grundproblem der Autonomen blieb: Abgesehen von der Phrase, dass man kollektiv und selbstbestimmt kämpfen wollte und militant agierte, existierten keine Konzepte. Ohne eine weitergehende politische Überlegung führte die Militanz zwangsläufig in die Sackgasse.

So kam das unvermeidliche Ende, bei dem die Startbahn-West am Flughafen Frankfurt am Main eine besondere Rolle spielte. Obwohl bereits seit 1984 in Betrieb, fanden weiterhin regelmäßig Aktionen statt. Bis bei einer nächtlichen Demonstration am 2. November 1987 zwei Polizisten erschossen wurden. Die folgende Repression und die selbstzerfleischenden Diskussionen beschleunigten den Niedergang der autonomen Szene.

Zugleich löste sich die 1985 entstandene bundesweite autonome Antifa-Koordination auf. Die letzte größere Aktion war eine Demonstration gegen das Herbstlager der Wiking-Jugend in Hetendorf bei Celle im Herbst 1987, die in einem Polizeikessel endete.

In Südniedersachsen traten die Neonazis immer offensiver in Erscheinung. Wie gefährlich die Entwicklung war, zeigte sich im Januar 1987, als Ingo Kretschmann, aus dem Dunstkreis der FAP um Polacek, beim Experimentieren mit Sprengsätzen tödlich verunfallte. Auch kam es nun in Göttingen und Northeim permanent zu Zusammenstößen mit Faschisten.

Ein Gegenschlag erfolgte durch das Antifa-Kommando Siegbert und Lotte Rotholz. Am 25. Juni 1987 brannten die Kellergarage samt Auto und Teile des Hauses von Karl Polacek nieder. Einen nachhaltigen Erfolg zeitigte das nicht. Nach kurzer Unterbrechung gingen die Auseinandersetzungen in Göttingen weiter. Am Abend des 23. Januar 1988 griffen die Neonazis das Jugendzentrum Innenstadt (JuZI) an. Die Telefonkette funktionierte und die Nazis erlebten ihr blaues Wunder. Sie wurden durch die Stadt zu ihren Autos zurückgeprügelt, die Fahrzeuge demoliert. Das Eingreifen der Polizei unterband die Totalverschrottung, und der geschlagene Haufen wurde zur Autobahn geleitet. Währenddessen nahmen wir in der Innenstadt die Wohnung eines Neonazis auseinander. Alles Private, vom Foto bis zum Bankauszug, wurde zur Auswertung eingesackt, was von Wert und Nutzen war, sozialisiert und der Rest zu Kleinholz verarbeitet, selbst die Rigipswände an einigen Stellen eingeschlagen.

Antifaschistische Aktion

In der Presse war von Zusammenstößen rivalisierender Jugendbanden zu lesen. Mit dieser Floskel wurde stets geleugnet, dass es sich um politische Auseinandersetzungen handelte. In der Bundesrepublik gab es ein Neonazi-Problem, aber es wurde nicht ernst genommen. Lediglich ein paar ewig Gestrige hätten da einige Jugendliche um sich geschart. Das Thema würde sich in einigen Jahren biologisch von alleine erledigen. So predigten es Medien und die etablierten Parteien.

Wir mussten überhaupt erst einmal darum kämpfen, dass Antifa als Feld der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen wurde. Die Gelegenheit ergab sich vor Ort, weil Gewerkschafter mit rechtsradikalen Einstellungen in den Betrieben konfrontiert waren. Es entstand ein Bündnis, das von Autonomen über die Grünen bis zum DGB reichte. Damit betraten wir politisches Neuland. Krönung unserer Bestrebungen war die Antifa-Bündnisdemo am 7. Mai 1988 in Mackenrode. In 20 Reisebussen und etlichen Privatfahrzeugen fuhren 2.000 Demonstrantinnen und Demonstranten aus Göttingen in das Dorf. Angeführt von einem großen schwarzen Block ging es am FAP-Haus vorbei zur Abschlusskundgebung auf dem Dorfplatz. Das Haus wurde mit einigen Farbbeuteln und einzelnen Steinen beworfen. Ein Angriff fand aufgrund der Bündnisabsprachen aber nicht statt. Politisch gelang uns mit der Demo ein großer Erfolg. Nun waren Autonome als politische Bündnispartner anerkannt, und die Wahrnehmung der Antifa in der Öffentlichkeit änderte sich. Um für diesen Weg zu werben, gaben wir eine Broschüre über die Demo heraus. Auf der Titelseite war die rote Fahne der Antifaschistischen Aktion abgebildet, die kurz vor der Mackerode-Demo fertig gestellt wurde und dort zum Ersten mal flatterte. Die Symbolik  war neu und stellte einen kalkulierten Tabubruch dar, weil Autonome eigentlich keine roten Fahnen verwendeten. Bald kopiert, sollte diese Fahne das Symbol der Antifa-Bewegung werden.

Für die Altautonomen war ein Bündnis mit etablierten Kräften Verrat an der revolutionären Sache. Man müsse im Kampf auf die eigenen Kräfte vertrauen und ein schwarzer Block das Haus auch tatsächlich angreifen, hieß es in polemischen Papieren. Wenige Wochen später wurde das Bündnis beendet und ich, als Repräsentant dieser Politik, aus der autonomen Antifa ausgeschlossen. Als Grund diente ein Kritikpapier an einer Aktion in Kassel, das mit Einige Autonome Antifas unterzeichnet war. Daraufhin behauptete die Autonome Antifa, ich würde in ihrem Namen Papiere veröffentlichen. Bei Autonomen bedeutete ein Gruppenausschluss auch soziale Ausgrenzung. Viele Treffpunkte waren damit tabu, Freundschaften gekündigt. Ganz zurückziehen wollte ich mich dennoch nicht und begann mit zunächst zwei Personen an einer Ausstellung kriminalisierter Plakate zu arbeiten. Wir trafen uns regelmäßig im Keller des Grünen Zentrums als Ausstellungsgruppe. Zudem machte sich ein gesellschaftlicher Rechtsruck bemerkbar und wir mischten uns langsam wieder in das politische Geschehen ein und vergrößerten unseren Kreis. Das verlangte jedem Neuzugang einen bewussten Schritt ab. Denn sich zu dieser Gruppe zu bekennen bedeutete, dass der Umgang mit einigen Fraktionen aus der Szene nicht mehr möglich war.

1989 wurde zu einem Jahr bislang nicht gekannter Antifa-Aktivität. Ein Grund war die DVU – Liste D (Deutsche Volksunion). Zunächst ein Verein, gründete sich die DVU 1987 als Partei. Von Anfang an arbeitete sie mit der NPD zusammen und errang bereits im Gründungsjahr ein Mandat in Bremerhaven. Der große Coup war aber mit dem Einzug ins Europa-Parlament im Juni 1989 geplant. NPD und DVU traten gemeinsam als Liste D an und der DVU-Vorsitzende Gerhard Frey pulverte 18 Millionen DM in den Wahlkampf. Es gab eine Postwurfsendung für jeden bundesdeutschen Haushalt und eine Flut an öffentlichen Wahlveranstaltungen. Ernsthafte Konkurrenz hatte die Liste D durch die 1983 gegründeten Republikaner, an deren Spitze seit 1985 Franz Schönhuber stand. Einstmals Freiwilliger der SS-Leibstandarte war Schönhuber nach dem Krieg ein anerkannter Journalist in Bayern, u. a. stellvertretender Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens und Hauptabteilungsleiter des Bayerischen Rundfunks. Doch dann veröffentlichte der Veteran sein Buch Ich war dabei. Es folgte die fristlose Kündigung beim Bayerischen Rundfunk, wogegen der Geschasste klagte und vom Gericht eine Abfindung von 290.000 DM und die sofortige monatliche Pension von 7.000 DM zugesprochen bekam. Derart von finanziellen Sorgen befreit konnte sich Schönhuber mit ganzer Energie in die Politik stürzen. In Westberlin gelangten die Republikaner im Juni 1989 mit  7,5 Prozent der Stimmen in den Senat. Erstmals war dies einer Partei rechts von der CDU gelungen. Ein allgemeiner Aufschrei ging durch die Republik, überall gingen die Menschen gegen den rechtsradikalen Wahlsieg auf die Straßen. Auch in Göttingen kam es zu einer Spontandemo, über die noch länger gesprochen wurde. Da die Polizei nicht so schnell reagieren konnte und nur einige Beamte zur Beobachtung abgestellt waren, verlegten wir die Demoroute kurzerhand durch das Warenhaus C&A.

Für den Europawahlkampf 1989 war dann bundesweit eine wahre Welle von Liste-D-Veranstaltungen angekündigt. Vor der Stadthalle in Göttingen ging es dabei am 13. Mai 1989 zwischen Antifas und der Polizei ziemlich zur Sache. Besonders die extra aus Westberlin angekarrte EbLT (Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training) sorgte für Verhaftete und Verletzte. Einem beherzten Antifaschisten gelang es schließlich, das Mikrofonkabel der NPD zu kappen. Weitere Veranstaltungen der Liste D in und um Göttingen fanden dann nicht mehr statt.

Letztendlich scheiterte die Liste D bei den Europawahlen im Juni  mit 1,6 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Das lag vor allem an den Republikanern, die ihre Konkurrenz überflügelten und mit sieben Prozent der Stimmen ins Europaparlament einzogen.

Anti-Pogrom-Demo

In diesen Auseinandersetzungen hatten wir uns, in einem ätzenden Ringen mit der autonomen Szene, profiliert, ohne einen Gruppennamen zu haben. Aufrufe unterzeichneten wir schlicht mit Autonome Antifas aus Göttingen und verfolgten das Konzept einer breit angelegten Antifa-Arbeit, das von Geschichtsarbeit bis zu Militanz reichte. Letztere ging natürlich nicht von der legal agierenden Gruppe aus.

Unsere Geschichte und Inhalte sollten im Vordergrund stehen. Der 9. November als Datum von Novemberrevolution, Hitlerputsch und Reichspogromnacht bot sich in diesem Zusammenhang an. Historisches ließ sich außerdem gut mit dem aktuellen Geschehen verbinden. So entstand die Idee zur Anti-Pogrom-Demo am 9. November 1989. Wir gewannen dafür auch die Unterstützung einiger anderer linken Gruppen. Zu einer von diesen gehörte  auch Conny Wessmann. Ein Transparent der Demo, das sie mitgestaltet hatte, sollte in den nächsten Monaten noch oft zu sehen sein.

Die Demo fand am Abend statt. Die Route führte mit etlichen Zwischenkundgebungen durch die Stadt. Als wir in Richtung Albani-Kirche weiterzogen, sprach sich auf einmal herum, das in Berlin die Mauer gefallen sei. Wir nahmen das als Neuigkeit hin, ohne weiter darauf zu reagieren. In den letzten Monaten waren viele DDR-Flüchtlinge über die Botschaft in Prag oder die ungarische Grenze abgehauen. Dass in der DDR und in Osteuropa ein Umbruch im Gang war, konnte man nicht übersehen. Der Fall der Mauer kam dann trotzdem überraschend. Aber mit uns hatte das nichts zu tun. Unser Kampf ging weiter und eskalierte wenige Tage später, als Conny Wessmann bei einer Antifa-Aktion starb. Sie gehörte zu einer Gruppe, die am 17. November über eine Telefonkette mobilisiert worden war und sich den Neonazi entgegenstellen wollte. Von der Polizei sollte die Gruppe verhaftet werden, Conny wurde dabei vor ein Auto getrieben. Im Bundesgebiet und vor allem in Göttingen kam es daraufhin zu Demos und militanten Aktionen. Seinen Abschluss fand die Empörung über den Mord  in einer bundesweiten Demonstration am 25. November 1989 in Göttingen mit mehr als 15.000 Menschen. Sämtliche Schaufensterscheiben der großen Kaufhäuser in der Innenstadt gingen zu Bruch, vor dem JuZI kam es zur Konfrontation mit der Polizei, die in die Flucht geschlagen wurde.

Im Trubel um den Mauerfall blieb Connys Tod ein Randthema. Auf den allgemeinen nationalen Wiedervereinigungstaumel reagierte die Linke mit der Kampagne „Nie wieder Deutschland“. Als politische Parole war das zwar eher populistischer Nonsens, doch auch in Göttingen stellten wir unsere Aktionen unter diese Überschrift. Wenn die Bevölkerung einen Staat völlig reformieren und umgestalten würde, wäre das sicher ein interessantes Experiment, aber einen Anschluss der DDR lehnten wir ab. Er würde nur den Kapitalismus und die Kräfte, die wir bekämpften, stärken. So ungefähr war unsere Sicht der Dinge. Was einmal mehr zeigte, dass wir überhaupt keine Ahnung hatten und vollständig überrascht waren. Vor der Grenzöffnung bestanden so gut wie keine Kontakte in die DDR, autonome Strukturen existierten dort ohnehin nicht. Das entwickelte sich jetzt alles sehr schnell und bereits am 10. März 1990 fand die erste autonome Antifa-Demo in Leipzig statt. »Gegen Faschismus und die Einverleibung der DDR durch die BRD« lautete die Parole. Eine Abschlusskundgebung im Hauptbahnhof und selbstgestrickte Sturmhauben blieben mir in Erinnerung, doch weitere Kontakte ergaben sich nicht.

Am 15. März 1990 riefen wir in Göttingen zur Demo auf. Erstmals unter dem Namen Autonome Antifa (M). Es gab ein großes Transparent einer antiimperialistischen Gruppe mit der Aufschrift „Völkerrechtliche Anerkennung der DDR“. Gar nicht anachronistisch war hingegen unsere Agitpropaktion am 2. Oktober 1990, dem Vorabend der sogenannten Wiedervereinigung. Vier Verkleidete (Kapitalist, Polizist, Militarist, SA-Mann), deren Gesichter als Totenschädel geschminkt waren, hielten ein Transparent mit dem Slogan „Wir begrüßen Deutschland!“ in Frakturschrift. Dazu wurden falsche Hunderter als Begrüßungsgeld unters Volk gebracht. Jeder DDR-Bürger und jede DDR-Bürgerin bekam nach der Grenzöffnung 100 DM. Wir meinten, dass 100 Mark allen zustanden und druckten eine Neandertaler auf den Geldschein. Der Hunderter kam dann in einigen Fällen tatsächlich in Umlauf, was ein Verfahren wegen Herstellung und Verbreitung von Falschgeld nach sich zog.

Antifa contra Wiedervereinigung

Nach dieser Agitprop-Aktion zog unsere Demo durch die Stadt. Das Göttinger Tageblatt berichtete am 3. Oktober 1989: „Steine fielen, Böller krachten: Göttingen am Abend vor Deutschland“. Und in der New York Times war zu lesen: „The only serious trouble was reportet in Göttingen, a West German city near the former border, where about 1.000 radical youth went on a rampage, smashing windows and denouncing unity.“

Unsere Agitprop-Aktion und Demo am 2. Oktober setzten wir in den folgenden drei Jahre in immer größerem Format fort. Dann wurden wir kriminalisiert.

Wir wollten die Organisierung der Antifa-Bewegung, waren maßgeblich an der Gründung der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) im Jahr 1992 beteiligt und verfolgten das Konzept eines revolutionären, antikapitalistischen Antifaschismus. Dabei entpuppte sich die untergehende autonome Bewegung als unser größter Widersacher. Allein fünf Aktenorder füllten die Kritikpapiere gegen den Organisierungsprozess.

Währenddessen steigerte sich der Straßenterror der Neonazis. Allein von Oktober 1990 bis Mitte Juni 1991 gab es neun Tote. Darunter war der 21jährige Wehrdienstleistende Alexander Selchow, der in der Silvesternacht 1990 in Rosdorf von Neonazis erstochen wurde. Die Täter stammten aus dem Kreis um Polacek in Mackenrode, der sich kurz darauf in einer Illustrierten mit einem großen Messer beim Interview ablichten ließ. Darauf musste es eine Antwort geben! Die sollte nach der Gedenkdemo für Alex am 5. Januar 1991 mit 5.000 Menschen erfolgen, doch der Aufruf, im Anschluss nach Mackerode zu fahren, wurde vom Veranstalter verhindert. Erst im Herbst sollte es dazu kommen. Wir hatten erfahren, dass in Mackenrode ein Schulungswochenende der FAP stattfand. Im JuZI versammelte sich ein Plenum und zerredete die Idee nach Mackenrode zu fahren. Schließlich stand ich auf und sagte, dass ich losfahren würde, wer Bock hätte, solle sich anschließen. Man schrieb den 26. Oktober 1991 als wir am helllichten Tag Mackenrode erreichten. Es war davon auszugehen, dass wir irgendwann vor dem Haus von der Polizei gestoppt werden würden. Doch es war nur eine Zivilstreife vor Ort, die das Gebäude aus der Entfernung beobachtete. Was nun passierte, hätte man sich nicht besser ausdenken können. Sonst griffen Nazis immer linke Projekte an, hier war es andersherum. Wie wir ausstiegen, formierten wir uns zum Frontalangriff auf das FAP-Haus. Nazis in Parteiuniformen mit Schulterriemen kamen aus dem Gebäude. Nur sie und wir auf der Straße. Steine, Mollis, Zwillen – auf die Fresse. Vier schwerverletzte Neonazis lagen auf der Straße, dazu weitere, die sich mit blutigen Köpfen noch auf den Beinen halten konnten, und verwüstete Vorgärten ließen wir nach ca. 15 Minuten zurück. Das war europaweit eine Zeitungsmeldung wert. Von uns hat es keine(n) erwischt.

Erfolgreiche Bündnisarbeit

Sicher war dies eine herausragende Aktion, doch vor allen Dingen wurden wir durch die Wiederaufnahme der Bündnisdemonstrationen zu einem regionalen Faktor. Es gab noch zwei dieser Bündnisdemos, eine 1993 zum Wohnhaus des NPD-Funktionärs Hans Michael Fiedler in Adelebsen mit mehr als 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die andere 1994 zum Wohnhaus des damaligen FAP-Funktionärs Thorsten Heise in Northeim mit mehr als 3.000 Menschen. Die Demos waren angekündigt, aber nicht angemeldet und stets von einem breiten Bündnis bis hin zu den Grünen und dem DGB unterstützt, angeführt von einem voll ausgerüsteten schwarzen Block von mehr als 1.000 Antifas. Wir bestimmten die Demonstrationen, inhaltlich und visuell. Der schwarze Block wurde als taktisches Mittel eingesetzt, Angriffe gingen von ihm nicht aus.

Unser Kampf war erfolgreich: Der Ausbreitung des Neofaschismus haben wir auf Jahre hinaus Einhalt geboten. Doch in die Zeit unserer größten politischen Erfolge fiel die Kriminalisierung. Der Staat ermittelte gegen uns wegen der „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ (§ 129a). Selbst daran sind wir nicht gescheitert. Aber das wäre bereits eine andere Geschichte.

Abbildung: Der Wi(e)dervereinigungs-Hunderter oder Neandertaler, am Abend des 2.10.1990 in Göttingen verteilt. Einige Scheine gerieten in Umlauf, was Ermittlungen wegen Herstellung und Verbreitung von Falschgeld nach sich zog.